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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
zolls, da weder England noch Rußland noch Schweden den preußischen
Hof ernstlich unterstützte, und mit wiehernder Schadenfreude begrüßten
die stammverwandten Hansen das Mißgeschick ihrer Concurrenten an der
Ostsee. --

Angesichts dieser geringen Erfolge der auswärtigen Verhandlungen
verschärfte sich unausbleiblich der wirthschaftliche Parteikampf im Innern.
Der Zollverein mußte jetzt seine Feuerprobe bestehen. Alle Krisen, die
er späterhin noch überdauern sollte, wurden veranlaßt oder doch gefördert
durch die politischen Hintergedanken der nach Oesterreich hinüberschauenden
Mittelstaaten. Diese erste und schwerste Krisis aber kam aus dem Volke.
Abel mitsammt seinen ultramontanen Genossen hätte sicherlich den natio-
nalen Handelsbund gern zerstört, es gelang ihm auch den trefflichen, in
Preußen beliebten Generalzolldirektor Bever zu beseitigen; König Ludwig
jedoch gebot ihm Halt. Der Wittelsbacher blieb selbst in diesen Tagen
seiner clericalen Träume immer gut deutsch gesinnt, er zeigte sich durchaus
versöhnlich und sagte zu dem preußischen Gesandtschaftsvertreter: der Zoll-
verein ist unzerstörbar, viel wichtiger als der Deutsche Bund.*) Auch die
anderen Höfe hegten keine feindseligen Pläne, sie wurden nur fortgerissen
durch die ungestümen Wünsche ihrer Fabrikanten. Nord und Süd drohten
sich zu trennen. Zu Preußen hielten alle norddeutschen Zollverbündeten
und Darmstadt, zur Partei des Schutzzolls Baden, Württemberg, Nassau
und -- besonnener als die andern -- Baiern.

Leider lagen die Dinge so einfach nicht, wie Bodelschwingh annahm,
da er zuversichtlich sagte: das Geschrei nach hohen Schutzzöllen ist künst-
lich erzeugt; bei niedrigen Zöllen und blühenden Finanzen befindet sich
die Mehrzahl des Volkes wohl.**) Der alte Tarif, der im Ganzen noch
genügte, schädigte unleugbar einzelne wichtige Gewerbszweige. Am schwer-
sten litt die einst so blühende Leinenindustrie Schlesiens. Früherhin hatten
die frohnenden Bauern den Flachs der Rittergüter zu Leinengarn ver-
sponnen. Seit der Aufhebung der Frohnden verfiel der Flachsbau, man
suchte sparsam Leinsamen und Flachs zugleich auf demselben Felde zu er-
zeugen, was doch kaum möglich war, und als die unglücklichen Weber nun
diesen schlechteren Flachs auf ihren altväterischen Webstühlen mühsam
verarbeiteten, sahen sie sich plötzlich bedroht durch den überlegenen Wett-
bewerb der mechanischen Spinnerei Englands, die im napoleonischen Zeit-
alter, unter dem Schutze hoher Zölle, mächtig angewachsen war und alle
neuen Erfindungen des Maschinenwesens findig ausnutzte. Zur Zeit da
das preußische Zollgesetz erschien, beherrschte die deutsche Leinenindustrie
den inländischen Markt noch ganz und die neuen Zölle reichten aus.
Bald wendete sich das Blatt; während die deutsche Ausfuhr sich um volle

*) Küster's Bericht, 18. Dec. 1843.
**) Bodelschwingh's Votum, 19. Nov. 1843.

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
zolls, da weder England noch Rußland noch Schweden den preußiſchen
Hof ernſtlich unterſtützte, und mit wiehernder Schadenfreude begrüßten
die ſtammverwandten Hanſen das Mißgeſchick ihrer Concurrenten an der
Oſtſee. —

Angeſichts dieſer geringen Erfolge der auswärtigen Verhandlungen
verſchärfte ſich unausbleiblich der wirthſchaftliche Parteikampf im Innern.
Der Zollverein mußte jetzt ſeine Feuerprobe beſtehen. Alle Kriſen, die
er ſpäterhin noch überdauern ſollte, wurden veranlaßt oder doch gefördert
durch die politiſchen Hintergedanken der nach Oeſterreich hinüberſchauenden
Mittelſtaaten. Dieſe erſte und ſchwerſte Kriſis aber kam aus dem Volke.
Abel mitſammt ſeinen ultramontanen Genoſſen hätte ſicherlich den natio-
nalen Handelsbund gern zerſtört, es gelang ihm auch den trefflichen, in
Preußen beliebten Generalzolldirektor Bever zu beſeitigen; König Ludwig
jedoch gebot ihm Halt. Der Wittelsbacher blieb ſelbſt in dieſen Tagen
ſeiner clericalen Träume immer gut deutſch geſinnt, er zeigte ſich durchaus
verſöhnlich und ſagte zu dem preußiſchen Geſandtſchaftsvertreter: der Zoll-
verein iſt unzerſtörbar, viel wichtiger als der Deutſche Bund.*) Auch die
anderen Höfe hegten keine feindſeligen Pläne, ſie wurden nur fortgeriſſen
durch die ungeſtümen Wünſche ihrer Fabrikanten. Nord und Süd drohten
ſich zu trennen. Zu Preußen hielten alle norddeutſchen Zollverbündeten
und Darmſtadt, zur Partei des Schutzzolls Baden, Württemberg, Naſſau
und — beſonnener als die andern — Baiern.

Leider lagen die Dinge ſo einfach nicht, wie Bodelſchwingh annahm,
da er zuverſichtlich ſagte: das Geſchrei nach hohen Schutzzöllen iſt künſt-
lich erzeugt; bei niedrigen Zöllen und blühenden Finanzen befindet ſich
die Mehrzahl des Volkes wohl.**) Der alte Tarif, der im Ganzen noch
genügte, ſchädigte unleugbar einzelne wichtige Gewerbszweige. Am ſchwer-
ſten litt die einſt ſo blühende Leineninduſtrie Schleſiens. Früherhin hatten
die frohnenden Bauern den Flachs der Rittergüter zu Leinengarn ver-
ſponnen. Seit der Aufhebung der Frohnden verfiel der Flachsbau, man
ſuchte ſparſam Leinſamen und Flachs zugleich auf demſelben Felde zu er-
zeugen, was doch kaum möglich war, und als die unglücklichen Weber nun
dieſen ſchlechteren Flachs auf ihren altväteriſchen Webſtühlen mühſam
verarbeiteten, ſahen ſie ſich plötzlich bedroht durch den überlegenen Wett-
bewerb der mechaniſchen Spinnerei Englands, die im napoleoniſchen Zeit-
alter, unter dem Schutze hoher Zölle, mächtig angewachſen war und alle
neuen Erfindungen des Maſchinenweſens findig ausnutzte. Zur Zeit da
das preußiſche Zollgeſetz erſchien, beherrſchte die deutſche Leineninduſtrie
den inländiſchen Markt noch ganz und die neuen Zölle reichten aus.
Bald wendete ſich das Blatt; während die deutſche Ausfuhr ſich um volle

*) Küſter’s Bericht, 18. Dec. 1843.
**) Bodelſchwingh’s Votum, 19. Nov. 1843.
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[468/0482] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. zolls, da weder England noch Rußland noch Schweden den preußiſchen Hof ernſtlich unterſtützte, und mit wiehernder Schadenfreude begrüßten die ſtammverwandten Hanſen das Mißgeſchick ihrer Concurrenten an der Oſtſee. — Angeſichts dieſer geringen Erfolge der auswärtigen Verhandlungen verſchärfte ſich unausbleiblich der wirthſchaftliche Parteikampf im Innern. Der Zollverein mußte jetzt ſeine Feuerprobe beſtehen. Alle Kriſen, die er ſpäterhin noch überdauern ſollte, wurden veranlaßt oder doch gefördert durch die politiſchen Hintergedanken der nach Oeſterreich hinüberſchauenden Mittelſtaaten. Dieſe erſte und ſchwerſte Kriſis aber kam aus dem Volke. Abel mitſammt ſeinen ultramontanen Genoſſen hätte ſicherlich den natio- nalen Handelsbund gern zerſtört, es gelang ihm auch den trefflichen, in Preußen beliebten Generalzolldirektor Bever zu beſeitigen; König Ludwig jedoch gebot ihm Halt. Der Wittelsbacher blieb ſelbſt in dieſen Tagen ſeiner clericalen Träume immer gut deutſch geſinnt, er zeigte ſich durchaus verſöhnlich und ſagte zu dem preußiſchen Geſandtſchaftsvertreter: der Zoll- verein iſt unzerſtörbar, viel wichtiger als der Deutſche Bund. *) Auch die anderen Höfe hegten keine feindſeligen Pläne, ſie wurden nur fortgeriſſen durch die ungeſtümen Wünſche ihrer Fabrikanten. Nord und Süd drohten ſich zu trennen. Zu Preußen hielten alle norddeutſchen Zollverbündeten und Darmſtadt, zur Partei des Schutzzolls Baden, Württemberg, Naſſau und — beſonnener als die andern — Baiern. Leider lagen die Dinge ſo einfach nicht, wie Bodelſchwingh annahm, da er zuverſichtlich ſagte: das Geſchrei nach hohen Schutzzöllen iſt künſt- lich erzeugt; bei niedrigen Zöllen und blühenden Finanzen befindet ſich die Mehrzahl des Volkes wohl. **) Der alte Tarif, der im Ganzen noch genügte, ſchädigte unleugbar einzelne wichtige Gewerbszweige. Am ſchwer- ſten litt die einſt ſo blühende Leineninduſtrie Schleſiens. Früherhin hatten die frohnenden Bauern den Flachs der Rittergüter zu Leinengarn ver- ſponnen. Seit der Aufhebung der Frohnden verfiel der Flachsbau, man ſuchte ſparſam Leinſamen und Flachs zugleich auf demſelben Felde zu er- zeugen, was doch kaum möglich war, und als die unglücklichen Weber nun dieſen ſchlechteren Flachs auf ihren altväteriſchen Webſtühlen mühſam verarbeiteten, ſahen ſie ſich plötzlich bedroht durch den überlegenen Wett- bewerb der mechaniſchen Spinnerei Englands, die im napoleoniſchen Zeit- alter, unter dem Schutze hoher Zölle, mächtig angewachſen war und alle neuen Erfindungen des Maſchinenweſens findig ausnutzte. Zur Zeit da das preußiſche Zollgeſetz erſchien, beherrſchte die deutſche Leineninduſtrie den inländiſchen Markt noch ganz und die neuen Zölle reichten aus. Bald wendete ſich das Blatt; während die deutſche Ausfuhr ſich um volle *) Küſter’s Bericht, 18. Dec. 1843. **) Bodelſchwingh’s Votum, 19. Nov. 1843.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 468. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/482>, abgerufen am 25.11.2024.