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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
sie Jedem leihen, der gut zahlt. Man gebe ihm Geld und zwar viel, so
wird es ihm ziemlich gleichgiltig sein, ob er Eisenbahnen oder Kolonien
in Oesterreich oder Preußen zu verwalten habe."*) Kühne selbst wahrte
seine Amtswürde und antwortete in der Staatszeitung nur auf die sach-
lichen, nie auf die persönlichen Angriffe des süddeutschen Agitators. Um
so heftiger äußerte er sich mündlich über "die Absurdität und Schlechtig-
keit" des Schwaben, über des tolle Treiben der "völlig verrückten List'schen
Sünder". Er begriff nicht, daß List's Buch ganz neue, fruchtbare Ge-
danken enthielt, er sah darin nur die Wiederholung alter Irrthümer und
fand es "räthselhaft, wie dies so ganz hohle und verbrauchte Mercantil-
system wieder aufleben konnte."**)

In Norddeutschland stimmte wohl die große Mehrzahl diesem verständ-
nißlosen Urtheile zu. Hier wurde List's Lehre fast allein von den Eisen-
werksbesitzern Westphalens und einem Theile der schlesischen Fabrikanten
willkommen geheißen. Die meisten der altbefestigten Fabriken sahen sich
durch die bestehenden Zölle genugsam geschützt; die Handelsplätze vollends
und die ackerbauenden Provinzen verlangten nach Freihandel. Während
im Süden die schutzzöllnerische Gesinnung für freisinnig galt, herrschte
im Nordosten, zumal in Altpreußen, die genau entgegengesetzte Meinung:
wer ein fester Liberaler war und die befreiende sociale Gesetzgebung der
Stein-Hardenbergischen Tage hochhielt, mußte auch den freien Handel
fordern. Selbst der Landadel stimmte in der Wirthschaftspolitik mit seinen
alten Gegnern, den Geheimen Räthen überein; für seine Bodenfrüchte
hatte er ja keinen erdrückenden fremden Wettbewerb zu fürchten, darum
wünschte er Erleichterung der Consumtion, vor Allem wohlfeile Maschinen,
um die noch tief darniederliegende landwirthschaftliche Technik zu ver-
bessern. Der halbwahre, in vielen Fällen falsche Satz, daß der Consu-
ment allein den ganzen Schutzzoll bezahlen müsse, wurde noch allgemein
geglaubt, und Niemand fragte, warum denn die englischen Producenten
so gar ängstlich vor jeder Erhöhung der deutschen Garn- und Eisenzölle
warnten. Vergeblich rechnete Fritz Harkort, der Volksmann Westphalens,
den Grundbesitzern vor: der Pächter einer westphälischen Domäne von
1000 Morgen brauche im Jahre etwa 24 Ctr. Stabeisen und 1 Ctr. Stahl,
er zahle mithin für jeden Morgen schlimmsten Falles 1 Sgr. Zoll und
könne folglich durch eine mäßige Erhöhung der Eisenzölle nicht schwer ge-
troffen werden. Erst in einer weit späteren Zeit, als der Ackerbau sich
selbst durch die Getreideeinfuhr anderer Völker bedroht sah, begannen die
Landwirthe zu erkennen, daß in der That alle Zweige der nationalen Er-
werbsthätigkeit, trotz der Reibungen daheim, dem Auslande gegenüber eine
lebendige Interessengemeinschaft bilden, wie List immer behauptet hatte.


*) Canitz, Bemerkungen zu Bunsen's Bericht vom 31. Juli 1846.
**) Nach Kühne's Denkwürdigkeiten.

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
ſie Jedem leihen, der gut zahlt. Man gebe ihm Geld und zwar viel, ſo
wird es ihm ziemlich gleichgiltig ſein, ob er Eiſenbahnen oder Kolonien
in Oeſterreich oder Preußen zu verwalten habe.“*) Kühne ſelbſt wahrte
ſeine Amtswürde und antwortete in der Staatszeitung nur auf die ſach-
lichen, nie auf die perſönlichen Angriffe des ſüddeutſchen Agitators. Um
ſo heftiger äußerte er ſich mündlich über „die Abſurdität und Schlechtig-
keit“ des Schwaben, über des tolle Treiben der „völlig verrückten Liſt’ſchen
Sünder“. Er begriff nicht, daß Liſt’s Buch ganz neue, fruchtbare Ge-
danken enthielt, er ſah darin nur die Wiederholung alter Irrthümer und
fand es „räthſelhaft, wie dies ſo ganz hohle und verbrauchte Mercantil-
ſyſtem wieder aufleben konnte.“**)

In Norddeutſchland ſtimmte wohl die große Mehrzahl dieſem verſtänd-
nißloſen Urtheile zu. Hier wurde Liſt’s Lehre faſt allein von den Eiſen-
werksbeſitzern Weſtphalens und einem Theile der ſchleſiſchen Fabrikanten
willkommen geheißen. Die meiſten der altbefeſtigten Fabriken ſahen ſich
durch die beſtehenden Zölle genugſam geſchützt; die Handelsplätze vollends
und die ackerbauenden Provinzen verlangten nach Freihandel. Während
im Süden die ſchutzzöllneriſche Geſinnung für freiſinnig galt, herrſchte
im Nordoſten, zumal in Altpreußen, die genau entgegengeſetzte Meinung:
wer ein feſter Liberaler war und die befreiende ſociale Geſetzgebung der
Stein-Hardenbergiſchen Tage hochhielt, mußte auch den freien Handel
fordern. Selbſt der Landadel ſtimmte in der Wirthſchaftspolitik mit ſeinen
alten Gegnern, den Geheimen Räthen überein; für ſeine Bodenfrüchte
hatte er ja keinen erdrückenden fremden Wettbewerb zu fürchten, darum
wünſchte er Erleichterung der Conſumtion, vor Allem wohlfeile Maſchinen,
um die noch tief darniederliegende landwirthſchaftliche Technik zu ver-
beſſern. Der halbwahre, in vielen Fällen falſche Satz, daß der Conſu-
ment allein den ganzen Schutzzoll bezahlen müſſe, wurde noch allgemein
geglaubt, und Niemand fragte, warum denn die engliſchen Producenten
ſo gar ängſtlich vor jeder Erhöhung der deutſchen Garn- und Eiſenzölle
warnten. Vergeblich rechnete Fritz Harkort, der Volksmann Weſtphalens,
den Grundbeſitzern vor: der Pächter einer weſtphäliſchen Domäne von
1000 Morgen brauche im Jahre etwa 24 Ctr. Stabeiſen und 1 Ctr. Stahl,
er zahle mithin für jeden Morgen ſchlimmſten Falles 1 Sgr. Zoll und
könne folglich durch eine mäßige Erhöhung der Eiſenzölle nicht ſchwer ge-
troffen werden. Erſt in einer weit ſpäteren Zeit, als der Ackerbau ſich
ſelbſt durch die Getreideeinfuhr anderer Völker bedroht ſah, begannen die
Landwirthe zu erkennen, daß in der That alle Zweige der nationalen Er-
werbsthätigkeit, trotz der Reibungen daheim, dem Auslande gegenüber eine
lebendige Intereſſengemeinſchaft bilden, wie Liſt immer behauptet hatte.


*) Canitz, Bemerkungen zu Bunſen’s Bericht vom 31. Juli 1846.
**) Nach Kühne’s Denkwürdigkeiten.
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[454/0468] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. ſie Jedem leihen, der gut zahlt. Man gebe ihm Geld und zwar viel, ſo wird es ihm ziemlich gleichgiltig ſein, ob er Eiſenbahnen oder Kolonien in Oeſterreich oder Preußen zu verwalten habe.“ *) Kühne ſelbſt wahrte ſeine Amtswürde und antwortete in der Staatszeitung nur auf die ſach- lichen, nie auf die perſönlichen Angriffe des ſüddeutſchen Agitators. Um ſo heftiger äußerte er ſich mündlich über „die Abſurdität und Schlechtig- keit“ des Schwaben, über des tolle Treiben der „völlig verrückten Liſt’ſchen Sünder“. Er begriff nicht, daß Liſt’s Buch ganz neue, fruchtbare Ge- danken enthielt, er ſah darin nur die Wiederholung alter Irrthümer und fand es „räthſelhaft, wie dies ſo ganz hohle und verbrauchte Mercantil- ſyſtem wieder aufleben konnte.“ **) In Norddeutſchland ſtimmte wohl die große Mehrzahl dieſem verſtänd- nißloſen Urtheile zu. Hier wurde Liſt’s Lehre faſt allein von den Eiſen- werksbeſitzern Weſtphalens und einem Theile der ſchleſiſchen Fabrikanten willkommen geheißen. Die meiſten der altbefeſtigten Fabriken ſahen ſich durch die beſtehenden Zölle genugſam geſchützt; die Handelsplätze vollends und die ackerbauenden Provinzen verlangten nach Freihandel. Während im Süden die ſchutzzöllneriſche Geſinnung für freiſinnig galt, herrſchte im Nordoſten, zumal in Altpreußen, die genau entgegengeſetzte Meinung: wer ein feſter Liberaler war und die befreiende ſociale Geſetzgebung der Stein-Hardenbergiſchen Tage hochhielt, mußte auch den freien Handel fordern. Selbſt der Landadel ſtimmte in der Wirthſchaftspolitik mit ſeinen alten Gegnern, den Geheimen Räthen überein; für ſeine Bodenfrüchte hatte er ja keinen erdrückenden fremden Wettbewerb zu fürchten, darum wünſchte er Erleichterung der Conſumtion, vor Allem wohlfeile Maſchinen, um die noch tief darniederliegende landwirthſchaftliche Technik zu ver- beſſern. Der halbwahre, in vielen Fällen falſche Satz, daß der Conſu- ment allein den ganzen Schutzzoll bezahlen müſſe, wurde noch allgemein geglaubt, und Niemand fragte, warum denn die engliſchen Producenten ſo gar ängſtlich vor jeder Erhöhung der deutſchen Garn- und Eiſenzölle warnten. Vergeblich rechnete Fritz Harkort, der Volksmann Weſtphalens, den Grundbeſitzern vor: der Pächter einer weſtphäliſchen Domäne von 1000 Morgen brauche im Jahre etwa 24 Ctr. Stabeiſen und 1 Ctr. Stahl, er zahle mithin für jeden Morgen ſchlimmſten Falles 1 Sgr. Zoll und könne folglich durch eine mäßige Erhöhung der Eiſenzölle nicht ſchwer ge- troffen werden. Erſt in einer weit ſpäteren Zeit, als der Ackerbau ſich ſelbſt durch die Getreideeinfuhr anderer Völker bedroht ſah, begannen die Landwirthe zu erkennen, daß in der That alle Zweige der nationalen Er- werbsthätigkeit, trotz der Reibungen daheim, dem Auslande gegenüber eine lebendige Intereſſengemeinſchaft bilden, wie Liſt immer behauptet hatte. *) Canitz, Bemerkungen zu Bunſen’s Bericht vom 31. Juli 1846. **) Nach Kühne’s Denkwürdigkeiten.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 454. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/468>, abgerufen am 25.11.2024.