V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
vertrag, der ihm den Anschluß an den Zollverein auf Jahre hinaus un- möglich machte. Großbritannien gewährte der hannöverschen Flagge einige Begünstigungen, auch für die indirekte Fahrt, und erlangte für seine Schiffe eine Ermäßigung des berüchtigten Stader Elbzolles, den die Han- noveraner soeben wieder, auf den Dresdener Elbschifffahrtsconferenzen von 1842, hartnäckig als einen Seezoll gegen ihre deutschen Landsleute be- hauptet hatten. Also blieb das deutsche Welfenkönigreich, auch nachdem es sich von der englischen Krone getrennt hatte, noch immer ein Brücken- kopf der britischen Handelspolitik auf dem Festlande. --
Den dürftigen Erfolg dieser Verhandlungen mit den Welfenhöfen empfand man in Berlin sehr peinlich; denn Preußens Ansehen im Zoll- vereine war ohnehin schon erschüttert durch einen wirthschaftlichen Partei- kampf, der 1841 durch List's Buch "das nationale System der politischen Oekonomie" eingeleitet wurde. Die einfache, damals noch viel verkannte Wahrheit, daß die Volkswirthschaftslehre eine historische Erfahrungswissen- schaft ist und folglich auch mit den praktischen Erfahrungen der Gegen- wart in beständiger Wechselwirkung steht, ließ sich grade in dem Deutsch- land dieser Tage mit Händen greifen. In allen anderen Wissenschaften hatten wir uns längst unsere eigene Bahn gebrochen; nur die National- ökonomie verharrte noch in einem seltsamen Anachronismus, sie folgte noch fast blindlings den Lehren des Auslands, weil unser Wohlstand noch so jung, selbst die Einheit des nationalen Marktes noch nicht ganz errungen war, große wirthschaftliche Parteien sich erst zu bilden begannen.
Die sensualistische Philosophie der Schotten war in Deutschland nie zu allgemeinem Ansehen gelangt und schon durch Kant wissenschaftlich über- wunden. Gleichwohl herrschte in der deutschen Volkswirthschaftslehre noch die Lehre Adam Smith's, die doch mit dem Sensualismus stand und fiel; sie war seitdem durch Ricardo und Say mit einseitiger Härte weiter- gebildet worden und durch Bastiat's lebendige populäre Schriften auch in weitere Kreise eingedrungen. Sie hatte einst, da es galt die alte feudale Gesellschaftsordnung zu zerstören, als eine zeitgemäße, befreiende Macht gewirkt; jetzt lebte sie auf den deutschen Kathedern nur noch fort als eine gedankenlose Tradition. Ganz nach der unlebendigen Methode des alten Naturrechts, die doch längst kein tüchtiger Jurist mehr gelten ließ, pflegte der Nationalökonom seine Sätze in logischer Folge abzuleiten aus der Abstraktion des billig kaufenden und theuer verkaufenden Einzel- menschen. Aus dem Kampfe der Selbstsucht dieser Einzelwesen, aus dem freien Spiele der socialen Kräfte sollte dann ganz von selbst die Har- monie aller Interessen, die gerechte und vernünftige Ordnung der Gesell- schaft hervorgehen; der thierische Trieb des Eigennutzes vollbrachte mithin
V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
vertrag, der ihm den Anſchluß an den Zollverein auf Jahre hinaus un- möglich machte. Großbritannien gewährte der hannöverſchen Flagge einige Begünſtigungen, auch für die indirekte Fahrt, und erlangte für ſeine Schiffe eine Ermäßigung des berüchtigten Stader Elbzolles, den die Han- noveraner ſoeben wieder, auf den Dresdener Elbſchifffahrtsconferenzen von 1842, hartnäckig als einen Seezoll gegen ihre deutſchen Landsleute be- hauptet hatten. Alſo blieb das deutſche Welfenkönigreich, auch nachdem es ſich von der engliſchen Krone getrennt hatte, noch immer ein Brücken- kopf der britiſchen Handelspolitik auf dem Feſtlande. —
Den dürftigen Erfolg dieſer Verhandlungen mit den Welfenhöfen empfand man in Berlin ſehr peinlich; denn Preußens Anſehen im Zoll- vereine war ohnehin ſchon erſchüttert durch einen wirthſchaftlichen Partei- kampf, der 1841 durch Liſt’s Buch „das nationale Syſtem der politiſchen Oekonomie“ eingeleitet wurde. Die einfache, damals noch viel verkannte Wahrheit, daß die Volkswirthſchaftslehre eine hiſtoriſche Erfahrungswiſſen- ſchaft iſt und folglich auch mit den praktiſchen Erfahrungen der Gegen- wart in beſtändiger Wechſelwirkung ſteht, ließ ſich grade in dem Deutſch- land dieſer Tage mit Händen greifen. In allen anderen Wiſſenſchaften hatten wir uns längſt unſere eigene Bahn gebrochen; nur die National- ökonomie verharrte noch in einem ſeltſamen Anachronismus, ſie folgte noch faſt blindlings den Lehren des Auslands, weil unſer Wohlſtand noch ſo jung, ſelbſt die Einheit des nationalen Marktes noch nicht ganz errungen war, große wirthſchaftliche Parteien ſich erſt zu bilden begannen.
Die ſenſualiſtiſche Philoſophie der Schotten war in Deutſchland nie zu allgemeinem Anſehen gelangt und ſchon durch Kant wiſſenſchaftlich über- wunden. Gleichwohl herrſchte in der deutſchen Volkswirthſchaftslehre noch die Lehre Adam Smith’s, die doch mit dem Senſualismus ſtand und fiel; ſie war ſeitdem durch Ricardo und Say mit einſeitiger Härte weiter- gebildet worden und durch Baſtiat’s lebendige populäre Schriften auch in weitere Kreiſe eingedrungen. Sie hatte einſt, da es galt die alte feudale Geſellſchaftsordnung zu zerſtören, als eine zeitgemäße, befreiende Macht gewirkt; jetzt lebte ſie auf den deutſchen Kathedern nur noch fort als eine gedankenloſe Tradition. Ganz nach der unlebendigen Methode des alten Naturrechts, die doch längſt kein tüchtiger Juriſt mehr gelten ließ, pflegte der Nationalökonom ſeine Sätze in logiſcher Folge abzuleiten aus der Abſtraktion des billig kaufenden und theuer verkaufenden Einzel- menſchen. Aus dem Kampfe der Selbſtſucht dieſer Einzelweſen, aus dem freien Spiele der ſocialen Kräfte ſollte dann ganz von ſelbſt die Har- monie aller Intereſſen, die gerechte und vernünftige Ordnung der Geſell- ſchaft hervorgehen; der thieriſche Trieb des Eigennutzes vollbrachte mithin
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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
vertrag, der ihm den Anſchluß an den Zollverein auf Jahre hinaus un-
möglich machte. Großbritannien gewährte der hannöverſchen Flagge einige
Begünſtigungen, auch für die indirekte Fahrt, und erlangte für ſeine
Schiffe eine Ermäßigung des berüchtigten Stader Elbzolles, den die Han-
noveraner ſoeben wieder, auf den Dresdener Elbſchifffahrtsconferenzen von
1842, hartnäckig als einen Seezoll gegen ihre deutſchen Landsleute be-
hauptet hatten. Alſo blieb das deutſche Welfenkönigreich, auch nachdem
es ſich von der engliſchen Krone getrennt hatte, noch immer ein Brücken-
kopf der britiſchen Handelspolitik auf dem Feſtlande. —
Den dürftigen Erfolg dieſer Verhandlungen mit den Welfenhöfen
empfand man in Berlin ſehr peinlich; denn Preußens Anſehen im Zoll-
vereine war ohnehin ſchon erſchüttert durch einen wirthſchaftlichen Partei-
kampf, der 1841 durch Liſt’s Buch „das nationale Syſtem der politiſchen
Oekonomie“ eingeleitet wurde. Die einfache, damals noch viel verkannte
Wahrheit, daß die Volkswirthſchaftslehre eine hiſtoriſche Erfahrungswiſſen-
ſchaft iſt und folglich auch mit den praktiſchen Erfahrungen der Gegen-
wart in beſtändiger Wechſelwirkung ſteht, ließ ſich grade in dem Deutſch-
land dieſer Tage mit Händen greifen. In allen anderen Wiſſenſchaften
hatten wir uns längſt unſere eigene Bahn gebrochen; nur die National-
ökonomie verharrte noch in einem ſeltſamen Anachronismus, ſie folgte noch
faſt blindlings den Lehren des Auslands, weil unſer Wohlſtand noch ſo
jung, ſelbſt die Einheit des nationalen Marktes noch nicht ganz errungen
war, große wirthſchaftliche Parteien ſich erſt zu bilden begannen.
Die ſenſualiſtiſche Philoſophie der Schotten war in Deutſchland nie zu
allgemeinem Anſehen gelangt und ſchon durch Kant wiſſenſchaftlich über-
wunden. Gleichwohl herrſchte in der deutſchen Volkswirthſchaftslehre
noch die Lehre Adam Smith’s, die doch mit dem Senſualismus ſtand und
fiel; ſie war ſeitdem durch Ricardo und Say mit einſeitiger Härte weiter-
gebildet worden und durch Baſtiat’s lebendige populäre Schriften auch
in weitere Kreiſe eingedrungen. Sie hatte einſt, da es galt die alte
feudale Geſellſchaftsordnung zu zerſtören, als eine zeitgemäße, befreiende
Macht gewirkt; jetzt lebte ſie auf den deutſchen Kathedern nur noch fort
als eine gedankenloſe Tradition. Ganz nach der unlebendigen Methode
des alten Naturrechts, die doch längſt kein tüchtiger Juriſt mehr gelten
ließ, pflegte der Nationalökonom ſeine Sätze in logiſcher Folge abzuleiten
aus der Abſtraktion des billig kaufenden und theuer verkaufenden Einzel-
menſchen. Aus dem Kampfe der Selbſtſucht dieſer Einzelweſen, aus dem
freien Spiele der ſocialen Kräfte ſollte dann ganz von ſelbſt die Har-
monie aller Intereſſen, die gerechte und vernünftige Ordnung der Geſell-
ſchaft hervorgehen; der thieriſche Trieb des Eigennutzes vollbrachte mithin
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 448. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/462>, abgerufen am 25.11.2024.
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