Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft. Zahl, diese einst durch den Vater des englischen Radicalismus JeremiasBentham zuerst verkündigte Doctrin gewann im britischen Volke immer breiteren Boden; aus ihr ergab sich das Verlangen nach freiem Handel und wohlfeiler Consumtion. Die Mittelklassen, die seit der Reformbill in das Parlament eingedrungen waren, richteten ihre Angriffe zunächst gegen die Kornzölle, weil sie fühlten, daß die dem alten Adel noch ge- bliebene Macht zum Theil auf den Korngesetzen ruhte. Die breiten Massen der Arbeiter dagegen betrachteten diese zugleich politische und wirthschaft- liche Bewegung mit Argwohn; sie trauten dem Bürgerthum noch weniger als den Grundherren und sie befürchteten von der Abschaffung der Korn- zölle ein Sinken der Arbeitslöhne, das allerdings von vielen Gegnern der Korngesetze insgeheim erhofft wurde. Seit dem Jahre 1839 begann die von Richard Cobden gestiftete Anti-Korngesetz-Liga durch Versammlungen, Zeitungen und Flugschriften, durch Reiseprediger und Massenpetitionen, durch Aufzüge und Gewerbeausstellungen das Bürgerthum zu bearbeiten, die Fabrikanten versorgten sie mit gewaltigen Geldmitteln. Nach sechs Jahren rastloser Agitation hatte sie die große Mehrheit der Mittelklassen, zumal in Manchester und dem gewerbreichen Nordwesten für sich ge- wonnen, weithin durch das Land scholl der Ruf nach freiem Handel. In den Schriften der neuen Manchesterschule lebte das alte hierzu- V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. Zahl, dieſe einſt durch den Vater des engliſchen Radicalismus JeremiasBentham zuerſt verkündigte Doctrin gewann im britiſchen Volke immer breiteren Boden; aus ihr ergab ſich das Verlangen nach freiem Handel und wohlfeiler Conſumtion. Die Mittelklaſſen, die ſeit der Reformbill in das Parlament eingedrungen waren, richteten ihre Angriffe zunächſt gegen die Kornzölle, weil ſie fühlten, daß die dem alten Adel noch ge- bliebene Macht zum Theil auf den Korngeſetzen ruhte. Die breiten Maſſen der Arbeiter dagegen betrachteten dieſe zugleich politiſche und wirthſchaft- liche Bewegung mit Argwohn; ſie trauten dem Bürgerthum noch weniger als den Grundherren und ſie befürchteten von der Abſchaffung der Korn- zölle ein Sinken der Arbeitslöhne, das allerdings von vielen Gegnern der Korngeſetze insgeheim erhofft wurde. Seit dem Jahre 1839 begann die von Richard Cobden geſtiftete Anti-Korngeſetz-Liga durch Verſammlungen, Zeitungen und Flugſchriften, durch Reiſeprediger und Maſſenpetitionen, durch Aufzüge und Gewerbeausſtellungen das Bürgerthum zu bearbeiten, die Fabrikanten verſorgten ſie mit gewaltigen Geldmitteln. Nach ſechs Jahren raſtloſer Agitation hatte ſie die große Mehrheit der Mittelklaſſen, zumal in Mancheſter und dem gewerbreichen Nordweſten für ſich ge- wonnen, weithin durch das Land ſcholl der Ruf nach freiem Handel. In den Schriften der neuen Mancheſterſchule lebte das alte hierzu- <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0490" n="476"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.</fw><lb/> Zahl, dieſe einſt durch den Vater des engliſchen Radicalismus Jeremias<lb/> Bentham zuerſt verkündigte Doctrin gewann im britiſchen Volke immer<lb/> breiteren Boden; aus ihr ergab ſich das Verlangen nach freiem Handel<lb/> und wohlfeiler Conſumtion. Die Mittelklaſſen, die ſeit der Reformbill<lb/> in das Parlament eingedrungen waren, richteten ihre Angriffe zunächſt<lb/> gegen die Kornzölle, weil ſie fühlten, daß die dem alten Adel noch ge-<lb/> bliebene Macht zum Theil auf den Korngeſetzen ruhte. Die breiten Maſſen<lb/> der Arbeiter dagegen betrachteten dieſe zugleich politiſche und wirthſchaft-<lb/> liche Bewegung mit Argwohn; ſie trauten dem Bürgerthum noch weniger<lb/> als den Grundherren und ſie befürchteten von der Abſchaffung der Korn-<lb/> zölle ein Sinken der Arbeitslöhne, das allerdings von vielen Gegnern der<lb/> Korngeſetze insgeheim erhofft wurde. Seit dem Jahre 1839 begann die<lb/> von Richard Cobden geſtiftete Anti-Korngeſetz-Liga durch Verſammlungen,<lb/> Zeitungen und Flugſchriften, durch Reiſeprediger und Maſſenpetitionen,<lb/> durch Aufzüge und Gewerbeausſtellungen das Bürgerthum zu bearbeiten,<lb/> die Fabrikanten verſorgten ſie mit gewaltigen Geldmitteln. Nach ſechs<lb/> Jahren raſtloſer Agitation hatte ſie die große Mehrheit der Mittelklaſſen,<lb/> zumal in Mancheſter und dem gewerbreichen Nordweſten für ſich ge-<lb/> wonnen, weithin durch das Land ſcholl der Ruf nach freiem Handel.</p><lb/> <p>In den Schriften der neuen Mancheſterſchule lebte das alte hierzu-<lb/> lande noch niemals wiſſenſchaftlich überwundene Naturrecht wieder auf, deſſen<lb/> Sätze, gleich allen unlebendigen Abſtractionen, von der materialiſtiſchen Platt-<lb/> heit ebenſo leicht ausgebeutet werden konnten wie von dem überſpannten<lb/> Idealismus. Darum vermochte John Stuart Mill ſich gleichzeitig für Wil-<lb/> helm Humboldt und für den engliſchen Radicalismus zu begeiſtern. In den<lb/> Formeln mit Humboldt übereinſtimmend, und doch im denkbar ſchärfſten<lb/> Gegenſatz zu ihm, betrachtete Cobden den Staat als eine durch die Willkür<lb/> der Einzelmenſchen gegründete Verſicherungsanſtalt, die lediglich Geſchäft<lb/> und Arbeit vor gewaltſamen Störungen behüten und von den Verſicherten<lb/> möglichſt niedrige Prämien verlangen ſollte. Die Volkswirthſchaft blieb<lb/> ihm der einzige Inhalt des Menſchenlebens, raſches Reiſen der Muſter-<lb/> reiter und wohlfeile Kattunerzeugung der höchſte Zweck jeder Cultur. In<lb/> vollem Ernſt ſprach er aus, daß Stephenſon und Watt für die Weltgeſchichte<lb/> unvergleichlich mehr bedeuteten als Caeſar oder Napoleon. Wurden nur erſt<lb/> überall Handel und Wandel ihrer natürlichen Freiheit überlaſſen, dann<lb/> mußte ſich jede Nation unfehlbar den Erwerbszweigen widmen, welche ſie<lb/> mit dem größten Gewinn betreiben konnte, jede arbeitete alſo allen anderen<lb/> in die Hände durch eine Ausfuhr, die der Einfuhr immer genau entſprach;<lb/> die Harmonie der Intereſſen ſtellte ſich von ſelber her, der ruchloſe Luxus<lb/> der ſtehenden Heere hörte auf, die Schwerter verwandelten ſich in Pflug-<lb/> ſchaaren nach der Weiſſagung des alten Propheten, und der ewige Friede<lb/> brach an. Cobden liebte die Arbeiter aufrichtig, er wollte ihnen durch das<lb/> billigere Brot eine Wohlthat erweiſen; er vertheidigte ſogar den Schulzwang,<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [476/0490]
V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Zahl, dieſe einſt durch den Vater des engliſchen Radicalismus Jeremias
Bentham zuerſt verkündigte Doctrin gewann im britiſchen Volke immer
breiteren Boden; aus ihr ergab ſich das Verlangen nach freiem Handel
und wohlfeiler Conſumtion. Die Mittelklaſſen, die ſeit der Reformbill
in das Parlament eingedrungen waren, richteten ihre Angriffe zunächſt
gegen die Kornzölle, weil ſie fühlten, daß die dem alten Adel noch ge-
bliebene Macht zum Theil auf den Korngeſetzen ruhte. Die breiten Maſſen
der Arbeiter dagegen betrachteten dieſe zugleich politiſche und wirthſchaft-
liche Bewegung mit Argwohn; ſie trauten dem Bürgerthum noch weniger
als den Grundherren und ſie befürchteten von der Abſchaffung der Korn-
zölle ein Sinken der Arbeitslöhne, das allerdings von vielen Gegnern der
Korngeſetze insgeheim erhofft wurde. Seit dem Jahre 1839 begann die
von Richard Cobden geſtiftete Anti-Korngeſetz-Liga durch Verſammlungen,
Zeitungen und Flugſchriften, durch Reiſeprediger und Maſſenpetitionen,
durch Aufzüge und Gewerbeausſtellungen das Bürgerthum zu bearbeiten,
die Fabrikanten verſorgten ſie mit gewaltigen Geldmitteln. Nach ſechs
Jahren raſtloſer Agitation hatte ſie die große Mehrheit der Mittelklaſſen,
zumal in Mancheſter und dem gewerbreichen Nordweſten für ſich ge-
wonnen, weithin durch das Land ſcholl der Ruf nach freiem Handel.
In den Schriften der neuen Mancheſterſchule lebte das alte hierzu-
lande noch niemals wiſſenſchaftlich überwundene Naturrecht wieder auf, deſſen
Sätze, gleich allen unlebendigen Abſtractionen, von der materialiſtiſchen Platt-
heit ebenſo leicht ausgebeutet werden konnten wie von dem überſpannten
Idealismus. Darum vermochte John Stuart Mill ſich gleichzeitig für Wil-
helm Humboldt und für den engliſchen Radicalismus zu begeiſtern. In den
Formeln mit Humboldt übereinſtimmend, und doch im denkbar ſchärfſten
Gegenſatz zu ihm, betrachtete Cobden den Staat als eine durch die Willkür
der Einzelmenſchen gegründete Verſicherungsanſtalt, die lediglich Geſchäft
und Arbeit vor gewaltſamen Störungen behüten und von den Verſicherten
möglichſt niedrige Prämien verlangen ſollte. Die Volkswirthſchaft blieb
ihm der einzige Inhalt des Menſchenlebens, raſches Reiſen der Muſter-
reiter und wohlfeile Kattunerzeugung der höchſte Zweck jeder Cultur. In
vollem Ernſt ſprach er aus, daß Stephenſon und Watt für die Weltgeſchichte
unvergleichlich mehr bedeuteten als Caeſar oder Napoleon. Wurden nur erſt
überall Handel und Wandel ihrer natürlichen Freiheit überlaſſen, dann
mußte ſich jede Nation unfehlbar den Erwerbszweigen widmen, welche ſie
mit dem größten Gewinn betreiben konnte, jede arbeitete alſo allen anderen
in die Hände durch eine Ausfuhr, die der Einfuhr immer genau entſprach;
die Harmonie der Intereſſen ſtellte ſich von ſelber her, der ruchloſe Luxus
der ſtehenden Heere hörte auf, die Schwerter verwandelten ſich in Pflug-
ſchaaren nach der Weiſſagung des alten Propheten, und der ewige Friede
brach an. Cobden liebte die Arbeiter aufrichtig, er wollte ihnen durch das
billigere Brot eine Wohlthat erweiſen; er vertheidigte ſogar den Schulzwang,
Suche im WerkInformationen zum Werk
Download dieses Werks
XML (TEI P5) ·
HTML ·
Text Metadaten zum WerkTEI-Header · CMDI · Dublin Core Ansichten dieser Seite
Voyant Tools ?Language Resource Switchboard?FeedbackSie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden. Kommentar zur DTA-AusgabeDieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.
|
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden. Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des § 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
2007–2024 Deutsches Textarchiv, Berlin-Brandenburgische Akademie der Wissenschaften.
Kontakt: redaktion(at)deutschestextarchiv.de. |