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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Preußische Eisenbahnpolitik. Das Aktiengesetz.
das alte unüberwindliche staatsrechtliche Bedenken: ohne Reichsstände
durfte die Krone keine Anleihen aufnehmen, auch hatte sie den Provinzial-
ständen bereits angekündigt, daß sie für jetzt auf Staatsbahnen verzichte.
Deßhalb allein empfahl Rother ein vermittelndes System, das offenbar
den Uebergang zu dem Staatsbahnsystem der Zukunft bilden sollte. Er
verlangte, der Staat müsse die Hauptlinien unter seiner Leitung und Aufsicht
durch Aktiengesellschaften bauen lassen, und ihnen aus seinen regelmäßigen
Einnahmen 2 Mill. Thlr. jährlich zuschießen, auch nöthigenfalls eine Ver-
zinsung von 31/2 Procent verbürgen, die Zinsen seiner eigenen Aktien aber
nebst neuen Ueberschüssen in einem besonderen Eisenbahnfonds ansammeln
um späterhin, nach zwanzig Jahren etwa, die Bahnen selbst anzukaufen. Also
erscheine der Staat immer nur als Gläubiger, nie als Schuldner, und das
Staatsschuldengesetz von 1820 bleibe unverletzt.*) Obwohl diese letzten
Sätze sich mit guten Rechtsgründen anfechten ließen, und mehrere der
andern Minister, zumal der sparsame Thile, die Pläne des klugen alten
Herrn allzu kühn fanden, so drang er doch bei dem Monarchen durch.
Im Wesentlichen nach seinen Vorschlägen wurde die Eisenbahnpolitik wäh-
rend der nächsten Jahre gehandhabt.

Das Privatcapital in den mittleren und den westlichen Provinzen
zeigte sich gewagten Unternehmungen nur zu sehr geneigt. Jetzt zum
ersten male wurde Berlin von dem Fieber wüsten Aktienschwindels er-
griffen, das seitdem noch so oft wiederkehren sollte. Das böse Beispiel gab
England. Da die Geschäftswelt von der Ueberlegenheit großer Eisenbahnen
noch nichts ahnte, so drängten sich in Großbritannien die Gründungen.
In den zwölf Jahren bis 1844 waren dort 44 Eisenbahngesellschaften
entstanden, in dem einen Jahre 1845 bildeten sich 118 neue; geplant
waren ihrer noch 1263 mit einem angeblichen Capitale von 562 Mill. Lstrl.**)
und es bedurfte noch vieljähriger schlimmer Erfahrungen, bis sich endlich
die große Nordostbahngesellschaft aus der Verschmelzung von 37 kleinen
Bahnen bildete. Vor diesem Uebermaße des Schwindels blieb Preußen
freilich bewahrt, Dank seiner Armuth und der strengeren Staatsaufsicht.
Immerhin ward der Tanz um das goldene Kalb ganz schamlos. Männer
aus allen Ständen, selbst Offiziere in Uniform, berühmte Künstler und
Gelehrte drängten sich täglich in das winklige Börsengebäude neben dem
Dom um mit den Aktien aller Länder zu schachern. Da wurden durch
das Gesetz vom 24. März 1844 alle Zeitkäufe über inländische, alle Ge-
schäfte über ausländische Aktienpromessen plötzlich verboten. Das von
Bodelschwingh entworfene, strenge aber nothwendige Gesetz wirkte furchtbar,
weil es ganz unvermuthet von der absoluten Krone ausging, und keiner-
lei ständische Verhandlungen die Geschäftswelt darauf vorbereitet hatten.

*) Rother, Promemoria zur Förderung des Eisenbahnbaues, an Thile übersandt
21. Febr. 1843.
**) Bunsen's Bericht, 18. Nov. 1845.

Preußiſche Eiſenbahnpolitik. Das Aktiengeſetz.
das alte unüberwindliche ſtaatsrechtliche Bedenken: ohne Reichsſtände
durfte die Krone keine Anleihen aufnehmen, auch hatte ſie den Provinzial-
ſtänden bereits angekündigt, daß ſie für jetzt auf Staatsbahnen verzichte.
Deßhalb allein empfahl Rother ein vermittelndes Syſtem, das offenbar
den Uebergang zu dem Staatsbahnſyſtem der Zukunft bilden ſollte. Er
verlangte, der Staat müſſe die Hauptlinien unter ſeiner Leitung und Aufſicht
durch Aktiengeſellſchaften bauen laſſen, und ihnen aus ſeinen regelmäßigen
Einnahmen 2 Mill. Thlr. jährlich zuſchießen, auch nöthigenfalls eine Ver-
zinſung von 3½ Procent verbürgen, die Zinſen ſeiner eigenen Aktien aber
nebſt neuen Ueberſchüſſen in einem beſonderen Eiſenbahnfonds anſammeln
um ſpäterhin, nach zwanzig Jahren etwa, die Bahnen ſelbſt anzukaufen. Alſo
erſcheine der Staat immer nur als Gläubiger, nie als Schuldner, und das
Staatsſchuldengeſetz von 1820 bleibe unverletzt.*) Obwohl dieſe letzten
Sätze ſich mit guten Rechtsgründen anfechten ließen, und mehrere der
andern Miniſter, zumal der ſparſame Thile, die Pläne des klugen alten
Herrn allzu kühn fanden, ſo drang er doch bei dem Monarchen durch.
Im Weſentlichen nach ſeinen Vorſchlägen wurde die Eiſenbahnpolitik wäh-
rend der nächſten Jahre gehandhabt.

Das Privatcapital in den mittleren und den weſtlichen Provinzen
zeigte ſich gewagten Unternehmungen nur zu ſehr geneigt. Jetzt zum
erſten male wurde Berlin von dem Fieber wüſten Aktienſchwindels er-
griffen, das ſeitdem noch ſo oft wiederkehren ſollte. Das böſe Beiſpiel gab
England. Da die Geſchäftswelt von der Ueberlegenheit großer Eiſenbahnen
noch nichts ahnte, ſo drängten ſich in Großbritannien die Gründungen.
In den zwölf Jahren bis 1844 waren dort 44 Eiſenbahngeſellſchaften
entſtanden, in dem einen Jahre 1845 bildeten ſich 118 neue; geplant
waren ihrer noch 1263 mit einem angeblichen Capitale von 562 Mill. Lſtrl.**)
und es bedurfte noch vieljähriger ſchlimmer Erfahrungen, bis ſich endlich
die große Nordoſtbahngeſellſchaft aus der Verſchmelzung von 37 kleinen
Bahnen bildete. Vor dieſem Uebermaße des Schwindels blieb Preußen
freilich bewahrt, Dank ſeiner Armuth und der ſtrengeren Staatsaufſicht.
Immerhin ward der Tanz um das goldene Kalb ganz ſchamlos. Männer
aus allen Ständen, ſelbſt Offiziere in Uniform, berühmte Künſtler und
Gelehrte drängten ſich täglich in das winklige Börſengebäude neben dem
Dom um mit den Aktien aller Länder zu ſchachern. Da wurden durch
das Geſetz vom 24. März 1844 alle Zeitkäufe über inländiſche, alle Ge-
ſchäfte über ausländiſche Aktienpromeſſen plötzlich verboten. Das von
Bodelſchwingh entworfene, ſtrenge aber nothwendige Geſetz wirkte furchtbar,
weil es ganz unvermuthet von der abſoluten Krone ausging, und keiner-
lei ſtändiſche Verhandlungen die Geſchäftswelt darauf vorbereitet hatten.

*) Rother, Promemoria zur Förderung des Eiſenbahnbaues, an Thile überſandt
21. Febr. 1843.
**) Bunſen’s Bericht, 18. Nov. 1845.
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[495/0509] Preußiſche Eiſenbahnpolitik. Das Aktiengeſetz. das alte unüberwindliche ſtaatsrechtliche Bedenken: ohne Reichsſtände durfte die Krone keine Anleihen aufnehmen, auch hatte ſie den Provinzial- ſtänden bereits angekündigt, daß ſie für jetzt auf Staatsbahnen verzichte. Deßhalb allein empfahl Rother ein vermittelndes Syſtem, das offenbar den Uebergang zu dem Staatsbahnſyſtem der Zukunft bilden ſollte. Er verlangte, der Staat müſſe die Hauptlinien unter ſeiner Leitung und Aufſicht durch Aktiengeſellſchaften bauen laſſen, und ihnen aus ſeinen regelmäßigen Einnahmen 2 Mill. Thlr. jährlich zuſchießen, auch nöthigenfalls eine Ver- zinſung von 3½ Procent verbürgen, die Zinſen ſeiner eigenen Aktien aber nebſt neuen Ueberſchüſſen in einem beſonderen Eiſenbahnfonds anſammeln um ſpäterhin, nach zwanzig Jahren etwa, die Bahnen ſelbſt anzukaufen. Alſo erſcheine der Staat immer nur als Gläubiger, nie als Schuldner, und das Staatsſchuldengeſetz von 1820 bleibe unverletzt. *) Obwohl dieſe letzten Sätze ſich mit guten Rechtsgründen anfechten ließen, und mehrere der andern Miniſter, zumal der ſparſame Thile, die Pläne des klugen alten Herrn allzu kühn fanden, ſo drang er doch bei dem Monarchen durch. Im Weſentlichen nach ſeinen Vorſchlägen wurde die Eiſenbahnpolitik wäh- rend der nächſten Jahre gehandhabt. Das Privatcapital in den mittleren und den weſtlichen Provinzen zeigte ſich gewagten Unternehmungen nur zu ſehr geneigt. Jetzt zum erſten male wurde Berlin von dem Fieber wüſten Aktienſchwindels er- griffen, das ſeitdem noch ſo oft wiederkehren ſollte. Das böſe Beiſpiel gab England. Da die Geſchäftswelt von der Ueberlegenheit großer Eiſenbahnen noch nichts ahnte, ſo drängten ſich in Großbritannien die Gründungen. In den zwölf Jahren bis 1844 waren dort 44 Eiſenbahngeſellſchaften entſtanden, in dem einen Jahre 1845 bildeten ſich 118 neue; geplant waren ihrer noch 1263 mit einem angeblichen Capitale von 562 Mill. Lſtrl. **) und es bedurfte noch vieljähriger ſchlimmer Erfahrungen, bis ſich endlich die große Nordoſtbahngeſellſchaft aus der Verſchmelzung von 37 kleinen Bahnen bildete. Vor dieſem Uebermaße des Schwindels blieb Preußen freilich bewahrt, Dank ſeiner Armuth und der ſtrengeren Staatsaufſicht. Immerhin ward der Tanz um das goldene Kalb ganz ſchamlos. Männer aus allen Ständen, ſelbſt Offiziere in Uniform, berühmte Künſtler und Gelehrte drängten ſich täglich in das winklige Börſengebäude neben dem Dom um mit den Aktien aller Länder zu ſchachern. Da wurden durch das Geſetz vom 24. März 1844 alle Zeitkäufe über inländiſche, alle Ge- ſchäfte über ausländiſche Aktienpromeſſen plötzlich verboten. Das von Bodelſchwingh entworfene, ſtrenge aber nothwendige Geſetz wirkte furchtbar, weil es ganz unvermuthet von der abſoluten Krone ausging, und keiner- lei ſtändiſche Verhandlungen die Geſchäftswelt darauf vorbereitet hatten. *) Rother, Promemoria zur Förderung des Eiſenbahnbaues, an Thile überſandt 21. Febr. 1843. **) Bunſen’s Bericht, 18. Nov. 1845.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 495. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/509>, abgerufen am 25.11.2024.