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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
wie Morgenluft einathme stehe auf der Höhe des Jahrhunderts. Ein neues
Geschlecht begann heranzuwachsen, das von Ort zu Ort, von einem Ein-
druck zum anderen hastete, schnell lernend und schneller vergessend, immer
genießend, immer erwerbend, ganz in sich selbst und in das Diesseits ver-
liebt, friedlos und freudlos. In Deutschland verriethen zunächst nur
einzelne Anzeichen diese beginnende Umwandlung des socialen Lebens.
Die Macht der materiellen Interessen fand noch ein starkes Gegengewicht
an dem hohen Idealismus der politischen Einheitskämpfe; und erst weit
später, als die nationale Sehnsucht ihr Ziel erreicht hatte, sollte auch
über Mitteleuropa ein Zeitalter des vorherrschenden Erwerbes und Ge-
nusses hereinbrechen.

Sehr schwer litt unter den veränderten Verkehrsverhältnissen das
deutsche Haus und seine Hüterin, die Frau. Unsere wechselreiche Geschichte
hatte nach dem dreißigjährigen Kriege und sonst noch mehrmals Zeiten
gesehen, da die Frau höher stand als der Mann und das verwilderte
Männervolk an der guten Sitte des Hauses wieder gesundete; jetzt kamen
Tage, da die Frau sich in der verwandelten Welt schwerer zurecht fand
als der Mann und an ihrem natürlichem Berufe irr wurde. Die alte
vorsorgliche Wirthschaftsweise, die das ehrenfeste Bürgerhaus für die Win-
terszeit mit reichen Vorräthen auszustatten pflegte, verbot sich jetzt von
selbst; die weibliche Handarbeit im Hause verlor Sinn und Werth, seit
man Wäsche und Kleider im Laden fertig kaufte. Das patriarchalische
Verhältniß zwischen Herrschaft und Gesinde ging zu Grunde, der Wander-
trieb der Zeit ergriff auch die Dienstboten. Also kam den Frauen ein
guter Theil ihrer gewohnten stillen Wirksamkeit abhanden, sie fühlten
sich unglücklich in einem halb zwecklosen Leben. Da überdies die Ehe-
schließung in den höheren Ständen durch den sinkenden Geldwerth und
die verwickelten Erwerbsverhältnisse erschwert wurde, so wuchs die Zahl
der unbefriedigten, der kranken und nervösen Frauen beständig an. Rath-
los stand die Welt vor einer "Frauenfrage", welche die einfache Vorzeit
nicht gekannt hatte. Frauen drängten sich mit dilettirender Geschäftigkeit
in männliche Berufe, und ganz wie einst in den Zeiten der Sittenver-
derbniß des classischen Alterthums stiegen aus dem Schlamme der Ueber-
bildung die Lehren der Weiber-Emancipation empor.

Unnatürlich früh entstanden, obgleich der allgemeine Wohlstand noch
recht bescheiden blieb, schon einzelne riesige Vermögen. Der Reichthum
des Hauses Rothschild überbot bei Weitem Alles, was die römische Kaiser-
zeit an ungesunden Capitalanhäufungen gesehen hatte. Es lag im Wesen
der neuen Großindustrie, daß sie, um nur zu bestehen, beständig nach
Erweiterung trachten mußte. Diesen Wandlungen des socialen Lebens
vermochte der Staat, der ja immer langsamer lebt als die Gesellschaft,
längst nicht mehr zu folgen. Von solchen Vermögen, wie sie jetzt über
Nacht aufwuchsen, hatten sich Hardenberg und Hoffmann nichts träumen

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
wie Morgenluft einathme ſtehe auf der Höhe des Jahrhunderts. Ein neues
Geſchlecht begann heranzuwachſen, das von Ort zu Ort, von einem Ein-
druck zum anderen haſtete, ſchnell lernend und ſchneller vergeſſend, immer
genießend, immer erwerbend, ganz in ſich ſelbſt und in das Diesſeits ver-
liebt, friedlos und freudlos. In Deutſchland verriethen zunächſt nur
einzelne Anzeichen dieſe beginnende Umwandlung des ſocialen Lebens.
Die Macht der materiellen Intereſſen fand noch ein ſtarkes Gegengewicht
an dem hohen Idealismus der politiſchen Einheitskämpfe; und erſt weit
ſpäter, als die nationale Sehnſucht ihr Ziel erreicht hatte, ſollte auch
über Mitteleuropa ein Zeitalter des vorherrſchenden Erwerbes und Ge-
nuſſes hereinbrechen.

Sehr ſchwer litt unter den veränderten Verkehrsverhältniſſen das
deutſche Haus und ſeine Hüterin, die Frau. Unſere wechſelreiche Geſchichte
hatte nach dem dreißigjährigen Kriege und ſonſt noch mehrmals Zeiten
geſehen, da die Frau höher ſtand als der Mann und das verwilderte
Männervolk an der guten Sitte des Hauſes wieder geſundete; jetzt kamen
Tage, da die Frau ſich in der verwandelten Welt ſchwerer zurecht fand
als der Mann und an ihrem natürlichem Berufe irr wurde. Die alte
vorſorgliche Wirthſchaftsweiſe, die das ehrenfeſte Bürgerhaus für die Win-
terszeit mit reichen Vorräthen auszuſtatten pflegte, verbot ſich jetzt von
ſelbſt; die weibliche Handarbeit im Hauſe verlor Sinn und Werth, ſeit
man Wäſche und Kleider im Laden fertig kaufte. Das patriarchaliſche
Verhältniß zwiſchen Herrſchaft und Geſinde ging zu Grunde, der Wander-
trieb der Zeit ergriff auch die Dienſtboten. Alſo kam den Frauen ein
guter Theil ihrer gewohnten ſtillen Wirkſamkeit abhanden, ſie fühlten
ſich unglücklich in einem halb zweckloſen Leben. Da überdies die Ehe-
ſchließung in den höheren Ständen durch den ſinkenden Geldwerth und
die verwickelten Erwerbsverhältniſſe erſchwert wurde, ſo wuchs die Zahl
der unbefriedigten, der kranken und nervöſen Frauen beſtändig an. Rath-
los ſtand die Welt vor einer „Frauenfrage“, welche die einfache Vorzeit
nicht gekannt hatte. Frauen drängten ſich mit dilettirender Geſchäftigkeit
in männliche Berufe, und ganz wie einſt in den Zeiten der Sittenver-
derbniß des claſſiſchen Alterthums ſtiegen aus dem Schlamme der Ueber-
bildung die Lehren der Weiber-Emancipation empor.

Unnatürlich früh entſtanden, obgleich der allgemeine Wohlſtand noch
recht beſcheiden blieb, ſchon einzelne rieſige Vermögen. Der Reichthum
des Hauſes Rothſchild überbot bei Weitem Alles, was die römiſche Kaiſer-
zeit an ungeſunden Capitalanhäufungen geſehen hatte. Es lag im Weſen
der neuen Großinduſtrie, daß ſie, um nur zu beſtehen, beſtändig nach
Erweiterung trachten mußte. Dieſen Wandlungen des ſocialen Lebens
vermochte der Staat, der ja immer langſamer lebt als die Geſellſchaft,
längſt nicht mehr zu folgen. Von ſolchen Vermögen, wie ſie jetzt über
Nacht aufwuchſen, hatten ſich Hardenberg und Hoffmann nichts träumen

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[508/0522] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. wie Morgenluft einathme ſtehe auf der Höhe des Jahrhunderts. Ein neues Geſchlecht begann heranzuwachſen, das von Ort zu Ort, von einem Ein- druck zum anderen haſtete, ſchnell lernend und ſchneller vergeſſend, immer genießend, immer erwerbend, ganz in ſich ſelbſt und in das Diesſeits ver- liebt, friedlos und freudlos. In Deutſchland verriethen zunächſt nur einzelne Anzeichen dieſe beginnende Umwandlung des ſocialen Lebens. Die Macht der materiellen Intereſſen fand noch ein ſtarkes Gegengewicht an dem hohen Idealismus der politiſchen Einheitskämpfe; und erſt weit ſpäter, als die nationale Sehnſucht ihr Ziel erreicht hatte, ſollte auch über Mitteleuropa ein Zeitalter des vorherrſchenden Erwerbes und Ge- nuſſes hereinbrechen. Sehr ſchwer litt unter den veränderten Verkehrsverhältniſſen das deutſche Haus und ſeine Hüterin, die Frau. Unſere wechſelreiche Geſchichte hatte nach dem dreißigjährigen Kriege und ſonſt noch mehrmals Zeiten geſehen, da die Frau höher ſtand als der Mann und das verwilderte Männervolk an der guten Sitte des Hauſes wieder geſundete; jetzt kamen Tage, da die Frau ſich in der verwandelten Welt ſchwerer zurecht fand als der Mann und an ihrem natürlichem Berufe irr wurde. Die alte vorſorgliche Wirthſchaftsweiſe, die das ehrenfeſte Bürgerhaus für die Win- terszeit mit reichen Vorräthen auszuſtatten pflegte, verbot ſich jetzt von ſelbſt; die weibliche Handarbeit im Hauſe verlor Sinn und Werth, ſeit man Wäſche und Kleider im Laden fertig kaufte. Das patriarchaliſche Verhältniß zwiſchen Herrſchaft und Geſinde ging zu Grunde, der Wander- trieb der Zeit ergriff auch die Dienſtboten. Alſo kam den Frauen ein guter Theil ihrer gewohnten ſtillen Wirkſamkeit abhanden, ſie fühlten ſich unglücklich in einem halb zweckloſen Leben. Da überdies die Ehe- ſchließung in den höheren Ständen durch den ſinkenden Geldwerth und die verwickelten Erwerbsverhältniſſe erſchwert wurde, ſo wuchs die Zahl der unbefriedigten, der kranken und nervöſen Frauen beſtändig an. Rath- los ſtand die Welt vor einer „Frauenfrage“, welche die einfache Vorzeit nicht gekannt hatte. Frauen drängten ſich mit dilettirender Geſchäftigkeit in männliche Berufe, und ganz wie einſt in den Zeiten der Sittenver- derbniß des claſſiſchen Alterthums ſtiegen aus dem Schlamme der Ueber- bildung die Lehren der Weiber-Emancipation empor. Unnatürlich früh entſtanden, obgleich der allgemeine Wohlſtand noch recht beſcheiden blieb, ſchon einzelne rieſige Vermögen. Der Reichthum des Hauſes Rothſchild überbot bei Weitem Alles, was die römiſche Kaiſer- zeit an ungeſunden Capitalanhäufungen geſehen hatte. Es lag im Weſen der neuen Großinduſtrie, daß ſie, um nur zu beſtehen, beſtändig nach Erweiterung trachten mußte. Dieſen Wandlungen des ſocialen Lebens vermochte der Staat, der ja immer langſamer lebt als die Geſellſchaft, längſt nicht mehr zu folgen. Von ſolchen Vermögen, wie ſie jetzt über Nacht aufwuchſen, hatten ſich Hardenberg und Hoffmann nichts träumen

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 508. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/522>, abgerufen am 25.11.2024.