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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
und es gelang ihm leicht, den sanguinischen, für neue Gedanken immer
empfänglichen Bunsen ganz zu bezaubern.*) Dort verfaßte er einen langen
Aufsatz über die Allianz zwischen Großbritannien und Deutschland -- eine
seltsame Denkschrift, die sich nur aus seiner leidenschaftlichen patriotischen
Besorgniß erklären ließ. Wer hatte schärfer als List die großartige Selbst-
sucht der britischen Handelspolitik durchschaut? wer klarer erkannt, daß
die Engländer in Deutschland ihren gefährlichsten Nebenbuhler sahen? Und
dieser selbe Mann suchte jetzt die Briten zu gewinnen durch Lobreden,
die der Insulaner als pflichtschuldigen Tribut der verachteten Foreigners
stets kaltblütig hinnimmt; er zeigte ihnen, daß sie ihre Ueberlegenheit gegen
Nordamerika und gegen eine drohende russisch-französische Allianz nur
dann behaupten könnten, wenn sie sich fest mit Deutschland verbündeten;
darum müßten sie, selber beim Freihandel verharrend, darein willigen,
daß Deutschland durch hohe Schutzzölle des Zollvereins allmählich erstarkte.
In dem Augenblicke also, da die englische Regierung zum Freihandel
überging, muthete er ihr zu, in Deutschland ein strenges Schutzzollsystem
zu begünstigen, das seine Spitze doch nur gegen Großbritannien richten
konnte. Wunderlicher hat ein genialer politischer Kopf kaum jemals geirrt.

Diese Abhandlung sendete List an Peel und Palmerston, unbekümmert
um das Kopfschütteln des preußischen Gesandten. Beide Staatsmänner ant-
worteten, wie sich von selbst verstand, höflich ablehnend. Peel erinnerte an
den Glaubenssatz der Freihändler, daß jede Nation die Waaren erzeugen
solle, die sie am billigsten hervorbringe; Palmerston aber sagte mit einer
frommen Salbung, die dem alten Schalk ergötzlich anstand: "der Freihandel
wie die Wohlthätigkeit beginnt zu Hause." Zugleich wurde die Denkschrift
nach Berlin geschickt, und List wagte, in einem begleitenden Briefe dem
Könige seine Dienste anzubieten, obgleich seine Partei alle diese Jahre hin-
durch die preußische Politik bis auf's Blut bekämpft hatte. "Es ist falsch", so
schrieb er, "wenn man mich für einen Gegner Preußens hält." Er glaube
aber, "daß der Geist des erleuchteten Herrschers von Preußen nicht immer
der Geist der preußischen Bureaukratie sei." Und "deshalb", fuhr er fort,
"bestehe ich getrost das Wagniß, in einer Sache, die das höchste Wohl des
Vaterlandes in Frage stellt, von einer befangenen Bureaukratie an die
glückliche Geistesfreiheit und Geistesstärke Ew. K. Majestät zu appelliren."
Er schloß mit der Erklärung "daß ich bereit sei, mit Freuden jede Bürde
zu tragen, die Ew. K. Majestät in Ihrer Weisheit und zum Besten des
Vaterlandes meinen Schultern aufzulasten für gut finden sollten".**)

Brief und Denkschrift mußten dem Monarchen gefallen. Die Aus-
fälle auf die Bureaukratie thaten ihm wohl, und im Grunde des Herzens
war er noch immer schutzzöllnerisch gesinnt, gleich dem Prinzen von

*) Bunsen's Berichte, 26. Juni, 31. Juli 1846.
**) List an König Friedrich Wilhelm, 31. Juli 1846. S. Beilage 32.

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
und es gelang ihm leicht, den ſanguiniſchen, für neue Gedanken immer
empfänglichen Bunſen ganz zu bezaubern.*) Dort verfaßte er einen langen
Aufſatz über die Allianz zwiſchen Großbritannien und Deutſchland — eine
ſeltſame Denkſchrift, die ſich nur aus ſeiner leidenſchaftlichen patriotiſchen
Beſorgniß erklären ließ. Wer hatte ſchärfer als Liſt die großartige Selbſt-
ſucht der britiſchen Handelspolitik durchſchaut? wer klarer erkannt, daß
die Engländer in Deutſchland ihren gefährlichſten Nebenbuhler ſahen? Und
dieſer ſelbe Mann ſuchte jetzt die Briten zu gewinnen durch Lobreden,
die der Inſulaner als pflichtſchuldigen Tribut der verachteten Foreigners
ſtets kaltblütig hinnimmt; er zeigte ihnen, daß ſie ihre Ueberlegenheit gegen
Nordamerika und gegen eine drohende ruſſiſch-franzöſiſche Allianz nur
dann behaupten könnten, wenn ſie ſich feſt mit Deutſchland verbündeten;
darum müßten ſie, ſelber beim Freihandel verharrend, darein willigen,
daß Deutſchland durch hohe Schutzzölle des Zollvereins allmählich erſtarkte.
In dem Augenblicke alſo, da die engliſche Regierung zum Freihandel
überging, muthete er ihr zu, in Deutſchland ein ſtrenges Schutzzollſyſtem
zu begünſtigen, das ſeine Spitze doch nur gegen Großbritannien richten
konnte. Wunderlicher hat ein genialer politiſcher Kopf kaum jemals geirrt.

Dieſe Abhandlung ſendete Liſt an Peel und Palmerſton, unbekümmert
um das Kopfſchütteln des preußiſchen Geſandten. Beide Staatsmänner ant-
worteten, wie ſich von ſelbſt verſtand, höflich ablehnend. Peel erinnerte an
den Glaubensſatz der Freihändler, daß jede Nation die Waaren erzeugen
ſolle, die ſie am billigſten hervorbringe; Palmerſton aber ſagte mit einer
frommen Salbung, die dem alten Schalk ergötzlich anſtand: „der Freihandel
wie die Wohlthätigkeit beginnt zu Hauſe.“ Zugleich wurde die Denkſchrift
nach Berlin geſchickt, und Liſt wagte, in einem begleitenden Briefe dem
Könige ſeine Dienſte anzubieten, obgleich ſeine Partei alle dieſe Jahre hin-
durch die preußiſche Politik bis auf’s Blut bekämpft hatte. „Es iſt falſch“, ſo
ſchrieb er, „wenn man mich für einen Gegner Preußens hält.“ Er glaube
aber, „daß der Geiſt des erleuchteten Herrſchers von Preußen nicht immer
der Geiſt der preußiſchen Bureaukratie ſei.“ Und „deshalb“, fuhr er fort,
„beſtehe ich getroſt das Wagniß, in einer Sache, die das höchſte Wohl des
Vaterlandes in Frage ſtellt, von einer befangenen Bureaukratie an die
glückliche Geiſtesfreiheit und Geiſtesſtärke Ew. K. Majeſtät zu appelliren.“
Er ſchloß mit der Erklärung „daß ich bereit ſei, mit Freuden jede Bürde
zu tragen, die Ew. K. Majeſtät in Ihrer Weisheit und zum Beſten des
Vaterlandes meinen Schultern aufzulaſten für gut finden ſollten“.**)

Brief und Denkſchrift mußten dem Monarchen gefallen. Die Aus-
fälle auf die Bureaukratie thaten ihm wohl, und im Grunde des Herzens
war er noch immer ſchutzzöllneriſch geſinnt, gleich dem Prinzen von

*) Bunſen’s Berichte, 26. Juni, 31. Juli 1846.
**) Liſt an König Friedrich Wilhelm, 31. Juli 1846. S. Beilage 32.
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[482/0496] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. und es gelang ihm leicht, den ſanguiniſchen, für neue Gedanken immer empfänglichen Bunſen ganz zu bezaubern. *) Dort verfaßte er einen langen Aufſatz über die Allianz zwiſchen Großbritannien und Deutſchland — eine ſeltſame Denkſchrift, die ſich nur aus ſeiner leidenſchaftlichen patriotiſchen Beſorgniß erklären ließ. Wer hatte ſchärfer als Liſt die großartige Selbſt- ſucht der britiſchen Handelspolitik durchſchaut? wer klarer erkannt, daß die Engländer in Deutſchland ihren gefährlichſten Nebenbuhler ſahen? Und dieſer ſelbe Mann ſuchte jetzt die Briten zu gewinnen durch Lobreden, die der Inſulaner als pflichtſchuldigen Tribut der verachteten Foreigners ſtets kaltblütig hinnimmt; er zeigte ihnen, daß ſie ihre Ueberlegenheit gegen Nordamerika und gegen eine drohende ruſſiſch-franzöſiſche Allianz nur dann behaupten könnten, wenn ſie ſich feſt mit Deutſchland verbündeten; darum müßten ſie, ſelber beim Freihandel verharrend, darein willigen, daß Deutſchland durch hohe Schutzzölle des Zollvereins allmählich erſtarkte. In dem Augenblicke alſo, da die engliſche Regierung zum Freihandel überging, muthete er ihr zu, in Deutſchland ein ſtrenges Schutzzollſyſtem zu begünſtigen, das ſeine Spitze doch nur gegen Großbritannien richten konnte. Wunderlicher hat ein genialer politiſcher Kopf kaum jemals geirrt. Dieſe Abhandlung ſendete Liſt an Peel und Palmerſton, unbekümmert um das Kopfſchütteln des preußiſchen Geſandten. Beide Staatsmänner ant- worteten, wie ſich von ſelbſt verſtand, höflich ablehnend. Peel erinnerte an den Glaubensſatz der Freihändler, daß jede Nation die Waaren erzeugen ſolle, die ſie am billigſten hervorbringe; Palmerſton aber ſagte mit einer frommen Salbung, die dem alten Schalk ergötzlich anſtand: „der Freihandel wie die Wohlthätigkeit beginnt zu Hauſe.“ Zugleich wurde die Denkſchrift nach Berlin geſchickt, und Liſt wagte, in einem begleitenden Briefe dem Könige ſeine Dienſte anzubieten, obgleich ſeine Partei alle dieſe Jahre hin- durch die preußiſche Politik bis auf’s Blut bekämpft hatte. „Es iſt falſch“, ſo ſchrieb er, „wenn man mich für einen Gegner Preußens hält.“ Er glaube aber, „daß der Geiſt des erleuchteten Herrſchers von Preußen nicht immer der Geiſt der preußiſchen Bureaukratie ſei.“ Und „deshalb“, fuhr er fort, „beſtehe ich getroſt das Wagniß, in einer Sache, die das höchſte Wohl des Vaterlandes in Frage ſtellt, von einer befangenen Bureaukratie an die glückliche Geiſtesfreiheit und Geiſtesſtärke Ew. K. Majeſtät zu appelliren.“ Er ſchloß mit der Erklärung „daß ich bereit ſei, mit Freuden jede Bürde zu tragen, die Ew. K. Majeſtät in Ihrer Weisheit und zum Beſten des Vaterlandes meinen Schultern aufzulaſten für gut finden ſollten“. **) Brief und Denkſchrift mußten dem Monarchen gefallen. Die Aus- fälle auf die Bureaukratie thaten ihm wohl, und im Grunde des Herzens war er noch immer ſchutzzöllneriſch geſinnt, gleich dem Prinzen von *) Bunſen’s Berichte, 26. Juni, 31. Juli 1846. **) Liſt an König Friedrich Wilhelm, 31. Juli 1846. S. Beilage 32.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 482. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/496>, abgerufen am 25.11.2024.