Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

Bild:
<< vorherige Seite
Veränderung der Lebensgewohnheiten.

Allein sehr bald zeigte sich auch die Schattenseite des gewaltigen
neuen Verkehrs. Unser Stolz war der starke wehrhafte Bauernstand.
Deutschland besaß nach Verhältniß fast dreimal mehr Ackerland und
sechsmal weniger unproduktiven Boden, als Großbritannien, wo der Adel
die Bauern großentheils ausgekauft hatte. Die Bevölkerung war in leid-
lichem Gleichmaß über Stadt und Land vertheilt; darum bewahrte sich
das deutsche Leben noch immer einen Zug ursprünglicher Kraft und un-
schuldiger Frische, dessen die urbane Cultur der südlichen und westlichen
Nachbarvölker fast ganz entbehrte. Jetzt aber begann auch in Deutschland,
erst langsam, dann unaufhaltsam anschwellend, der Zudrang zu den Städten.
In Breslau entstand neben den Bahnhöfen nach kurzer Zeit ein neuer
Stadttheil; in Hamburg, in Stettin, in Leipzig, selbst in dem stillen
Dresden, wo man der Fremden halber die rauchenden Schlote ungern
sah, wuchsen die Fabriken heran. Die Hast, die Genußsucht, die Un-
zufriedenheit des großstädtischen Lebens verbreiteten sich weithin in die
kleinen Ortschaften und über das flache Land. Und wie gründlich wurden
alle Lebensgewohnheiten durch die Massenproduktion der jungen Groß-
industrie verändert. Viele der gerühmten neuen Erfindungen, zumal in
der Textilindustrie, waren ganz unnütz; sie förderten lediglich die Ueber-
produktion, den wilden Kampf der Concurrenz, den rastlosen Wechsel der
Moden. Die derben alten Tuche, die sich der sparsame Bürgersmann
nach vier Jahren noch einmal wenden ließ, kamen allmählich ab; die ele-
ganten und wohlfeilen modernen Stoffe aber überdauerten selten einen
Sommer. Der Düsseldorfer Maler wußte längst nicht mehr, womit er
malte, und wenn er nachher die herrlich leuchtenden Farben seines Fabri-
kanten unbegreiflich schnell verbleichen oder gar den Firniß abbröckeln
sah, dann beneidete er die schlichten alten Meister, die ihre Farben noch
selber rieben und sich's darum auch zutrauten für die Zukunft zu malen.
Der Schriftsteller desgleichen konnte sich der angenehmen Erwartung hin-
geben, daß seine auf dem dünnen, glatten Maschinenpapiere wohlfeil und
schnell gedruckten Werke in hundert Jahren buchstäblich unlesbar sein
würden.

Kurzlebig, vergänglich war Alles, was die neue Industrie hervorbrachte,
und es konnte nicht ausbleiben, daß diese Flüchtigkeit der wirthschaftlichen
Arbeit auf die ganze Weltanschauung des Zeitalters zurückwirkte. Der
große Ehrgeiz, der für die Dauer schaffen will, wird immer nur einzelne
starke Geister beseelen; doch kaum jemals in der Geschichte ist die Lehre,
daß der Mensch am Tage den Tag lebe, mit solcher Selbstgefälligkeit ver-
kündigt worden, wie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.
Die gesammte radicale Literatur der Zeit predigte in mannichfachen Wen-
dungen: mit der schweren alten Wissenschaft sei es vorbei, nur in der
leichten Form der Publicistik könne das freie moderne Bewußtsein seinen
Ausdruck finden, nur wer den Duft des frisch bedruckten Zeitungspapieres

Veränderung der Lebensgewohnheiten.

Allein ſehr bald zeigte ſich auch die Schattenſeite des gewaltigen
neuen Verkehrs. Unſer Stolz war der ſtarke wehrhafte Bauernſtand.
Deutſchland beſaß nach Verhältniß faſt dreimal mehr Ackerland und
ſechsmal weniger unproduktiven Boden, als Großbritannien, wo der Adel
die Bauern großentheils ausgekauft hatte. Die Bevölkerung war in leid-
lichem Gleichmaß über Stadt und Land vertheilt; darum bewahrte ſich
das deutſche Leben noch immer einen Zug urſprünglicher Kraft und un-
ſchuldiger Friſche, deſſen die urbane Cultur der ſüdlichen und weſtlichen
Nachbarvölker faſt ganz entbehrte. Jetzt aber begann auch in Deutſchland,
erſt langſam, dann unaufhaltſam anſchwellend, der Zudrang zu den Städten.
In Breslau entſtand neben den Bahnhöfen nach kurzer Zeit ein neuer
Stadttheil; in Hamburg, in Stettin, in Leipzig, ſelbſt in dem ſtillen
Dresden, wo man der Fremden halber die rauchenden Schlote ungern
ſah, wuchſen die Fabriken heran. Die Haſt, die Genußſucht, die Un-
zufriedenheit des großſtädtiſchen Lebens verbreiteten ſich weithin in die
kleinen Ortſchaften und über das flache Land. Und wie gründlich wurden
alle Lebensgewohnheiten durch die Maſſenproduktion der jungen Groß-
induſtrie verändert. Viele der gerühmten neuen Erfindungen, zumal in
der Textilinduſtrie, waren ganz unnütz; ſie förderten lediglich die Ueber-
produktion, den wilden Kampf der Concurrenz, den raſtloſen Wechſel der
Moden. Die derben alten Tuche, die ſich der ſparſame Bürgersmann
nach vier Jahren noch einmal wenden ließ, kamen allmählich ab; die ele-
ganten und wohlfeilen modernen Stoffe aber überdauerten ſelten einen
Sommer. Der Düſſeldorfer Maler wußte längſt nicht mehr, womit er
malte, und wenn er nachher die herrlich leuchtenden Farben ſeines Fabri-
kanten unbegreiflich ſchnell verbleichen oder gar den Firniß abbröckeln
ſah, dann beneidete er die ſchlichten alten Meiſter, die ihre Farben noch
ſelber rieben und ſich’s darum auch zutrauten für die Zukunft zu malen.
Der Schriftſteller desgleichen konnte ſich der angenehmen Erwartung hin-
geben, daß ſeine auf dem dünnen, glatten Maſchinenpapiere wohlfeil und
ſchnell gedruckten Werke in hundert Jahren buchſtäblich unlesbar ſein
würden.

Kurzlebig, vergänglich war Alles, was die neue Induſtrie hervorbrachte,
und es konnte nicht ausbleiben, daß dieſe Flüchtigkeit der wirthſchaftlichen
Arbeit auf die ganze Weltanſchauung des Zeitalters zurückwirkte. Der
große Ehrgeiz, der für die Dauer ſchaffen will, wird immer nur einzelne
ſtarke Geiſter beſeelen; doch kaum jemals in der Geſchichte iſt die Lehre,
daß der Menſch am Tage den Tag lebe, mit ſolcher Selbſtgefälligkeit ver-
kündigt worden, wie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.
Die geſammte radicale Literatur der Zeit predigte in mannichfachen Wen-
dungen: mit der ſchweren alten Wiſſenſchaft ſei es vorbei, nur in der
leichten Form der Publiciſtik könne das freie moderne Bewußtſein ſeinen
Ausdruck finden, nur wer den Duft des friſch bedruckten Zeitungspapieres

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0521" n="507"/>
          <fw place="top" type="header">Veränderung der Lebensgewohnheiten.</fw><lb/>
          <p>Allein &#x017F;ehr bald zeigte &#x017F;ich auch die Schatten&#x017F;eite des gewaltigen<lb/>
neuen Verkehrs. Un&#x017F;er Stolz war der &#x017F;tarke wehrhafte Bauern&#x017F;tand.<lb/>
Deut&#x017F;chland be&#x017F;aß nach Verhältniß fa&#x017F;t dreimal mehr Ackerland und<lb/>
&#x017F;echsmal weniger unproduktiven Boden, als Großbritannien, wo der Adel<lb/>
die Bauern großentheils ausgekauft hatte. Die Bevölkerung war in leid-<lb/>
lichem Gleichmaß über Stadt und Land vertheilt; darum bewahrte &#x017F;ich<lb/>
das deut&#x017F;che Leben noch immer einen Zug ur&#x017F;prünglicher Kraft und un-<lb/>
&#x017F;chuldiger Fri&#x017F;che, de&#x017F;&#x017F;en die urbane Cultur der &#x017F;üdlichen und we&#x017F;tlichen<lb/>
Nachbarvölker fa&#x017F;t ganz entbehrte. Jetzt aber begann auch in Deut&#x017F;chland,<lb/>
er&#x017F;t lang&#x017F;am, dann unaufhalt&#x017F;am an&#x017F;chwellend, der Zudrang zu den Städten.<lb/>
In Breslau ent&#x017F;tand neben den Bahnhöfen nach kurzer Zeit ein neuer<lb/>
Stadttheil; in Hamburg, in Stettin, in Leipzig, &#x017F;elb&#x017F;t in dem &#x017F;tillen<lb/>
Dresden, wo man der Fremden halber die rauchenden Schlote ungern<lb/>
&#x017F;ah, wuch&#x017F;en die Fabriken heran. Die Ha&#x017F;t, die Genuß&#x017F;ucht, die Un-<lb/>
zufriedenheit des groß&#x017F;tädti&#x017F;chen Lebens verbreiteten &#x017F;ich weithin in die<lb/>
kleinen Ort&#x017F;chaften und über das flache Land. Und wie gründlich wurden<lb/>
alle Lebensgewohnheiten durch die Ma&#x017F;&#x017F;enproduktion der jungen Groß-<lb/>
indu&#x017F;trie verändert. Viele der gerühmten neuen Erfindungen, zumal in<lb/>
der Textilindu&#x017F;trie, waren ganz unnütz; &#x017F;ie förderten lediglich die Ueber-<lb/>
produktion, den wilden Kampf der Concurrenz, den ra&#x017F;tlo&#x017F;en Wech&#x017F;el der<lb/>
Moden. Die derben alten Tuche, die &#x017F;ich der &#x017F;par&#x017F;ame Bürgersmann<lb/>
nach vier Jahren noch einmal wenden ließ, kamen allmählich ab; die ele-<lb/>
ganten und wohlfeilen modernen Stoffe aber überdauerten &#x017F;elten einen<lb/>
Sommer. Der Dü&#x017F;&#x017F;eldorfer Maler wußte läng&#x017F;t nicht mehr, womit er<lb/>
malte, und wenn er nachher die herrlich leuchtenden Farben &#x017F;eines Fabri-<lb/>
kanten unbegreiflich &#x017F;chnell verbleichen oder gar den Firniß abbröckeln<lb/>
&#x017F;ah, dann beneidete er die &#x017F;chlichten alten Mei&#x017F;ter, die ihre Farben noch<lb/>
&#x017F;elber rieben und &#x017F;ich&#x2019;s darum auch zutrauten für die Zukunft zu malen.<lb/>
Der Schrift&#x017F;teller desgleichen konnte &#x017F;ich der angenehmen Erwartung hin-<lb/>
geben, daß &#x017F;eine auf dem dünnen, glatten Ma&#x017F;chinenpapiere wohlfeil und<lb/>
&#x017F;chnell gedruckten Werke in hundert Jahren buch&#x017F;täblich unlesbar &#x017F;ein<lb/>
würden.</p><lb/>
          <p>Kurzlebig, vergänglich war Alles, was die neue Indu&#x017F;trie hervorbrachte,<lb/>
und es konnte nicht ausbleiben, daß die&#x017F;e Flüchtigkeit der wirth&#x017F;chaftlichen<lb/>
Arbeit auf die ganze Weltan&#x017F;chauung des Zeitalters zurückwirkte. Der<lb/>
große Ehrgeiz, der für die Dauer &#x017F;chaffen will, wird immer nur einzelne<lb/>
&#x017F;tarke Gei&#x017F;ter be&#x017F;eelen; doch kaum jemals in der Ge&#x017F;chichte i&#x017F;t die Lehre,<lb/>
daß der Men&#x017F;ch am Tage den Tag lebe, mit &#x017F;olcher Selb&#x017F;tgefälligkeit ver-<lb/>
kündigt worden, wie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts.<lb/>
Die ge&#x017F;ammte radicale Literatur der Zeit predigte in mannichfachen Wen-<lb/>
dungen: mit der &#x017F;chweren alten Wi&#x017F;&#x017F;en&#x017F;chaft &#x017F;ei es vorbei, nur in der<lb/>
leichten Form der Publici&#x017F;tik könne das freie moderne Bewußt&#x017F;ein &#x017F;einen<lb/>
Ausdruck finden, nur wer den Duft des fri&#x017F;ch bedruckten Zeitungspapieres<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[507/0521] Veränderung der Lebensgewohnheiten. Allein ſehr bald zeigte ſich auch die Schattenſeite des gewaltigen neuen Verkehrs. Unſer Stolz war der ſtarke wehrhafte Bauernſtand. Deutſchland beſaß nach Verhältniß faſt dreimal mehr Ackerland und ſechsmal weniger unproduktiven Boden, als Großbritannien, wo der Adel die Bauern großentheils ausgekauft hatte. Die Bevölkerung war in leid- lichem Gleichmaß über Stadt und Land vertheilt; darum bewahrte ſich das deutſche Leben noch immer einen Zug urſprünglicher Kraft und un- ſchuldiger Friſche, deſſen die urbane Cultur der ſüdlichen und weſtlichen Nachbarvölker faſt ganz entbehrte. Jetzt aber begann auch in Deutſchland, erſt langſam, dann unaufhaltſam anſchwellend, der Zudrang zu den Städten. In Breslau entſtand neben den Bahnhöfen nach kurzer Zeit ein neuer Stadttheil; in Hamburg, in Stettin, in Leipzig, ſelbſt in dem ſtillen Dresden, wo man der Fremden halber die rauchenden Schlote ungern ſah, wuchſen die Fabriken heran. Die Haſt, die Genußſucht, die Un- zufriedenheit des großſtädtiſchen Lebens verbreiteten ſich weithin in die kleinen Ortſchaften und über das flache Land. Und wie gründlich wurden alle Lebensgewohnheiten durch die Maſſenproduktion der jungen Groß- induſtrie verändert. Viele der gerühmten neuen Erfindungen, zumal in der Textilinduſtrie, waren ganz unnütz; ſie förderten lediglich die Ueber- produktion, den wilden Kampf der Concurrenz, den raſtloſen Wechſel der Moden. Die derben alten Tuche, die ſich der ſparſame Bürgersmann nach vier Jahren noch einmal wenden ließ, kamen allmählich ab; die ele- ganten und wohlfeilen modernen Stoffe aber überdauerten ſelten einen Sommer. Der Düſſeldorfer Maler wußte längſt nicht mehr, womit er malte, und wenn er nachher die herrlich leuchtenden Farben ſeines Fabri- kanten unbegreiflich ſchnell verbleichen oder gar den Firniß abbröckeln ſah, dann beneidete er die ſchlichten alten Meiſter, die ihre Farben noch ſelber rieben und ſich’s darum auch zutrauten für die Zukunft zu malen. Der Schriftſteller desgleichen konnte ſich der angenehmen Erwartung hin- geben, daß ſeine auf dem dünnen, glatten Maſchinenpapiere wohlfeil und ſchnell gedruckten Werke in hundert Jahren buchſtäblich unlesbar ſein würden. Kurzlebig, vergänglich war Alles, was die neue Induſtrie hervorbrachte, und es konnte nicht ausbleiben, daß dieſe Flüchtigkeit der wirthſchaftlichen Arbeit auf die ganze Weltanſchauung des Zeitalters zurückwirkte. Der große Ehrgeiz, der für die Dauer ſchaffen will, wird immer nur einzelne ſtarke Geiſter beſeelen; doch kaum jemals in der Geſchichte iſt die Lehre, daß der Menſch am Tage den Tag lebe, mit ſolcher Selbſtgefälligkeit ver- kündigt worden, wie in der zweiten Hälfte des neunzehnten Jahrhunderts. Die geſammte radicale Literatur der Zeit predigte in mannichfachen Wen- dungen: mit der ſchweren alten Wiſſenſchaft ſei es vorbei, nur in der leichten Form der Publiciſtik könne das freie moderne Bewußtſein ſeinen Ausdruck finden, nur wer den Duft des friſch bedruckten Zeitungspapieres

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/521
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 507. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/521>, abgerufen am 22.11.2024.