V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
wie furchtbar die Freiheit des Auskaufens grade unter den armen Leuten auf- räumen sollte. Die Mehrzahl der kleinen Bauernstellen wurde nach und nach eingezogen, und während früherhin die Bauern, Kossäten, Häusler, Einlieger insgesammt dem einen Stande der bäuerlichen Gutsunterthanen angehört hatten, trennte sich jetzt die ländliche Bevölkerung allmählich in zwei Klassen.
Tief unter den Bauern stand fortan eine ländliches Proletariat von freien, wirthschaftlich ganz ungesicherten Tagelöhnern. Der halbfreie kleine Gutsunterthan der alten Zeit war zwar an die Scholle gebunden, aber auch berechtigt diese Scholle zu bebauen; er nahm auch Theil an der Ge- meindenutzung und der Gutsherr half ihm zuweilen durch. Die neuen Tage- löhner besaßen an Boden wenig oder nichts. Selbst bei der Gemeinheits- theilung gingen die Armen leer aus, weil ihnen die Auftrift nur kraft alter Gewohnheit, nicht von Rechtswegen zustand, und sie klagten bitter- lich: jetzt werden die Bauern zu Edelleuten, wir zu Bettlern. Zudem waltete auch im Landvolke der Drang nach persönlicher Unabhängigkeit, der das ganze Jahrhundert wie eine unwiderstehliche Naturgewalt beherrschte. Die Masse der Häusler und der ganz besitzlosen Einlieger wuchs weit schneller an als die Zahl der neben dem Herrenhofe angesiedelten, oft besser versorgten Gutstagelöhner; man band sich nicht mehr gern für längere Zeit. Inzwischen nahmen die Kartoffelbrennerei und die Runkel- rübenwirthschaft überhand, die Schlempe wurde der großen Wirthschaft auf dürrem Sandboden bald unentbehrlich; die Arbeiter hatten in diesen neuen landwirthschaftlichen Industriezweigen oft noch schwerer zu leiden als ihre Genossen in den städtischen Fabriken. In der neuen Gesell- schaft fühlten sich die Tagelöhner haltlos, vereinzelt; die patriarchalische Gutsherrschaft bestand nicht mehr, und an den Berathungen der Dorf- gemeinde hatten sie keinen Antheil. Das Landvolk besitzt aber ein zähes Gedächtniß. Die längst entschwundenen Zeiten, da Jedermann sich im reichen Walde mit Holze laden durfte, blieben noch überall in Deutsch- land unvergessen, und nirgends wollte der Landmann recht einsehen, daß Waldfrevel wie andere Vergehen bestraft werden sollten. So wußte auch der neue Stand der freien Tagelöhner sehr wohl, daß seine Vorfahren einst ein Stück Land für sich selber bebaut hatten. Er fühlte dunkel, daß er Unrecht erlitten hatte, und allerdings war er das Opfer einer mittlerweile veralteten socialpolitischen Denkweise; denn Niemand kann gänzlich aus seiner Zeit heraus, die segensreichen Reformen Stein's und Hardenberg's wurzelten doch in der Weltanschauung des achtzehnten Jahr- hunderts, das unter dem Volke immer nur die Mittelklassen verstand und von den arbeitenden Massen wenig wußte. Da auf dem Lande der Grund- besitz Eines und Alles ist, so war den Wünschen der grollenden Tagelöhner ein bestimmtes Ziel gewiesen, und als die Revolution hereinbrach, klang aus Aller Munde wie ein Naturlaut die Forderung: der König muß uns Land verschreiben. --
V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
wie furchtbar die Freiheit des Auskaufens grade unter den armen Leuten auf- räumen ſollte. Die Mehrzahl der kleinen Bauernſtellen wurde nach und nach eingezogen, und während früherhin die Bauern, Koſſäten, Häusler, Einlieger insgeſammt dem einen Stande der bäuerlichen Gutsunterthanen angehört hatten, trennte ſich jetzt die ländliche Bevölkerung allmählich in zwei Klaſſen.
Tief unter den Bauern ſtand fortan eine ländliches Proletariat von freien, wirthſchaftlich ganz ungeſicherten Tagelöhnern. Der halbfreie kleine Gutsunterthan der alten Zeit war zwar an die Scholle gebunden, aber auch berechtigt dieſe Scholle zu bebauen; er nahm auch Theil an der Ge- meindenutzung und der Gutsherr half ihm zuweilen durch. Die neuen Tage- löhner beſaßen an Boden wenig oder nichts. Selbſt bei der Gemeinheits- theilung gingen die Armen leer aus, weil ihnen die Auftrift nur kraft alter Gewohnheit, nicht von Rechtswegen zuſtand, und ſie klagten bitter- lich: jetzt werden die Bauern zu Edelleuten, wir zu Bettlern. Zudem waltete auch im Landvolke der Drang nach perſönlicher Unabhängigkeit, der das ganze Jahrhundert wie eine unwiderſtehliche Naturgewalt beherrſchte. Die Maſſe der Häusler und der ganz beſitzloſen Einlieger wuchs weit ſchneller an als die Zahl der neben dem Herrenhofe angeſiedelten, oft beſſer verſorgten Gutstagelöhner; man band ſich nicht mehr gern für längere Zeit. Inzwiſchen nahmen die Kartoffelbrennerei und die Runkel- rübenwirthſchaft überhand, die Schlempe wurde der großen Wirthſchaft auf dürrem Sandboden bald unentbehrlich; die Arbeiter hatten in dieſen neuen landwirthſchaftlichen Induſtriezweigen oft noch ſchwerer zu leiden als ihre Genoſſen in den ſtädtiſchen Fabriken. In der neuen Geſell- ſchaft fühlten ſich die Tagelöhner haltlos, vereinzelt; die patriarchaliſche Gutsherrſchaft beſtand nicht mehr, und an den Berathungen der Dorf- gemeinde hatten ſie keinen Antheil. Das Landvolk beſitzt aber ein zähes Gedächtniß. Die längſt entſchwundenen Zeiten, da Jedermann ſich im reichen Walde mit Holze laden durfte, blieben noch überall in Deutſch- land unvergeſſen, und nirgends wollte der Landmann recht einſehen, daß Waldfrevel wie andere Vergehen beſtraft werden ſollten. So wußte auch der neue Stand der freien Tagelöhner ſehr wohl, daß ſeine Vorfahren einſt ein Stück Land für ſich ſelber bebaut hatten. Er fühlte dunkel, daß er Unrecht erlitten hatte, und allerdings war er das Opfer einer mittlerweile veralteten ſocialpolitiſchen Denkweiſe; denn Niemand kann gänzlich aus ſeiner Zeit heraus, die ſegensreichen Reformen Stein’s und Hardenberg’s wurzelten doch in der Weltanſchauung des achtzehnten Jahr- hunderts, das unter dem Volke immer nur die Mittelklaſſen verſtand und von den arbeitenden Maſſen wenig wußte. Da auf dem Lande der Grund- beſitz Eines und Alles iſt, ſo war den Wünſchen der grollenden Tagelöhner ein beſtimmtes Ziel gewieſen, und als die Revolution hereinbrach, klang aus Aller Munde wie ein Naturlaut die Forderung: der König muß uns Land verſchreiben. —
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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
wie furchtbar die Freiheit des Auskaufens grade unter den armen Leuten auf-
räumen ſollte. Die Mehrzahl der kleinen Bauernſtellen wurde nach und nach
eingezogen, und während früherhin die Bauern, Koſſäten, Häusler, Einlieger
insgeſammt dem einen Stande der bäuerlichen Gutsunterthanen angehört
hatten, trennte ſich jetzt die ländliche Bevölkerung allmählich in zwei Klaſſen.
Tief unter den Bauern ſtand fortan eine ländliches Proletariat von
freien, wirthſchaftlich ganz ungeſicherten Tagelöhnern. Der halbfreie kleine
Gutsunterthan der alten Zeit war zwar an die Scholle gebunden, aber
auch berechtigt dieſe Scholle zu bebauen; er nahm auch Theil an der Ge-
meindenutzung und der Gutsherr half ihm zuweilen durch. Die neuen Tage-
löhner beſaßen an Boden wenig oder nichts. Selbſt bei der Gemeinheits-
theilung gingen die Armen leer aus, weil ihnen die Auftrift nur kraft
alter Gewohnheit, nicht von Rechtswegen zuſtand, und ſie klagten bitter-
lich: jetzt werden die Bauern zu Edelleuten, wir zu Bettlern. Zudem
waltete auch im Landvolke der Drang nach perſönlicher Unabhängigkeit,
der das ganze Jahrhundert wie eine unwiderſtehliche Naturgewalt beherrſchte.
Die Maſſe der Häusler und der ganz beſitzloſen Einlieger wuchs weit
ſchneller an als die Zahl der neben dem Herrenhofe angeſiedelten, oft
beſſer verſorgten Gutstagelöhner; man band ſich nicht mehr gern für
längere Zeit. Inzwiſchen nahmen die Kartoffelbrennerei und die Runkel-
rübenwirthſchaft überhand, die Schlempe wurde der großen Wirthſchaft
auf dürrem Sandboden bald unentbehrlich; die Arbeiter hatten in dieſen
neuen landwirthſchaftlichen Induſtriezweigen oft noch ſchwerer zu leiden
als ihre Genoſſen in den ſtädtiſchen Fabriken. In der neuen Geſell-
ſchaft fühlten ſich die Tagelöhner haltlos, vereinzelt; die patriarchaliſche
Gutsherrſchaft beſtand nicht mehr, und an den Berathungen der Dorf-
gemeinde hatten ſie keinen Antheil. Das Landvolk beſitzt aber ein zähes
Gedächtniß. Die längſt entſchwundenen Zeiten, da Jedermann ſich im
reichen Walde mit Holze laden durfte, blieben noch überall in Deutſch-
land unvergeſſen, und nirgends wollte der Landmann recht einſehen, daß
Waldfrevel wie andere Vergehen beſtraft werden ſollten. So wußte auch
der neue Stand der freien Tagelöhner ſehr wohl, daß ſeine Vorfahren
einſt ein Stück Land für ſich ſelber bebaut hatten. Er fühlte dunkel,
daß er Unrecht erlitten hatte, und allerdings war er das Opfer einer
mittlerweile veralteten ſocialpolitiſchen Denkweiſe; denn Niemand kann
gänzlich aus ſeiner Zeit heraus, die ſegensreichen Reformen Stein’s und
Hardenberg’s wurzelten doch in der Weltanſchauung des achtzehnten Jahr-
hunderts, das unter dem Volke immer nur die Mittelklaſſen verſtand und
von den arbeitenden Maſſen wenig wußte. Da auf dem Lande der Grund-
beſitz Eines und Alles iſt, ſo war den Wünſchen der grollenden Tagelöhner
ein beſtimmtes Ziel gewieſen, und als die Revolution hereinbrach, klang
aus Aller Munde wie ein Naturlaut die Forderung: der König muß
uns Land verſchreiben. —
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 512. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/526>, abgerufen am 25.11.2024.
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