Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

Bild:
<< vorherige Seite

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
Unternehmen unmöglich aufzubringen. Jetzt blieb nichts übrig als ein
verzweifelter Entschluß; nach so vielen Verheißungen und Vorarbeiten
konnte die Krone nicht mehr zurück. Am 16. März 1847 beschloß das
Staatsministerium: der Staat müsse nunmehr selber die Ostbahn bauen
und von dem demnächst zusammentretenden Vereinigten Landtage sogleich
eine große Anleihe verlangen. Der König genehmigte den Antrag; er
ahnte nicht, wie seltsam das Schicksal seiner Ostbahn sich noch mit dem
Verfassungskampfe verschlingen sollte.*)

Derweil Preußens Handelspolitik also beständig durch staatsrecht-
liche Bedenken gehemmt wurde, brauchten die kleineren Bundesstaaten, Dank
ihren Verfassungen, solche Schwierigkeiten nicht zu überwinden. Sie er-
freuten sich zudem blühender Finanzen, denn für die Vertheidigung des
Vaterlandes hatten sie allesammt Preußen allein sorgen lassen, Baden
verwendete nur ein Fünftel seiner Staatsausgaben auf das Heerwesen.
Darum konnten sie früher als Preußen den Staatseisenbahnbau wagen; die
meisten von ihnen sahen sich sogar dazu gezwungen, weil das Privatcapital
in Süddeutschland und in Hannover weniger Unternehmungslust zeigte
als in Preußen oder Sachsen. Nur Braunschweig und Baden erkannten
von Haus aus grundsätzlich die Vorzüge des Staatsbahnwesens.

In Braunschweig spürte man überall die starke Hand Amsberg's, der in
diesen Geschäften alle anderen deutschen Staatsmänner überragte. In Baden
hatte Nebenius den Staatsbau durchgesetzt; die Ausführung entsprach
jedoch dem frei gedachten Plane wenig. Obgleich dies Land seine handels-
politische Bedeutung wesentlich dem Durchfuhrhandel verdankte, so drängten
sich doch bald die kleinen örtlichen Interessen anspruchsvoll vor, und man
gab den Schienen sogar eine von dem deutschen Normalmaße abweichende
Spurweite, damit ja kein fremder Eisenbahnwagen in das Ländle hin-
über käme. Die Schwäche des Staatseisenbahnsystems, die Parteilichkeit
zeigte sich hier, in dem so lange durch politische Kämpfe zerrütteten con-
stitutionellen Musterstaate sehr häßlich. Lassen Sie Sich Ihre Bahn durch
Ihren liberalen Abgeordneten bauen! -- so antwortete Blittersdorff den
klagenden Gemeinderäthen der verkehrsreichen Fabrikstadt Lahr, die seitab
von der Staatsbahn liegen blieb. Die mit dem Großherzogthum Hessen
verabredete Main-Neckar-Bahn wurde nicht gradeswegs an den dichtbe-
völkerten Ortschaften der oberen Bergstraße vorbei nach Heidelberg geführt,
aber auch nicht westwärts nach Mannheim, denn beide Städte standen
in Ungnade wegen ihrer liberalen Gesinnung; man gründete vielmehr
mitten zwischen beiden Orten in der sandigen Rheinebene den lächerlichen
Knotenpunkt Friedrichsfelde. In Württemberg begann die Regierung seit
1841 den Staatsbau, weil sie umgangen zu werden fürchtete und das

*) Berichte an den König, von Rother 3. Jan. 1845, vom Staatsministerium
16. März 1847.

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Unternehmen unmöglich aufzubringen. Jetzt blieb nichts übrig als ein
verzweifelter Entſchluß; nach ſo vielen Verheißungen und Vorarbeiten
konnte die Krone nicht mehr zurück. Am 16. März 1847 beſchloß das
Staatsminiſterium: der Staat müſſe nunmehr ſelber die Oſtbahn bauen
und von dem demnächſt zuſammentretenden Vereinigten Landtage ſogleich
eine große Anleihe verlangen. Der König genehmigte den Antrag; er
ahnte nicht, wie ſeltſam das Schickſal ſeiner Oſtbahn ſich noch mit dem
Verfaſſungskampfe verſchlingen ſollte.*)

Derweil Preußens Handelspolitik alſo beſtändig durch ſtaatsrecht-
liche Bedenken gehemmt wurde, brauchten die kleineren Bundesſtaaten, Dank
ihren Verfaſſungen, ſolche Schwierigkeiten nicht zu überwinden. Sie er-
freuten ſich zudem blühender Finanzen, denn für die Vertheidigung des
Vaterlandes hatten ſie alleſammt Preußen allein ſorgen laſſen, Baden
verwendete nur ein Fünftel ſeiner Staatsausgaben auf das Heerweſen.
Darum konnten ſie früher als Preußen den Staatseiſenbahnbau wagen; die
meiſten von ihnen ſahen ſich ſogar dazu gezwungen, weil das Privatcapital
in Süddeutſchland und in Hannover weniger Unternehmungsluſt zeigte
als in Preußen oder Sachſen. Nur Braunſchweig und Baden erkannten
von Haus aus grundſätzlich die Vorzüge des Staatsbahnweſens.

In Braunſchweig ſpürte man überall die ſtarke Hand Amsberg’s, der in
dieſen Geſchäften alle anderen deutſchen Staatsmänner überragte. In Baden
hatte Nebenius den Staatsbau durchgeſetzt; die Ausführung entſprach
jedoch dem frei gedachten Plane wenig. Obgleich dies Land ſeine handels-
politiſche Bedeutung weſentlich dem Durchfuhrhandel verdankte, ſo drängten
ſich doch bald die kleinen örtlichen Intereſſen anſpruchsvoll vor, und man
gab den Schienen ſogar eine von dem deutſchen Normalmaße abweichende
Spurweite, damit ja kein fremder Eiſenbahnwagen in das Ländle hin-
über käme. Die Schwäche des Staatseiſenbahnſyſtems, die Parteilichkeit
zeigte ſich hier, in dem ſo lange durch politiſche Kämpfe zerrütteten con-
ſtitutionellen Muſterſtaate ſehr häßlich. Laſſen Sie Sich Ihre Bahn durch
Ihren liberalen Abgeordneten bauen! — ſo antwortete Blittersdorff den
klagenden Gemeinderäthen der verkehrsreichen Fabrikſtadt Lahr, die ſeitab
von der Staatsbahn liegen blieb. Die mit dem Großherzogthum Heſſen
verabredete Main-Neckar-Bahn wurde nicht gradeswegs an den dichtbe-
völkerten Ortſchaften der oberen Bergſtraße vorbei nach Heidelberg geführt,
aber auch nicht weſtwärts nach Mannheim, denn beide Städte ſtanden
in Ungnade wegen ihrer liberalen Geſinnung; man gründete vielmehr
mitten zwiſchen beiden Orten in der ſandigen Rheinebene den lächerlichen
Knotenpunkt Friedrichsfelde. In Württemberg begann die Regierung ſeit
1841 den Staatsbau, weil ſie umgangen zu werden fürchtete und das

*) Berichte an den König, von Rother 3. Jan. 1845, vom Staatsminiſterium
16. März 1847.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0512" n="498"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirth&#x017F;chaft.</fw><lb/>
Unternehmen unmöglich aufzubringen. Jetzt blieb nichts übrig als ein<lb/>
verzweifelter Ent&#x017F;chluß; nach &#x017F;o vielen Verheißungen und Vorarbeiten<lb/>
konnte die Krone nicht mehr zurück. Am 16. März 1847 be&#x017F;chloß das<lb/>
Staatsmini&#x017F;terium: der Staat mü&#x017F;&#x017F;e nunmehr &#x017F;elber die O&#x017F;tbahn bauen<lb/>
und von dem demnäch&#x017F;t zu&#x017F;ammentretenden Vereinigten Landtage &#x017F;ogleich<lb/>
eine große Anleihe verlangen. Der König genehmigte den Antrag; er<lb/>
ahnte nicht, wie &#x017F;elt&#x017F;am das Schick&#x017F;al &#x017F;einer O&#x017F;tbahn &#x017F;ich noch mit dem<lb/>
Verfa&#x017F;&#x017F;ungskampfe ver&#x017F;chlingen &#x017F;ollte.<note place="foot" n="*)">Berichte an den König, von Rother 3. Jan. 1845, vom Staatsmini&#x017F;terium<lb/>
16. März 1847.</note></p><lb/>
          <p>Derweil Preußens Handelspolitik al&#x017F;o be&#x017F;tändig durch &#x017F;taatsrecht-<lb/>
liche Bedenken gehemmt wurde, brauchten die kleineren Bundes&#x017F;taaten, Dank<lb/>
ihren Verfa&#x017F;&#x017F;ungen, &#x017F;olche Schwierigkeiten nicht zu überwinden. Sie er-<lb/>
freuten &#x017F;ich zudem blühender Finanzen, denn für die Vertheidigung des<lb/>
Vaterlandes hatten &#x017F;ie alle&#x017F;ammt Preußen allein &#x017F;orgen la&#x017F;&#x017F;en, Baden<lb/>
verwendete nur ein Fünftel &#x017F;einer Staatsausgaben auf das Heerwe&#x017F;en.<lb/>
Darum konnten &#x017F;ie früher als Preußen den Staatsei&#x017F;enbahnbau wagen; die<lb/>
mei&#x017F;ten von ihnen &#x017F;ahen &#x017F;ich &#x017F;ogar dazu gezwungen, weil das Privatcapital<lb/>
in Süddeut&#x017F;chland und in Hannover weniger Unternehmungslu&#x017F;t zeigte<lb/>
als in Preußen oder Sach&#x017F;en. Nur Braun&#x017F;chweig und Baden erkannten<lb/>
von Haus aus grund&#x017F;ätzlich die Vorzüge des Staatsbahnwe&#x017F;ens.</p><lb/>
          <p>In Braun&#x017F;chweig &#x017F;pürte man überall die &#x017F;tarke Hand Amsberg&#x2019;s, der in<lb/>
die&#x017F;en Ge&#x017F;chäften alle anderen deut&#x017F;chen Staatsmänner überragte. In Baden<lb/>
hatte Nebenius den Staatsbau durchge&#x017F;etzt; die Ausführung ent&#x017F;prach<lb/>
jedoch dem frei gedachten Plane wenig. Obgleich dies Land &#x017F;eine handels-<lb/>
politi&#x017F;che Bedeutung we&#x017F;entlich dem Durchfuhrhandel verdankte, &#x017F;o drängten<lb/>
&#x017F;ich doch bald die kleinen örtlichen Intere&#x017F;&#x017F;en an&#x017F;pruchsvoll vor, und man<lb/>
gab den Schienen &#x017F;ogar eine von dem deut&#x017F;chen Normalmaße abweichende<lb/>
Spurweite, damit ja kein fremder Ei&#x017F;enbahnwagen in das Ländle hin-<lb/>
über käme. Die Schwäche des Staatsei&#x017F;enbahn&#x017F;y&#x017F;tems, die Parteilichkeit<lb/>
zeigte &#x017F;ich hier, in dem &#x017F;o lange durch politi&#x017F;che Kämpfe zerrütteten con-<lb/>
&#x017F;titutionellen Mu&#x017F;ter&#x017F;taate &#x017F;ehr häßlich. La&#x017F;&#x017F;en Sie Sich Ihre Bahn durch<lb/>
Ihren liberalen Abgeordneten bauen! &#x2014; &#x017F;o antwortete Blittersdorff den<lb/>
klagenden Gemeinderäthen der verkehrsreichen Fabrik&#x017F;tadt Lahr, die &#x017F;eitab<lb/>
von der Staatsbahn liegen blieb. Die mit dem Großherzogthum He&#x017F;&#x017F;en<lb/>
verabredete Main-Neckar-Bahn wurde nicht gradeswegs an den dichtbe-<lb/>
völkerten Ort&#x017F;chaften der oberen Berg&#x017F;traße vorbei nach Heidelberg geführt,<lb/>
aber auch nicht we&#x017F;twärts nach Mannheim, denn beide Städte &#x017F;tanden<lb/>
in Ungnade wegen ihrer liberalen Ge&#x017F;innung; man gründete vielmehr<lb/>
mitten zwi&#x017F;chen beiden Orten in der &#x017F;andigen Rheinebene den lächerlichen<lb/>
Knotenpunkt Friedrichsfelde. In Württemberg begann die Regierung &#x017F;eit<lb/>
1841 den Staatsbau, weil &#x017F;ie umgangen zu werden fürchtete und das<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[498/0512] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. Unternehmen unmöglich aufzubringen. Jetzt blieb nichts übrig als ein verzweifelter Entſchluß; nach ſo vielen Verheißungen und Vorarbeiten konnte die Krone nicht mehr zurück. Am 16. März 1847 beſchloß das Staatsminiſterium: der Staat müſſe nunmehr ſelber die Oſtbahn bauen und von dem demnächſt zuſammentretenden Vereinigten Landtage ſogleich eine große Anleihe verlangen. Der König genehmigte den Antrag; er ahnte nicht, wie ſeltſam das Schickſal ſeiner Oſtbahn ſich noch mit dem Verfaſſungskampfe verſchlingen ſollte. *) Derweil Preußens Handelspolitik alſo beſtändig durch ſtaatsrecht- liche Bedenken gehemmt wurde, brauchten die kleineren Bundesſtaaten, Dank ihren Verfaſſungen, ſolche Schwierigkeiten nicht zu überwinden. Sie er- freuten ſich zudem blühender Finanzen, denn für die Vertheidigung des Vaterlandes hatten ſie alleſammt Preußen allein ſorgen laſſen, Baden verwendete nur ein Fünftel ſeiner Staatsausgaben auf das Heerweſen. Darum konnten ſie früher als Preußen den Staatseiſenbahnbau wagen; die meiſten von ihnen ſahen ſich ſogar dazu gezwungen, weil das Privatcapital in Süddeutſchland und in Hannover weniger Unternehmungsluſt zeigte als in Preußen oder Sachſen. Nur Braunſchweig und Baden erkannten von Haus aus grundſätzlich die Vorzüge des Staatsbahnweſens. In Braunſchweig ſpürte man überall die ſtarke Hand Amsberg’s, der in dieſen Geſchäften alle anderen deutſchen Staatsmänner überragte. In Baden hatte Nebenius den Staatsbau durchgeſetzt; die Ausführung entſprach jedoch dem frei gedachten Plane wenig. Obgleich dies Land ſeine handels- politiſche Bedeutung weſentlich dem Durchfuhrhandel verdankte, ſo drängten ſich doch bald die kleinen örtlichen Intereſſen anſpruchsvoll vor, und man gab den Schienen ſogar eine von dem deutſchen Normalmaße abweichende Spurweite, damit ja kein fremder Eiſenbahnwagen in das Ländle hin- über käme. Die Schwäche des Staatseiſenbahnſyſtems, die Parteilichkeit zeigte ſich hier, in dem ſo lange durch politiſche Kämpfe zerrütteten con- ſtitutionellen Muſterſtaate ſehr häßlich. Laſſen Sie Sich Ihre Bahn durch Ihren liberalen Abgeordneten bauen! — ſo antwortete Blittersdorff den klagenden Gemeinderäthen der verkehrsreichen Fabrikſtadt Lahr, die ſeitab von der Staatsbahn liegen blieb. Die mit dem Großherzogthum Heſſen verabredete Main-Neckar-Bahn wurde nicht gradeswegs an den dichtbe- völkerten Ortſchaften der oberen Bergſtraße vorbei nach Heidelberg geführt, aber auch nicht weſtwärts nach Mannheim, denn beide Städte ſtanden in Ungnade wegen ihrer liberalen Geſinnung; man gründete vielmehr mitten zwiſchen beiden Orten in der ſandigen Rheinebene den lächerlichen Knotenpunkt Friedrichsfelde. In Württemberg begann die Regierung ſeit 1841 den Staatsbau, weil ſie umgangen zu werden fürchtete und das *) Berichte an den König, von Rother 3. Jan. 1845, vom Staatsminiſterium 16. März 1847.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/512
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 498. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/512>, abgerufen am 25.11.2024.