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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.

Am lautesten aber erklang der Ruf nach einer deutschen Kriegs-
flotte. Vor einem Menschenalter noch hatte es Jedermann ganz in der
Ordnung gefunden, daß Preußen die in Antwerpen erbeuteten französischen
Kriegsschiffe, als unnütz für Deutschland, einfach den Engländern schenkte;
dann waren am Bundestage einmal einige verlorene Worte gefallen über
die Ausrüstung deutscher Kriegsschiffe gegen die Barbaresken.*) Jetzt end-
lich, seit der Zollverein das nationale Selbstgefühl gekräftigt hatte, er-
kannten die Deutschen mit Scham, welche lächerliche Rolle ihre waffen-
gewaltige Landmacht auf den Meeren spielte. Leider waren die Verhält-
nisse den patriotischen Flottenplänen sehr ungünstig. Die Hansen, die auch
in ihren überseeischen Commanditen mit den Zollvereinsfirmen sehr schlechte
Nachbarschaft hielten, hatten sich durch kaufmännisches Geschick eine leidliche
Stellung in den meisten Staaten des Auslands gesichert, und da sie noch
ganz in den Ueberlieferungen der alten unwürdigen Neutralitätspolitik
befangen waren, so fühlten sie gar nicht, daß sie doch nur von der Gnade
der Fremden lebten. Der Kaufmannsgeist ertödete den nationalen Stolz;
an der Hamburger Börse bezweifelte Niemand, daß eine deutsche Kriegs-
flotte den friedsamen Handel der Hansen nur stören könne. Dem preu-
ßischen Staate aber war der Sinn für den Werth der Seemacht allmäh-
lich ganz abhanden gekommen, da er seine kriegerische Kraft zu Lande,
um Deutschlands willen, so übermäßig anspannen mußte.

Das Wasser ist bekanntlich nicht unser Element -- so sagte ein tüch-
tiger Offizier in einer Denkschrift über die Flottenfrage. Mit Neuvor-
pommern hatte Preußen auch einige schwedische Ruderschaluppen im Strela-
sunde übernommen; dazu noch zwei leibhaftige Seeoffiziere, die auf der
Berliner Parade manchmal als ergötzliche Wunderthiere Aufsehen erregten.
Unter dem alten Könige wurde der Plan einer Küstenflotte oft und gründ-
lich erwogen, die Sparsamkeit der Minister vereitelte jedoch alle Hoffnungen.
Der neue Monarch hatte als Kronprinz lange das pommersche Armee-
corps befehligt und in Stettin den alten Oberpräsidenten Sack oft be-
weisen hören, daß sein Pommern nicht blos des Küstenschutzes, sondern
einer starken, die Ostsee beherrschenden preußischen Flotte bedürfe. Sack's
Lehren fielen auf fruchtbaren Boden; Friedrich Wilhelm wurde seit dem
großen Kurfürsten der erste Hohenzollersche Herrscher, der wieder ein Ver-
ständniß für die See zeigte. Freilich blos das Verständniß des geistreichen
Dilettanten.

Zur Zeit lebte in Preußen nur ein einziger vornehmer Mann,
der das Seewesen in großem Sinne und mit dem Ernst des Fachmanns
betrachtete: Prinz Adalbert, der General-Inspecteur der Artillerie. Wie
oft entscheiden Jugendeindrücke über ein ganzes Leben. Als Prinz Adal-
bert zu Fischbach am Fuße des Riesengebirges, unter den Augen seiner

*) S. o. II. 175.
V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.

Am lauteſten aber erklang der Ruf nach einer deutſchen Kriegs-
flotte. Vor einem Menſchenalter noch hatte es Jedermann ganz in der
Ordnung gefunden, daß Preußen die in Antwerpen erbeuteten franzöſiſchen
Kriegsſchiffe, als unnütz für Deutſchland, einfach den Engländern ſchenkte;
dann waren am Bundestage einmal einige verlorene Worte gefallen über
die Ausrüſtung deutſcher Kriegsſchiffe gegen die Barbaresken.*) Jetzt end-
lich, ſeit der Zollverein das nationale Selbſtgefühl gekräftigt hatte, er-
kannten die Deutſchen mit Scham, welche lächerliche Rolle ihre waffen-
gewaltige Landmacht auf den Meeren ſpielte. Leider waren die Verhält-
niſſe den patriotiſchen Flottenplänen ſehr ungünſtig. Die Hanſen, die auch
in ihren überſeeiſchen Commanditen mit den Zollvereinsfirmen ſehr ſchlechte
Nachbarſchaft hielten, hatten ſich durch kaufmänniſches Geſchick eine leidliche
Stellung in den meiſten Staaten des Auslands geſichert, und da ſie noch
ganz in den Ueberlieferungen der alten unwürdigen Neutralitätspolitik
befangen waren, ſo fühlten ſie gar nicht, daß ſie doch nur von der Gnade
der Fremden lebten. Der Kaufmannsgeiſt ertödete den nationalen Stolz;
an der Hamburger Börſe bezweifelte Niemand, daß eine deutſche Kriegs-
flotte den friedſamen Handel der Hanſen nur ſtören könne. Dem preu-
ßiſchen Staate aber war der Sinn für den Werth der Seemacht allmäh-
lich ganz abhanden gekommen, da er ſeine kriegeriſche Kraft zu Lande,
um Deutſchlands willen, ſo übermäßig anſpannen mußte.

Das Waſſer iſt bekanntlich nicht unſer Element — ſo ſagte ein tüch-
tiger Offizier in einer Denkſchrift über die Flottenfrage. Mit Neuvor-
pommern hatte Preußen auch einige ſchwediſche Ruderſchaluppen im Strela-
ſunde übernommen; dazu noch zwei leibhaftige Seeoffiziere, die auf der
Berliner Parade manchmal als ergötzliche Wunderthiere Aufſehen erregten.
Unter dem alten Könige wurde der Plan einer Küſtenflotte oft und gründ-
lich erwogen, die Sparſamkeit der Miniſter vereitelte jedoch alle Hoffnungen.
Der neue Monarch hatte als Kronprinz lange das pommerſche Armee-
corps befehligt und in Stettin den alten Oberpräſidenten Sack oft be-
weiſen hören, daß ſein Pommern nicht blos des Küſtenſchutzes, ſondern
einer ſtarken, die Oſtſee beherrſchenden preußiſchen Flotte bedürfe. Sack’s
Lehren fielen auf fruchtbaren Boden; Friedrich Wilhelm wurde ſeit dem
großen Kurfürſten der erſte Hohenzollerſche Herrſcher, der wieder ein Ver-
ſtändniß für die See zeigte. Freilich blos das Verſtändniß des geiſtreichen
Dilettanten.

Zur Zeit lebte in Preußen nur ein einziger vornehmer Mann,
der das Seeweſen in großem Sinne und mit dem Ernſt des Fachmanns
betrachtete: Prinz Adalbert, der General-Inſpecteur der Artillerie. Wie
oft entſcheiden Jugendeindrücke über ein ganzes Leben. Als Prinz Adal-
bert zu Fiſchbach am Fuße des Rieſengebirges, unter den Augen ſeiner

*) S. o. II. 175.
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[488/0502] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. Am lauteſten aber erklang der Ruf nach einer deutſchen Kriegs- flotte. Vor einem Menſchenalter noch hatte es Jedermann ganz in der Ordnung gefunden, daß Preußen die in Antwerpen erbeuteten franzöſiſchen Kriegsſchiffe, als unnütz für Deutſchland, einfach den Engländern ſchenkte; dann waren am Bundestage einmal einige verlorene Worte gefallen über die Ausrüſtung deutſcher Kriegsſchiffe gegen die Barbaresken. *) Jetzt end- lich, ſeit der Zollverein das nationale Selbſtgefühl gekräftigt hatte, er- kannten die Deutſchen mit Scham, welche lächerliche Rolle ihre waffen- gewaltige Landmacht auf den Meeren ſpielte. Leider waren die Verhält- niſſe den patriotiſchen Flottenplänen ſehr ungünſtig. Die Hanſen, die auch in ihren überſeeiſchen Commanditen mit den Zollvereinsfirmen ſehr ſchlechte Nachbarſchaft hielten, hatten ſich durch kaufmänniſches Geſchick eine leidliche Stellung in den meiſten Staaten des Auslands geſichert, und da ſie noch ganz in den Ueberlieferungen der alten unwürdigen Neutralitätspolitik befangen waren, ſo fühlten ſie gar nicht, daß ſie doch nur von der Gnade der Fremden lebten. Der Kaufmannsgeiſt ertödete den nationalen Stolz; an der Hamburger Börſe bezweifelte Niemand, daß eine deutſche Kriegs- flotte den friedſamen Handel der Hanſen nur ſtören könne. Dem preu- ßiſchen Staate aber war der Sinn für den Werth der Seemacht allmäh- lich ganz abhanden gekommen, da er ſeine kriegeriſche Kraft zu Lande, um Deutſchlands willen, ſo übermäßig anſpannen mußte. Das Waſſer iſt bekanntlich nicht unſer Element — ſo ſagte ein tüch- tiger Offizier in einer Denkſchrift über die Flottenfrage. Mit Neuvor- pommern hatte Preußen auch einige ſchwediſche Ruderſchaluppen im Strela- ſunde übernommen; dazu noch zwei leibhaftige Seeoffiziere, die auf der Berliner Parade manchmal als ergötzliche Wunderthiere Aufſehen erregten. Unter dem alten Könige wurde der Plan einer Küſtenflotte oft und gründ- lich erwogen, die Sparſamkeit der Miniſter vereitelte jedoch alle Hoffnungen. Der neue Monarch hatte als Kronprinz lange das pommerſche Armee- corps befehligt und in Stettin den alten Oberpräſidenten Sack oft be- weiſen hören, daß ſein Pommern nicht blos des Küſtenſchutzes, ſondern einer ſtarken, die Oſtſee beherrſchenden preußiſchen Flotte bedürfe. Sack’s Lehren fielen auf fruchtbaren Boden; Friedrich Wilhelm wurde ſeit dem großen Kurfürſten der erſte Hohenzollerſche Herrſcher, der wieder ein Ver- ſtändniß für die See zeigte. Freilich blos das Verſtändniß des geiſtreichen Dilettanten. Zur Zeit lebte in Preußen nur ein einziger vornehmer Mann, der das Seeweſen in großem Sinne und mit dem Ernſt des Fachmanns betrachtete: Prinz Adalbert, der General-Inſpecteur der Artillerie. Wie oft entſcheiden Jugendeindrücke über ein ganzes Leben. Als Prinz Adal- bert zu Fiſchbach am Fuße des Rieſengebirges, unter den Augen ſeiner *) S. o. II. 175.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 488. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/502>, abgerufen am 25.11.2024.