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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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W. Roscher. Das Zollvereinsblatt.
bildet für seine reiche Gelehrtenthätigkeit. Er wollte der Nationalökonomie
das historische Verständniß erwecken, das die Rechtswissenschaft den Werken
Savigny's, Eichhorn's, Niebuhr's verdankte. In einem kleinen Grundriß
für Vorlesungen (1843) zeichnete er zuerst die Umrisse seiner historischen
Methode; er faßte die Volkswirthschaft als eine Welt des Werdens auf
und suchte überall zu zeigen, daß die Theorie nur relative Wahrheiten
finden kann, daß dieselben Institutionen, die das jugendliche Volk erheben,
dem gereiften zur Fessel werden. Ein Gelehrter von ausgebreitetem Wissen,
ebenso bescheiden, gerecht, friedfertig, wie List trotzig, parteiisch, kampflustig
war, stimmte Roscher auch in dem Streite des Tages keineswegs mit dem
schwäbischen Agitator überein, da er den freihändlerischen Gedanken weit
näher stand. Gemeinsam war den Beiden nur der historische Sinn
und die Erkenntniß der sittlichen Mächte des wirthschaftlichen Lebens.
Während List's Buch einen leidenschaftlichen Parteikampf entzündete, machte
Roscher's Grundriß langsam, ganz in der Stille seinen Weg; aus den
Anregungen, die hier zuerst gegeben wurden, ging nach und nach eine
neue, realistisch-historische Auffassung der Volkswirthschaft hervor, und es
entstand im Laufe der Jahre eine deutsche nationalökonomische Schule,
die fest auf eigenen Füßen stehend sich dem Auslande bald überlegen
zeigte.

List säumte nicht, die Silberbarren seines "Nationalen Systems" in
kleine Münzen umzuprägen. Er gründete (1843) das Zollvereinsblatt,
und um das Banner dieser streitbaren Zeitschrift schaarte sich bald die
gesammte Schutzzoll-Partei des Südens, vornehmlich der junge Stand der
Fabrikanten und Techniker, der viele auf den neuen Gewerbschulen gut
gebildete, tüchtige und rührige Männer in seinen Reihen zählte. In
Baden drang die Bewegung tief in's Volk, weil dort die neuen Fabriken
meist durch Actiengesellschaften gegründet waren, viele Bauern und kleine
Bürger sich am Actienkaufe betheiligt hatten. Manche Forderungen der
Partei waren sachlich wohl begründet, doch unverkennbar wirkte auch die
kleinstädtische Weltanschauung mit. Preußens sociale Freiheit blieb den
Süddeutschen noch versagt, und wie sie gewohnt waren für Heirath und
Niederlassung stets die Genehmigung der Obrigkeit einzuholen, so erwar-
teten sie auch in der Handelspolitik alles Heil von oben. In Württem-
berg zeichnete sich der Eßlinger Fabrikant Deffner durch seinen Eifer aus,
in der badischen Kammer der feurige Redner Sander, am Rhein Berg-
rath Böcking zu Saarbrücken. Das mächtige Bankhaus Haber in Karls-
ruhe versorgte einen großen Theil der süddeutschen Zeitungen mit schutz-
zöllnerischen Correspondenzen, auch Cotta stellte die Allgemeine Zeitung
und die Deutsche Vierteljahrsschrift der Schutzzoll-Partei zur Verfügung.
Nicht lange, so galt es im Süden für ausgemacht, daß jeder Liberale
ein Schutzzöllner, jeder Freihändler ein Reaktionär sein müsse. Wieder
einmal zeigte sich, daß List wohl aufregen und beleben, doch nicht Maß

29*

W. Roſcher. Das Zollvereinsblatt.
bildet für ſeine reiche Gelehrtenthätigkeit. Er wollte der Nationalökonomie
das hiſtoriſche Verſtändniß erwecken, das die Rechtswiſſenſchaft den Werken
Savigny’s, Eichhorn’s, Niebuhr’s verdankte. In einem kleinen Grundriß
für Vorleſungen (1843) zeichnete er zuerſt die Umriſſe ſeiner hiſtoriſchen
Methode; er faßte die Volkswirthſchaft als eine Welt des Werdens auf
und ſuchte überall zu zeigen, daß die Theorie nur relative Wahrheiten
finden kann, daß dieſelben Inſtitutionen, die das jugendliche Volk erheben,
dem gereiften zur Feſſel werden. Ein Gelehrter von ausgebreitetem Wiſſen,
ebenſo beſcheiden, gerecht, friedfertig, wie Liſt trotzig, parteiiſch, kampfluſtig
war, ſtimmte Roſcher auch in dem Streite des Tages keineswegs mit dem
ſchwäbiſchen Agitator überein, da er den freihändleriſchen Gedanken weit
näher ſtand. Gemeinſam war den Beiden nur der hiſtoriſche Sinn
und die Erkenntniß der ſittlichen Mächte des wirthſchaftlichen Lebens.
Während Liſt’s Buch einen leidenſchaftlichen Parteikampf entzündete, machte
Roſcher’s Grundriß langſam, ganz in der Stille ſeinen Weg; aus den
Anregungen, die hier zuerſt gegeben wurden, ging nach und nach eine
neue, realiſtiſch-hiſtoriſche Auffaſſung der Volkswirthſchaft hervor, und es
entſtand im Laufe der Jahre eine deutſche nationalökonomiſche Schule,
die feſt auf eigenen Füßen ſtehend ſich dem Auslande bald überlegen
zeigte.

Liſt ſäumte nicht, die Silberbarren ſeines „Nationalen Syſtems“ in
kleine Münzen umzuprägen. Er gründete (1843) das Zollvereinsblatt,
und um das Banner dieſer ſtreitbaren Zeitſchrift ſchaarte ſich bald die
geſammte Schutzzoll-Partei des Südens, vornehmlich der junge Stand der
Fabrikanten und Techniker, der viele auf den neuen Gewerbſchulen gut
gebildete, tüchtige und rührige Männer in ſeinen Reihen zählte. In
Baden drang die Bewegung tief in’s Volk, weil dort die neuen Fabriken
meiſt durch Actiengeſellſchaften gegründet waren, viele Bauern und kleine
Bürger ſich am Actienkaufe betheiligt hatten. Manche Forderungen der
Partei waren ſachlich wohl begründet, doch unverkennbar wirkte auch die
kleinſtädtiſche Weltanſchauung mit. Preußens ſociale Freiheit blieb den
Süddeutſchen noch verſagt, und wie ſie gewohnt waren für Heirath und
Niederlaſſung ſtets die Genehmigung der Obrigkeit einzuholen, ſo erwar-
teten ſie auch in der Handelspolitik alles Heil von oben. In Württem-
berg zeichnete ſich der Eßlinger Fabrikant Deffner durch ſeinen Eifer aus,
in der badiſchen Kammer der feurige Redner Sander, am Rhein Berg-
rath Böcking zu Saarbrücken. Das mächtige Bankhaus Haber in Karls-
ruhe verſorgte einen großen Theil der ſüddeutſchen Zeitungen mit ſchutz-
zöllneriſchen Correſpondenzen, auch Cotta ſtellte die Allgemeine Zeitung
und die Deutſche Vierteljahrsſchrift der Schutzzoll-Partei zur Verfügung.
Nicht lange, ſo galt es im Süden für ausgemacht, daß jeder Liberale
ein Schutzzöllner, jeder Freihändler ein Reaktionär ſein müſſe. Wieder
einmal zeigte ſich, daß Liſt wohl aufregen und beleben, doch nicht Maß

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[451/0465] W. Roſcher. Das Zollvereinsblatt. bildet für ſeine reiche Gelehrtenthätigkeit. Er wollte der Nationalökonomie das hiſtoriſche Verſtändniß erwecken, das die Rechtswiſſenſchaft den Werken Savigny’s, Eichhorn’s, Niebuhr’s verdankte. In einem kleinen Grundriß für Vorleſungen (1843) zeichnete er zuerſt die Umriſſe ſeiner hiſtoriſchen Methode; er faßte die Volkswirthſchaft als eine Welt des Werdens auf und ſuchte überall zu zeigen, daß die Theorie nur relative Wahrheiten finden kann, daß dieſelben Inſtitutionen, die das jugendliche Volk erheben, dem gereiften zur Feſſel werden. Ein Gelehrter von ausgebreitetem Wiſſen, ebenſo beſcheiden, gerecht, friedfertig, wie Liſt trotzig, parteiiſch, kampfluſtig war, ſtimmte Roſcher auch in dem Streite des Tages keineswegs mit dem ſchwäbiſchen Agitator überein, da er den freihändleriſchen Gedanken weit näher ſtand. Gemeinſam war den Beiden nur der hiſtoriſche Sinn und die Erkenntniß der ſittlichen Mächte des wirthſchaftlichen Lebens. Während Liſt’s Buch einen leidenſchaftlichen Parteikampf entzündete, machte Roſcher’s Grundriß langſam, ganz in der Stille ſeinen Weg; aus den Anregungen, die hier zuerſt gegeben wurden, ging nach und nach eine neue, realiſtiſch-hiſtoriſche Auffaſſung der Volkswirthſchaft hervor, und es entſtand im Laufe der Jahre eine deutſche nationalökonomiſche Schule, die feſt auf eigenen Füßen ſtehend ſich dem Auslande bald überlegen zeigte. Liſt ſäumte nicht, die Silberbarren ſeines „Nationalen Syſtems“ in kleine Münzen umzuprägen. Er gründete (1843) das Zollvereinsblatt, und um das Banner dieſer ſtreitbaren Zeitſchrift ſchaarte ſich bald die geſammte Schutzzoll-Partei des Südens, vornehmlich der junge Stand der Fabrikanten und Techniker, der viele auf den neuen Gewerbſchulen gut gebildete, tüchtige und rührige Männer in ſeinen Reihen zählte. In Baden drang die Bewegung tief in’s Volk, weil dort die neuen Fabriken meiſt durch Actiengeſellſchaften gegründet waren, viele Bauern und kleine Bürger ſich am Actienkaufe betheiligt hatten. Manche Forderungen der Partei waren ſachlich wohl begründet, doch unverkennbar wirkte auch die kleinſtädtiſche Weltanſchauung mit. Preußens ſociale Freiheit blieb den Süddeutſchen noch verſagt, und wie ſie gewohnt waren für Heirath und Niederlaſſung ſtets die Genehmigung der Obrigkeit einzuholen, ſo erwar- teten ſie auch in der Handelspolitik alles Heil von oben. In Württem- berg zeichnete ſich der Eßlinger Fabrikant Deffner durch ſeinen Eifer aus, in der badiſchen Kammer der feurige Redner Sander, am Rhein Berg- rath Böcking zu Saarbrücken. Das mächtige Bankhaus Haber in Karls- ruhe verſorgte einen großen Theil der ſüddeutſchen Zeitungen mit ſchutz- zöllneriſchen Correſpondenzen, auch Cotta ſtellte die Allgemeine Zeitung und die Deutſche Vierteljahrsſchrift der Schutzzoll-Partei zur Verfügung. Nicht lange, ſo galt es im Süden für ausgemacht, daß jeder Liberale ein Schutzzöllner, jeder Freihändler ein Reaktionär ſein müſſe. Wieder einmal zeigte ſich, daß Liſt wohl aufregen und beleben, doch nicht Maß 29*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 451. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/465>, abgerufen am 22.11.2024.