V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
wo bot sich ein Ausweg aus diesem Gewoge der Parteien? Sein neuer Finanzminister Flottwell dachte im Herzen, wie damals fast alle Ostpreu- ßen, streng freihändlerisch; Kühne wollte von dem bestehenden mäßigen Tarife nur im Nothfall einige Sätze erhöhen; und neben den Beiden stand der radicale Schutzzöllner Rönne.
Unter so trüben Aussichten begann im Juli 1845 die Karlsruher Zollconferenz, die unfriedlichste der gesammten Zollvereinsgeschichte. Sie währte unter wachsender Aufregung fast vier Monate. Eine Menge aus- ländischer Agenten war zur Stelle; die Engländer vornehmlich drängten sich so roh an die Bevollmächtigten heran, daß giftige Nachreden nicht ausbleiben konnten. Um des Friedens willen erklärte sich Preußen bereit, die Zölle auf Leinen-, Baumwoll- und Kammgarn etwa zu verdoppeln; noch in den letzten Tagen hatte der König seinen neuen Handelsrath nach Stettin berufen und ihm selber die Frage vorgelegt "bis wohin wir den süddeutschen Begehren nachgeben können".*) Baden und Württemberg aber ließen sich fortreißen von dem wilden Ungestüm ihrer Schutzzoll-Partei, obgleich sie wußten, daß Sachsen und die meisten anderen der nord- deutschen Verbündeten die Nachgiebigkeit Preußens schon zu groß fanden; sie verlangten noch mehr und schließlich: Alles oder nichts! Sie allein verschuldeten also, daß wieder kein Beschluß zu Stande kam und die Conferenz in arger Zwietracht auseinander ging. Die besonnenen An- hänger der nationalen Handelseinheit fühlten sich tief niedergeschlagen; die radicalen Freihändler und die Fremden triumphirten, ja der englische Ge- sandte Sir A. Malet erfrechte sich sogar die Mitglieder der Conferenz zu einem großen Siegesmahle einzuladen. Dies ward freilich durch Ra- dowitz hintertrieben und nachher vom preußischen Hofe als eine Anmaßung scharf zurückgewiesen.**)
Von neuem, und noch lauter denn zuvor, erhoben jetzt die entrüsteten Schutzzöllner ihren Schlachtruf. Im Stuttgarter Ständesaale wurden Metternich's Mauthbeamte als Deutschlands natürliche Beschützer verherr- licht, die Preußen als Schleppträger Englands gebrandmarkt, obgleich Aber- deen gegen Bunsen beständig klagte: die Handelsbeziehungen sind das Einzige was uns von Preußen trennt***) -- und grade in diesen Tagen eine Depesche des Lords an Westmoreland bekannt wurde, die sich sehr gereizt über Preußens feindselige Handelspolitik aussprach. Dem Münchener Land- tage schilderte der Abgeordnete Neuffer die alte Handelsknechtschaft der Deutschen, die jetzt durch Preußens Schuld wiederkehre. List's Genossen in der Presse fanden kaum mehr Worte genug für die Dummheit, die Schlechtigkeit der deutschen "Bureaukratie". Aber grade dies Uebermaß sinnloser Schmähungen zwang die Bureaukraten, die den Zollverein doch
*) König Friedrich Wilhelm an Thile, 8. Juli 1845.
**) Canitz, Weisung an Radowitz, 10. Oct. 1844.
***) Bunsen's Berichte, 26. März 1844 ff.
V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
wo bot ſich ein Ausweg aus dieſem Gewoge der Parteien? Sein neuer Finanzminiſter Flottwell dachte im Herzen, wie damals faſt alle Oſtpreu- ßen, ſtreng freihändleriſch; Kühne wollte von dem beſtehenden mäßigen Tarife nur im Nothfall einige Sätze erhöhen; und neben den Beiden ſtand der radicale Schutzzöllner Rönne.
Unter ſo trüben Ausſichten begann im Juli 1845 die Karlsruher Zollconferenz, die unfriedlichſte der geſammten Zollvereinsgeſchichte. Sie währte unter wachſender Aufregung faſt vier Monate. Eine Menge aus- ländiſcher Agenten war zur Stelle; die Engländer vornehmlich drängten ſich ſo roh an die Bevollmächtigten heran, daß giftige Nachreden nicht ausbleiben konnten. Um des Friedens willen erklärte ſich Preußen bereit, die Zölle auf Leinen-, Baumwoll- und Kammgarn etwa zu verdoppeln; noch in den letzten Tagen hatte der König ſeinen neuen Handelsrath nach Stettin berufen und ihm ſelber die Frage vorgelegt „bis wohin wir den ſüddeutſchen Begehren nachgeben können“.*) Baden und Württemberg aber ließen ſich fortreißen von dem wilden Ungeſtüm ihrer Schutzzoll-Partei, obgleich ſie wußten, daß Sachſen und die meiſten anderen der nord- deutſchen Verbündeten die Nachgiebigkeit Preußens ſchon zu groß fanden; ſie verlangten noch mehr und ſchließlich: Alles oder nichts! Sie allein verſchuldeten alſo, daß wieder kein Beſchluß zu Stande kam und die Conferenz in arger Zwietracht auseinander ging. Die beſonnenen An- hänger der nationalen Handelseinheit fühlten ſich tief niedergeſchlagen; die radicalen Freihändler und die Fremden triumphirten, ja der engliſche Ge- ſandte Sir A. Malet erfrechte ſich ſogar die Mitglieder der Conferenz zu einem großen Siegesmahle einzuladen. Dies ward freilich durch Ra- dowitz hintertrieben und nachher vom preußiſchen Hofe als eine Anmaßung ſcharf zurückgewieſen.**)
Von neuem, und noch lauter denn zuvor, erhoben jetzt die entrüſteten Schutzzöllner ihren Schlachtruf. Im Stuttgarter Ständeſaale wurden Metternich’s Mauthbeamte als Deutſchlands natürliche Beſchützer verherr- licht, die Preußen als Schleppträger Englands gebrandmarkt, obgleich Aber- deen gegen Bunſen beſtändig klagte: die Handelsbeziehungen ſind das Einzige was uns von Preußen trennt***) — und grade in dieſen Tagen eine Depeſche des Lords an Weſtmoreland bekannt wurde, die ſich ſehr gereizt über Preußens feindſelige Handelspolitik ausſprach. Dem Münchener Land- tage ſchilderte der Abgeordnete Neuffer die alte Handelsknechtſchaft der Deutſchen, die jetzt durch Preußens Schuld wiederkehre. Liſt’s Genoſſen in der Preſſe fanden kaum mehr Worte genug für die Dummheit, die Schlechtigkeit der deutſchen „Bureaukratie“. Aber grade dies Uebermaß ſinnloſer Schmähungen zwang die Bureaukraten, die den Zollverein doch
*) König Friedrich Wilhelm an Thile, 8. Juli 1845.
**) Canitz, Weiſung an Radowitz, 10. Oct. 1844.
***) Bunſen’s Berichte, 26. März 1844 ff.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0486"n="472"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">V.</hi> 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.</fw><lb/>
wo bot ſich ein Ausweg aus dieſem Gewoge der Parteien? Sein neuer<lb/>
Finanzminiſter Flottwell dachte im Herzen, wie damals faſt alle Oſtpreu-<lb/>
ßen, ſtreng freihändleriſch; Kühne wollte von dem beſtehenden mäßigen<lb/>
Tarife nur im Nothfall einige Sätze erhöhen; und neben den Beiden ſtand<lb/>
der radicale Schutzzöllner Rönne.</p><lb/><p>Unter ſo trüben Ausſichten begann im Juli 1845 die Karlsruher<lb/>
Zollconferenz, die unfriedlichſte der geſammten Zollvereinsgeſchichte. Sie<lb/>
währte unter wachſender Aufregung faſt vier Monate. Eine Menge aus-<lb/>
ländiſcher Agenten war zur Stelle; die Engländer vornehmlich drängten<lb/>ſich ſo roh an die Bevollmächtigten heran, daß giftige Nachreden nicht<lb/>
ausbleiben konnten. Um des Friedens willen erklärte ſich Preußen bereit,<lb/>
die Zölle auf Leinen-, Baumwoll- und Kammgarn etwa zu verdoppeln; noch<lb/>
in den letzten Tagen hatte der König ſeinen neuen Handelsrath nach<lb/>
Stettin berufen und ihm ſelber die Frage vorgelegt „bis wohin wir den<lb/>ſüddeutſchen Begehren nachgeben können“.<noteplace="foot"n="*)">König Friedrich Wilhelm an Thile, 8. Juli 1845.</note> Baden und Württemberg<lb/>
aber ließen ſich fortreißen von dem wilden Ungeſtüm ihrer Schutzzoll-Partei,<lb/>
obgleich ſie wußten, daß Sachſen und die meiſten anderen der nord-<lb/>
deutſchen Verbündeten die Nachgiebigkeit Preußens ſchon zu groß fanden;<lb/>ſie verlangten noch mehr und ſchließlich: Alles oder nichts! Sie allein<lb/>
verſchuldeten alſo, daß wieder kein Beſchluß zu Stande kam und die<lb/>
Conferenz in arger Zwietracht auseinander ging. Die beſonnenen An-<lb/>
hänger der nationalen Handelseinheit fühlten ſich tief niedergeſchlagen; die<lb/>
radicalen Freihändler und die Fremden triumphirten, ja der engliſche Ge-<lb/>ſandte Sir A. Malet erfrechte ſich ſogar die Mitglieder der Conferenz<lb/>
zu einem großen Siegesmahle einzuladen. Dies ward freilich durch Ra-<lb/>
dowitz hintertrieben und nachher vom preußiſchen Hofe als eine Anmaßung<lb/>ſcharf zurückgewieſen.<noteplace="foot"n="**)">Canitz, Weiſung an Radowitz, 10. Oct. 1844.</note></p><lb/><p>Von neuem, und noch lauter denn zuvor, erhoben jetzt die entrüſteten<lb/>
Schutzzöllner ihren Schlachtruf. Im Stuttgarter Ständeſaale wurden<lb/>
Metternich’s Mauthbeamte als Deutſchlands natürliche Beſchützer verherr-<lb/>
licht, die Preußen als Schleppträger Englands gebrandmarkt, obgleich Aber-<lb/>
deen gegen Bunſen beſtändig klagte: die Handelsbeziehungen ſind das<lb/>
Einzige was uns von Preußen trennt<noteplace="foot"n="***)">Bunſen’s Berichte, 26. März 1844 ff.</note>— und grade in dieſen Tagen eine<lb/>
Depeſche des Lords an Weſtmoreland bekannt wurde, die ſich ſehr gereizt<lb/>
über Preußens feindſelige Handelspolitik ausſprach. Dem Münchener Land-<lb/>
tage ſchilderte der Abgeordnete Neuffer die alte Handelsknechtſchaft der<lb/>
Deutſchen, die jetzt durch Preußens Schuld wiederkehre. Liſt’s Genoſſen<lb/>
in der Preſſe fanden kaum mehr Worte genug für die Dummheit, die<lb/>
Schlechtigkeit der deutſchen „Bureaukratie“. Aber grade dies Uebermaß<lb/>ſinnloſer Schmähungen zwang die Bureaukraten, die den Zollverein doch<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[472/0486]
V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
wo bot ſich ein Ausweg aus dieſem Gewoge der Parteien? Sein neuer
Finanzminiſter Flottwell dachte im Herzen, wie damals faſt alle Oſtpreu-
ßen, ſtreng freihändleriſch; Kühne wollte von dem beſtehenden mäßigen
Tarife nur im Nothfall einige Sätze erhöhen; und neben den Beiden ſtand
der radicale Schutzzöllner Rönne.
Unter ſo trüben Ausſichten begann im Juli 1845 die Karlsruher
Zollconferenz, die unfriedlichſte der geſammten Zollvereinsgeſchichte. Sie
währte unter wachſender Aufregung faſt vier Monate. Eine Menge aus-
ländiſcher Agenten war zur Stelle; die Engländer vornehmlich drängten
ſich ſo roh an die Bevollmächtigten heran, daß giftige Nachreden nicht
ausbleiben konnten. Um des Friedens willen erklärte ſich Preußen bereit,
die Zölle auf Leinen-, Baumwoll- und Kammgarn etwa zu verdoppeln; noch
in den letzten Tagen hatte der König ſeinen neuen Handelsrath nach
Stettin berufen und ihm ſelber die Frage vorgelegt „bis wohin wir den
ſüddeutſchen Begehren nachgeben können“. *) Baden und Württemberg
aber ließen ſich fortreißen von dem wilden Ungeſtüm ihrer Schutzzoll-Partei,
obgleich ſie wußten, daß Sachſen und die meiſten anderen der nord-
deutſchen Verbündeten die Nachgiebigkeit Preußens ſchon zu groß fanden;
ſie verlangten noch mehr und ſchließlich: Alles oder nichts! Sie allein
verſchuldeten alſo, daß wieder kein Beſchluß zu Stande kam und die
Conferenz in arger Zwietracht auseinander ging. Die beſonnenen An-
hänger der nationalen Handelseinheit fühlten ſich tief niedergeſchlagen; die
radicalen Freihändler und die Fremden triumphirten, ja der engliſche Ge-
ſandte Sir A. Malet erfrechte ſich ſogar die Mitglieder der Conferenz
zu einem großen Siegesmahle einzuladen. Dies ward freilich durch Ra-
dowitz hintertrieben und nachher vom preußiſchen Hofe als eine Anmaßung
ſcharf zurückgewieſen. **)
Von neuem, und noch lauter denn zuvor, erhoben jetzt die entrüſteten
Schutzzöllner ihren Schlachtruf. Im Stuttgarter Ständeſaale wurden
Metternich’s Mauthbeamte als Deutſchlands natürliche Beſchützer verherr-
licht, die Preußen als Schleppträger Englands gebrandmarkt, obgleich Aber-
deen gegen Bunſen beſtändig klagte: die Handelsbeziehungen ſind das
Einzige was uns von Preußen trennt ***) — und grade in dieſen Tagen eine
Depeſche des Lords an Weſtmoreland bekannt wurde, die ſich ſehr gereizt
über Preußens feindſelige Handelspolitik ausſprach. Dem Münchener Land-
tage ſchilderte der Abgeordnete Neuffer die alte Handelsknechtſchaft der
Deutſchen, die jetzt durch Preußens Schuld wiederkehre. Liſt’s Genoſſen
in der Preſſe fanden kaum mehr Worte genug für die Dummheit, die
Schlechtigkeit der deutſchen „Bureaukratie“. Aber grade dies Uebermaß
ſinnloſer Schmähungen zwang die Bureaukraten, die den Zollverein doch
*) König Friedrich Wilhelm an Thile, 8. Juli 1845.
**) Canitz, Weiſung an Radowitz, 10. Oct. 1844.
***) Bunſen’s Berichte, 26. März 1844 ff.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 472. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/486>, abgerufen am 25.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.