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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
war der Krieg erst im Gange, so ließ sich von der so oft, so glorreich be-
währten Vaterlandsliebe der Preußen mit Sicherheit erwarten, daß ihr
Reichstag nothwendige Kriegsanleihen nicht verweigern würde.

Von solchen Zweifeln gepeinigt, hatte Friedrich Wilhelm einen be-
stimmten Entschluß noch nicht gefunden; nur das Eine sagte ihm seine
richtige Empfindung, daß der große Augenblick der Huldigung benutzt
werden mußte um durch einen freien königlichen Befehl die Verfassungs-
frage sofort zu entscheiden. Da wurde ihm zur unglücklichen Stunde
jener Testamentsentwurf übergeben, welchen der Vater kurz vor seinem
Ableben dem Fürsten Wittgenstein anvertraut hatte.*) Darin war vor-
geschrieben, daß nur im Falle der Aufnahme einer neuen Anleihe ein
Vereinigter Landtag aus 32 Abgeordneten der Provinziallandtage und
ebenso vielen Mitgliedern des Staatsraths gebildet werden dürfe; über-
dies verlangte der alte Herr für jede Aenderung der ständischen Verfassung
die Zustimmung der Agnaten. Daß diese Aufzeichnungen im Großen und
Ganzen der Ansicht des verstorbenen Königs entsprachen, ließ sich nicht
bestreiten. Aber sie waren rechtlich unwirksam, da sie weder Unterschrift
noch Datum trugen, und konnten nur als ein väterlicher Rath und
Wunsch, nicht als ein bindendes Testament betrachtet werden, obgleich das
Allgemeine Landrecht die letztwilligen Verordnungen der Mitglieder des
königlichen Hauses als privilegirte Testamente von den üblichen Förm-
lichkeiten befreite; denn immer blieb die Frage offen, ob die Willens-
meinung des Monarchen genau wiedergegeben sei. Der neue König zwei-
felte lange, wie er sich zu den Verfügungen des Vaters zu verhalten habe;
er ließ Alles was sie über das Hausvermögen anordneten gewissenhaft
ausführen, und theilte das Aktenstück seinen Brüdern mit. Da erwi-
derte ihm der Prinz von Preußen sehr ernst, die Willensmeinung des
Vaters müsse trotz ihrer mangelhaften Form unbedingt geachtet werden,
ohne die Zustimmung aller erwachsenen königlichen Prinzen sei fortan jede
Verfassungsänderung unzulässig.

Also gemahnt entschloß sich Friedrich Wilhelm, sofort bei der Huldigung
die beabsichtigte Einberufung jenes seltsamen Landtags von 64 Mitglie-
dern anzukündigen, obgleich eine neue Anleihe zur Zeit gar nicht nöthig
war; auch eine Uebersicht des Staatshaushalts wollte er den zur Huldi-
gung versammelten Provinzialständen vorlegen und ihnen mittheilen, daß
er seinem treuen Volke zur Morgengabe einen Steuererlaß zu gewähren
denke. Durch solche freie Bewilligungen -- so rechnete er -- würden die
Stände leicht gewonnen werden und sich gern entschließen, dafür auf die
verheißene regelmäßige Berufung des Reichstags zu verzichten. Waren
dergestalt die Befehle des Vaters mit Genehmigung der Agnaten aus-
geführt, so konnte vielleicht später einmal, nach dem Ermessen der Krone,

*) S. o. IV. 725. 753.

V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
war der Krieg erſt im Gange, ſo ließ ſich von der ſo oft, ſo glorreich be-
währten Vaterlandsliebe der Preußen mit Sicherheit erwarten, daß ihr
Reichstag nothwendige Kriegsanleihen nicht verweigern würde.

Von ſolchen Zweifeln gepeinigt, hatte Friedrich Wilhelm einen be-
ſtimmten Entſchluß noch nicht gefunden; nur das Eine ſagte ihm ſeine
richtige Empfindung, daß der große Augenblick der Huldigung benutzt
werden mußte um durch einen freien königlichen Befehl die Verfaſſungs-
frage ſofort zu entſcheiden. Da wurde ihm zur unglücklichen Stunde
jener Teſtamentsentwurf übergeben, welchen der Vater kurz vor ſeinem
Ableben dem Fürſten Wittgenſtein anvertraut hatte.*) Darin war vor-
geſchrieben, daß nur im Falle der Aufnahme einer neuen Anleihe ein
Vereinigter Landtag aus 32 Abgeordneten der Provinziallandtage und
ebenſo vielen Mitgliedern des Staatsraths gebildet werden dürfe; über-
dies verlangte der alte Herr für jede Aenderung der ſtändiſchen Verfaſſung
die Zuſtimmung der Agnaten. Daß dieſe Aufzeichnungen im Großen und
Ganzen der Anſicht des verſtorbenen Königs entſprachen, ließ ſich nicht
beſtreiten. Aber ſie waren rechtlich unwirkſam, da ſie weder Unterſchrift
noch Datum trugen, und konnten nur als ein väterlicher Rath und
Wunſch, nicht als ein bindendes Teſtament betrachtet werden, obgleich das
Allgemeine Landrecht die letztwilligen Verordnungen der Mitglieder des
königlichen Hauſes als privilegirte Teſtamente von den üblichen Förm-
lichkeiten befreite; denn immer blieb die Frage offen, ob die Willens-
meinung des Monarchen genau wiedergegeben ſei. Der neue König zwei-
felte lange, wie er ſich zu den Verfügungen des Vaters zu verhalten habe;
er ließ Alles was ſie über das Hausvermögen anordneten gewiſſenhaft
ausführen, und theilte das Aktenſtück ſeinen Brüdern mit. Da erwi-
derte ihm der Prinz von Preußen ſehr ernſt, die Willensmeinung des
Vaters müſſe trotz ihrer mangelhaften Form unbedingt geachtet werden,
ohne die Zuſtimmung aller erwachſenen königlichen Prinzen ſei fortan jede
Verfaſſungsänderung unzuläſſig.

Alſo gemahnt entſchloß ſich Friedrich Wilhelm, ſofort bei der Huldigung
die beabſichtigte Einberufung jenes ſeltſamen Landtags von 64 Mitglie-
dern anzukündigen, obgleich eine neue Anleihe zur Zeit gar nicht nöthig
war; auch eine Ueberſicht des Staatshaushalts wollte er den zur Huldi-
gung verſammelten Provinzialſtänden vorlegen und ihnen mittheilen, daß
er ſeinem treuen Volke zur Morgengabe einen Steuererlaß zu gewähren
denke. Durch ſolche freie Bewilligungen — ſo rechnete er — würden die
Stände leicht gewonnen werden und ſich gern entſchließen, dafür auf die
verheißene regelmäßige Berufung des Reichstags zu verzichten. Waren
dergeſtalt die Befehle des Vaters mit Genehmigung der Agnaten aus-
geführt, ſo konnte vielleicht ſpäter einmal, nach dem Ermeſſen der Krone,

*) S. o. IV. 725. 753.
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[34/0048] V. 1. Die frohen Tage der Erwartung. war der Krieg erſt im Gange, ſo ließ ſich von der ſo oft, ſo glorreich be- währten Vaterlandsliebe der Preußen mit Sicherheit erwarten, daß ihr Reichstag nothwendige Kriegsanleihen nicht verweigern würde. Von ſolchen Zweifeln gepeinigt, hatte Friedrich Wilhelm einen be- ſtimmten Entſchluß noch nicht gefunden; nur das Eine ſagte ihm ſeine richtige Empfindung, daß der große Augenblick der Huldigung benutzt werden mußte um durch einen freien königlichen Befehl die Verfaſſungs- frage ſofort zu entſcheiden. Da wurde ihm zur unglücklichen Stunde jener Teſtamentsentwurf übergeben, welchen der Vater kurz vor ſeinem Ableben dem Fürſten Wittgenſtein anvertraut hatte. *) Darin war vor- geſchrieben, daß nur im Falle der Aufnahme einer neuen Anleihe ein Vereinigter Landtag aus 32 Abgeordneten der Provinziallandtage und ebenſo vielen Mitgliedern des Staatsraths gebildet werden dürfe; über- dies verlangte der alte Herr für jede Aenderung der ſtändiſchen Verfaſſung die Zuſtimmung der Agnaten. Daß dieſe Aufzeichnungen im Großen und Ganzen der Anſicht des verſtorbenen Königs entſprachen, ließ ſich nicht beſtreiten. Aber ſie waren rechtlich unwirkſam, da ſie weder Unterſchrift noch Datum trugen, und konnten nur als ein väterlicher Rath und Wunſch, nicht als ein bindendes Teſtament betrachtet werden, obgleich das Allgemeine Landrecht die letztwilligen Verordnungen der Mitglieder des königlichen Hauſes als privilegirte Teſtamente von den üblichen Förm- lichkeiten befreite; denn immer blieb die Frage offen, ob die Willens- meinung des Monarchen genau wiedergegeben ſei. Der neue König zwei- felte lange, wie er ſich zu den Verfügungen des Vaters zu verhalten habe; er ließ Alles was ſie über das Hausvermögen anordneten gewiſſenhaft ausführen, und theilte das Aktenſtück ſeinen Brüdern mit. Da erwi- derte ihm der Prinz von Preußen ſehr ernſt, die Willensmeinung des Vaters müſſe trotz ihrer mangelhaften Form unbedingt geachtet werden, ohne die Zuſtimmung aller erwachſenen königlichen Prinzen ſei fortan jede Verfaſſungsänderung unzuläſſig. Alſo gemahnt entſchloß ſich Friedrich Wilhelm, ſofort bei der Huldigung die beabſichtigte Einberufung jenes ſeltſamen Landtags von 64 Mitglie- dern anzukündigen, obgleich eine neue Anleihe zur Zeit gar nicht nöthig war; auch eine Ueberſicht des Staatshaushalts wollte er den zur Huldi- gung verſammelten Provinzialſtänden vorlegen und ihnen mittheilen, daß er ſeinem treuen Volke zur Morgengabe einen Steuererlaß zu gewähren denke. Durch ſolche freie Bewilligungen — ſo rechnete er — würden die Stände leicht gewonnen werden und ſich gern entſchließen, dafür auf die verheißene regelmäßige Berufung des Reichstags zu verzichten. Waren dergeſtalt die Befehle des Vaters mit Genehmigung der Agnaten aus- geführt, ſo konnte vielleicht ſpäter einmal, nach dem Ermeſſen der Krone, *) S. o. IV. 725. 753.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 34. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/48>, abgerufen am 25.11.2024.