Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

Bild:
<< vorherige Seite
V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.

Von vornherein war der König darüber im Reinen, daß die land-
ständische Verfassung nicht in ihrem gegenwärtigen unentschiedenen Zu-
stande verbleiben durfte. Er ahnte, diese große Frage würde den eigent-
lichen Inhalt seiner ersten Regierungsjahre bilden, und bei einiger Ent-
schlossenheit schien ihre Lösung keineswegs unmöglich. Die Verheißungen
des alten Königs, wie planlos und unbedacht sie auch waren, enthielten
nichts, was die Macht der Krone in der gegenwärtigen Lage irgend be-
drohen konnte. Nach der Verordnung vom 22. Mai 1815 war der Mon-
arch verpflichtet, eine berathende, aus den Provinzialständen gewählte
Landesrepräsentation einzuberufen; die Art der Erwählung konnte er als
alleiniger Gesetzgeber frei bestimmen. Er war ferner verpflichtet, die
Grundsätze, nach denen Preußens Regierung bisher geführt worden war,
in einer schriftlichen Verfassungsurkunde auszusprechen, deren Form und
Inhalt ihm ebenfalls frei gestellt blieb. Endlich hatte der alte König
durch das Staatsschuldengesetz vom 17. Jan. 1820 versprochen, daß dem
künftigen Reichstage über die Staatsschulden jährlich Rechnung abgelegt,
neue Schulden nur mit seiner Genehmigung aufgenommen werden sollten.
Auch hiermit war streng genommen nur gesagt, daß die Reichsstände in
regelmäßiger Wiederkehr einberufen werden mußten; die alljährliche Rech-
nungsablegung konnte ja, wenn man sich mit ihnen verständigte, auch
vor einem Ausschusse des Reichstags stattfinden. Zum Ueberfluß besaß
der Monarch die unbestrittene Befugniß, die Gesetze seines Vorgängers,
sofern sie nicht die Rechte der Staatsgläubiger unmittelbar berührten,
durch neue Gesetze aufzuheben.

Hier zeigte sich aber, daß ein constitutioneller Fürst in vielen Fällen
mächtiger ist als ein unbeschränkter Herrscher. Die Zurücknahme eines
übereilten Versprechens, die im constitutionellen Staate, wenn der Reichs-
tag zustimmt, ohne jede Schwierigkeit erfolgt, mußte dem absoluten Könige
als eine Verletzung der Ehrfurcht gegen seinen Vater, fast als eine sitt-
liche Unmöglichkeit erscheinen. Friedrich Wilhelm fühlte sich in seinem
Gewissen an die alten Verheißungen gebunden, und doch sträubten sich
alle seine Neigungen und Doctrinen wider ihre wörtliche Ausführung.
Ihr Kernpunkt lag offenbar in der Einberufung eines regelmäßig wieder-
kehrenden Reichstags; trat dieser nur erst als eine stehende Institution
zusammen, in wie bescheidenen Formen immer, so mußte er sich unfehl-
bar weiter entwickeln. Durch die Bildung der Provinzialstände hatte einst
nicht eigentlich die Reaction, sondern der Particularismus gesiegt. Um
so nöthiger war es jetzt, nachdem die Provinzen in einem Vierteljahr-
hundert sich doch leidlich zusammengefunden hatten, dem Sondergeiste der
Landschaften ein starkes Gegengewicht zu geben, dem ganzen Volke endlich
ein gemeinsames Arbeitsfeld zu eröffnen, auf dem sich ein bewußtes Preu-
ßenthum, eine lebendige Staatsgesinnung bethätigen konnte.

Das war es was Preußens Nachbarn vornehmlich befürchteten. Nicht

V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.

Von vornherein war der König darüber im Reinen, daß die land-
ſtändiſche Verfaſſung nicht in ihrem gegenwärtigen unentſchiedenen Zu-
ſtande verbleiben durfte. Er ahnte, dieſe große Frage würde den eigent-
lichen Inhalt ſeiner erſten Regierungsjahre bilden, und bei einiger Ent-
ſchloſſenheit ſchien ihre Löſung keineswegs unmöglich. Die Verheißungen
des alten Königs, wie planlos und unbedacht ſie auch waren, enthielten
nichts, was die Macht der Krone in der gegenwärtigen Lage irgend be-
drohen konnte. Nach der Verordnung vom 22. Mai 1815 war der Mon-
arch verpflichtet, eine berathende, aus den Provinzialſtänden gewählte
Landesrepräſentation einzuberufen; die Art der Erwählung konnte er als
alleiniger Geſetzgeber frei beſtimmen. Er war ferner verpflichtet, die
Grundſätze, nach denen Preußens Regierung bisher geführt worden war,
in einer ſchriftlichen Verfaſſungsurkunde auszuſprechen, deren Form und
Inhalt ihm ebenfalls frei geſtellt blieb. Endlich hatte der alte König
durch das Staatsſchuldengeſetz vom 17. Jan. 1820 verſprochen, daß dem
künftigen Reichstage über die Staatsſchulden jährlich Rechnung abgelegt,
neue Schulden nur mit ſeiner Genehmigung aufgenommen werden ſollten.
Auch hiermit war ſtreng genommen nur geſagt, daß die Reichsſtände in
regelmäßiger Wiederkehr einberufen werden mußten; die alljährliche Rech-
nungsablegung konnte ja, wenn man ſich mit ihnen verſtändigte, auch
vor einem Ausſchuſſe des Reichstags ſtattfinden. Zum Ueberfluß beſaß
der Monarch die unbeſtrittene Befugniß, die Geſetze ſeines Vorgängers,
ſofern ſie nicht die Rechte der Staatsgläubiger unmittelbar berührten,
durch neue Geſetze aufzuheben.

Hier zeigte ſich aber, daß ein conſtitutioneller Fürſt in vielen Fällen
mächtiger iſt als ein unbeſchränkter Herrſcher. Die Zurücknahme eines
übereilten Verſprechens, die im conſtitutionellen Staate, wenn der Reichs-
tag zuſtimmt, ohne jede Schwierigkeit erfolgt, mußte dem abſoluten Könige
als eine Verletzung der Ehrfurcht gegen ſeinen Vater, faſt als eine ſitt-
liche Unmöglichkeit erſcheinen. Friedrich Wilhelm fühlte ſich in ſeinem
Gewiſſen an die alten Verheißungen gebunden, und doch ſträubten ſich
alle ſeine Neigungen und Doctrinen wider ihre wörtliche Ausführung.
Ihr Kernpunkt lag offenbar in der Einberufung eines regelmäßig wieder-
kehrenden Reichstags; trat dieſer nur erſt als eine ſtehende Inſtitution
zuſammen, in wie beſcheidenen Formen immer, ſo mußte er ſich unfehl-
bar weiter entwickeln. Durch die Bildung der Provinzialſtände hatte einſt
nicht eigentlich die Reaction, ſondern der Particularismus geſiegt. Um
ſo nöthiger war es jetzt, nachdem die Provinzen in einem Vierteljahr-
hundert ſich doch leidlich zuſammengefunden hatten, dem Sondergeiſte der
Landſchaften ein ſtarkes Gegengewicht zu geben, dem ganzen Volke endlich
ein gemeinſames Arbeitsfeld zu eröffnen, auf dem ſich ein bewußtes Preu-
ßenthum, eine lebendige Staatsgeſinnung bethätigen konnte.

Das war es was Preußens Nachbarn vornehmlich befürchteten. Nicht

<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <pb facs="#f0046" n="32"/>
          <fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> 1. Die frohen Tage der Erwartung.</fw><lb/>
          <p>Von vornherein war der König darüber im Reinen, daß die land-<lb/>
&#x017F;tändi&#x017F;che Verfa&#x017F;&#x017F;ung nicht in ihrem gegenwärtigen unent&#x017F;chiedenen Zu-<lb/>
&#x017F;tande verbleiben durfte. Er ahnte, die&#x017F;e große Frage würde den eigent-<lb/>
lichen Inhalt &#x017F;einer er&#x017F;ten Regierungsjahre bilden, und bei einiger Ent-<lb/>
&#x017F;chlo&#x017F;&#x017F;enheit &#x017F;chien ihre Lö&#x017F;ung keineswegs unmöglich. Die Verheißungen<lb/>
des alten Königs, wie planlos und unbedacht &#x017F;ie auch waren, enthielten<lb/>
nichts, was die Macht der Krone in der gegenwärtigen Lage irgend be-<lb/>
drohen konnte. Nach der Verordnung vom 22. Mai 1815 war der Mon-<lb/>
arch verpflichtet, eine berathende, aus den Provinzial&#x017F;tänden gewählte<lb/>
Landesreprä&#x017F;entation einzuberufen; die Art der Erwählung konnte er als<lb/>
alleiniger Ge&#x017F;etzgeber frei be&#x017F;timmen. Er war ferner verpflichtet, die<lb/>
Grund&#x017F;ätze, nach denen Preußens Regierung bisher geführt worden war,<lb/>
in einer &#x017F;chriftlichen Verfa&#x017F;&#x017F;ungsurkunde auszu&#x017F;prechen, deren Form und<lb/>
Inhalt ihm ebenfalls frei ge&#x017F;tellt blieb. Endlich hatte der alte König<lb/>
durch das Staats&#x017F;chuldenge&#x017F;etz vom 17. Jan. 1820 ver&#x017F;prochen, daß dem<lb/>
künftigen Reichstage über die Staats&#x017F;chulden jährlich Rechnung abgelegt,<lb/>
neue Schulden nur mit &#x017F;einer Genehmigung aufgenommen werden &#x017F;ollten.<lb/>
Auch hiermit war &#x017F;treng genommen nur ge&#x017F;agt, daß die Reichs&#x017F;tände in<lb/>
regelmäßiger Wiederkehr einberufen werden mußten; die alljährliche Rech-<lb/>
nungsablegung konnte ja, wenn man &#x017F;ich mit ihnen ver&#x017F;tändigte, auch<lb/>
vor einem Aus&#x017F;chu&#x017F;&#x017F;e des Reichstags &#x017F;tattfinden. Zum Ueberfluß be&#x017F;<lb/>
der Monarch die unbe&#x017F;trittene Befugniß, die Ge&#x017F;etze &#x017F;eines Vorgängers,<lb/>
&#x017F;ofern &#x017F;ie nicht die Rechte der Staatsgläubiger unmittelbar berührten,<lb/>
durch neue Ge&#x017F;etze aufzuheben.</p><lb/>
          <p>Hier zeigte &#x017F;ich aber, daß ein con&#x017F;titutioneller Für&#x017F;t in vielen Fällen<lb/>
mächtiger i&#x017F;t als ein unbe&#x017F;chränkter Herr&#x017F;cher. Die Zurücknahme eines<lb/>
übereilten Ver&#x017F;prechens, die im con&#x017F;titutionellen Staate, wenn der Reichs-<lb/>
tag zu&#x017F;timmt, ohne jede Schwierigkeit erfolgt, mußte dem ab&#x017F;oluten Könige<lb/>
als eine Verletzung der Ehrfurcht gegen &#x017F;einen Vater, fa&#x017F;t als eine &#x017F;itt-<lb/>
liche Unmöglichkeit er&#x017F;cheinen. Friedrich Wilhelm fühlte &#x017F;ich in &#x017F;einem<lb/>
Gewi&#x017F;&#x017F;en an die alten Verheißungen gebunden, und doch &#x017F;träubten &#x017F;ich<lb/>
alle &#x017F;eine Neigungen und Doctrinen wider ihre wörtliche Ausführung.<lb/>
Ihr Kernpunkt lag offenbar in der Einberufung eines regelmäßig wieder-<lb/>
kehrenden Reichstags; trat die&#x017F;er nur er&#x017F;t als eine &#x017F;tehende In&#x017F;titution<lb/>
zu&#x017F;ammen, in wie be&#x017F;cheidenen Formen immer, &#x017F;o mußte er &#x017F;ich unfehl-<lb/>
bar weiter entwickeln. Durch die Bildung der Provinzial&#x017F;tände hatte ein&#x017F;t<lb/>
nicht eigentlich die Reaction, &#x017F;ondern der Particularismus ge&#x017F;iegt. Um<lb/>
&#x017F;o nöthiger war es jetzt, nachdem die Provinzen in einem Vierteljahr-<lb/>
hundert &#x017F;ich doch leidlich zu&#x017F;ammengefunden hatten, dem Sondergei&#x017F;te der<lb/>
Land&#x017F;chaften ein &#x017F;tarkes Gegengewicht zu geben, dem ganzen Volke endlich<lb/>
ein gemein&#x017F;ames Arbeitsfeld zu eröffnen, auf dem &#x017F;ich ein bewußtes Preu-<lb/>
ßenthum, eine lebendige Staatsge&#x017F;innung bethätigen konnte.</p><lb/>
          <p>Das war es was Preußens Nachbarn vornehmlich befürchteten. Nicht<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[32/0046] V. 1. Die frohen Tage der Erwartung. Von vornherein war der König darüber im Reinen, daß die land- ſtändiſche Verfaſſung nicht in ihrem gegenwärtigen unentſchiedenen Zu- ſtande verbleiben durfte. Er ahnte, dieſe große Frage würde den eigent- lichen Inhalt ſeiner erſten Regierungsjahre bilden, und bei einiger Ent- ſchloſſenheit ſchien ihre Löſung keineswegs unmöglich. Die Verheißungen des alten Königs, wie planlos und unbedacht ſie auch waren, enthielten nichts, was die Macht der Krone in der gegenwärtigen Lage irgend be- drohen konnte. Nach der Verordnung vom 22. Mai 1815 war der Mon- arch verpflichtet, eine berathende, aus den Provinzialſtänden gewählte Landesrepräſentation einzuberufen; die Art der Erwählung konnte er als alleiniger Geſetzgeber frei beſtimmen. Er war ferner verpflichtet, die Grundſätze, nach denen Preußens Regierung bisher geführt worden war, in einer ſchriftlichen Verfaſſungsurkunde auszuſprechen, deren Form und Inhalt ihm ebenfalls frei geſtellt blieb. Endlich hatte der alte König durch das Staatsſchuldengeſetz vom 17. Jan. 1820 verſprochen, daß dem künftigen Reichstage über die Staatsſchulden jährlich Rechnung abgelegt, neue Schulden nur mit ſeiner Genehmigung aufgenommen werden ſollten. Auch hiermit war ſtreng genommen nur geſagt, daß die Reichsſtände in regelmäßiger Wiederkehr einberufen werden mußten; die alljährliche Rech- nungsablegung konnte ja, wenn man ſich mit ihnen verſtändigte, auch vor einem Ausſchuſſe des Reichstags ſtattfinden. Zum Ueberfluß beſaß der Monarch die unbeſtrittene Befugniß, die Geſetze ſeines Vorgängers, ſofern ſie nicht die Rechte der Staatsgläubiger unmittelbar berührten, durch neue Geſetze aufzuheben. Hier zeigte ſich aber, daß ein conſtitutioneller Fürſt in vielen Fällen mächtiger iſt als ein unbeſchränkter Herrſcher. Die Zurücknahme eines übereilten Verſprechens, die im conſtitutionellen Staate, wenn der Reichs- tag zuſtimmt, ohne jede Schwierigkeit erfolgt, mußte dem abſoluten Könige als eine Verletzung der Ehrfurcht gegen ſeinen Vater, faſt als eine ſitt- liche Unmöglichkeit erſcheinen. Friedrich Wilhelm fühlte ſich in ſeinem Gewiſſen an die alten Verheißungen gebunden, und doch ſträubten ſich alle ſeine Neigungen und Doctrinen wider ihre wörtliche Ausführung. Ihr Kernpunkt lag offenbar in der Einberufung eines regelmäßig wieder- kehrenden Reichstags; trat dieſer nur erſt als eine ſtehende Inſtitution zuſammen, in wie beſcheidenen Formen immer, ſo mußte er ſich unfehl- bar weiter entwickeln. Durch die Bildung der Provinzialſtände hatte einſt nicht eigentlich die Reaction, ſondern der Particularismus geſiegt. Um ſo nöthiger war es jetzt, nachdem die Provinzen in einem Vierteljahr- hundert ſich doch leidlich zuſammengefunden hatten, dem Sondergeiſte der Landſchaften ein ſtarkes Gegengewicht zu geben, dem ganzen Volke endlich ein gemeinſames Arbeitsfeld zu eröffnen, auf dem ſich ein bewußtes Preu- ßenthum, eine lebendige Staatsgeſinnung bethätigen konnte. Das war es was Preußens Nachbarn vornehmlich befürchteten. Nicht

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/46
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 32. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/46>, abgerufen am 18.12.2024.