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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthschaft.
Träumen seiner Todeskrankheit hat ihn das Mißgeschick der oranischen
Verwandten oft beschäftigt. Im Vertrauen auf die Herzensgüte seines
preußischen Vetters wagte nun der niederländische König eine That un-
erhörter Treulosigkeit; er hatte unterdessen einige Luxemburger von der
preußenfeindlichen Partei insgeheim zu Rathe gezogen und erklärte plötz-
lich, ohne einen Grund anzugeben, daß er den Vertrag nicht ratificiren
könne. Vielleicht stand dabei noch ein abenteuerlicher Plan im Hintergrunde.
Eben in diesen Septembertagen wurde in belgischen Garnisonen eine
orangistische Verschwörung entdeckt, an deren Spitze zwei Generale standen,
und man argwöhnte in Brüssel wie im Haag, daß der König geglaubt
hätte, jetzt sei die Zeit für eine Gegenrevolution gekommen.*) Genug, der
Oranier versagte seine Genehmigung einem Vertrage, den seine Bevoll-
mächtigten genau nach seinen eigenen Weisungen abgeschlossen hatten. Es
war nicht gradehin ein Bruch des Völkerrechts, aber eine so unehren-
hafte Verletzung des internationalen Anstandes, daß der alte Minister
des Auswärtigen, Verstolk van Soelen, sofort entrüstet seinen Abschied
nahm und mehrere andere erfahrene Diplomaten dem Monarchen erklärten,
unter solchen Umständen könnten sie das Auswärtige Amt nicht über-
nehmen.

Geschäftssachen unter Freunden geschäftlich nüchtern zu erledigen wider-
strebte dem weichen Gemüthe König Friedrich Wilhelms immer. In einem
brüderlichen Briefe hielt er "seinem lieben Wilhelm" die Thorheit und das
Unrecht der plötzlichen Sinnesänderung vor und schloß treuherzig: "In
Summa, die Nicht-Ratification wird uns sehr angenehm sein, aber sie
wird ein Unglück für Luxemburg sein und eine unerschöpfliche Quelle von
Katzenjammer (deboires) für Dich!" Diesen gemüthlichen Ton suchte
der Oranier schlau auszunutzen; er erwiderte "seinem lieben Fritz" am
15. Sept.: "ich sehe also mit wahrer Freude, daß Du mir nicht nur nicht
die Zunge herausstrecken wirst, sondern daß meine Nicht-Genehmigung
Dir sogar sehr angenehm sein wird, da sie Deinen Unterthanen Vortheil
bringt." Darauf versicherte er, die Luxemburger würden erst nach langer
Zeit zu Deutschen werden, und dann nur aus Interesse, wenn Deutsch-
land ihre Unabhängigkeit nicht störte, sondern beschützte.**) Gleich nachher
erschien schon der niederländische Bundesgesandte v. Scherff in Berlin
und erbat, daß Preußen und der Zollverein den Abfall König Wilhelm's
von dem geschlossenen Vertrage förmlich genehmigen möchten. Die durch-
weg belgisch gesinnten Zeitungen Luxemburgs frohlockten schon: die un-
natürliche Trennung der beiden Hälften des Landes würde jetzt endlich
aufhören.


*) Diese Frage ist noch nicht aufgeklärt. Selbst der immer gründlich unterrichtete
de Bosch Kemper wagt darüber nur Vermuthungen (Geschiedenis van Nederland
na 1830. IV.
56).
**) König Wilhelm II. an König Friedrich Wilhelm, 15. Sept. 1841.

V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft.
Träumen ſeiner Todeskrankheit hat ihn das Mißgeſchick der oraniſchen
Verwandten oft beſchäftigt. Im Vertrauen auf die Herzensgüte ſeines
preußiſchen Vetters wagte nun der niederländiſche König eine That un-
erhörter Treuloſigkeit; er hatte unterdeſſen einige Luxemburger von der
preußenfeindlichen Partei insgeheim zu Rathe gezogen und erklärte plötz-
lich, ohne einen Grund anzugeben, daß er den Vertrag nicht ratificiren
könne. Vielleicht ſtand dabei noch ein abenteuerlicher Plan im Hintergrunde.
Eben in dieſen Septembertagen wurde in belgiſchen Garniſonen eine
orangiſtiſche Verſchwörung entdeckt, an deren Spitze zwei Generale ſtanden,
und man argwöhnte in Brüſſel wie im Haag, daß der König geglaubt
hätte, jetzt ſei die Zeit für eine Gegenrevolution gekommen.*) Genug, der
Oranier verſagte ſeine Genehmigung einem Vertrage, den ſeine Bevoll-
mächtigten genau nach ſeinen eigenen Weiſungen abgeſchloſſen hatten. Es
war nicht gradehin ein Bruch des Völkerrechts, aber eine ſo unehren-
hafte Verletzung des internationalen Anſtandes, daß der alte Miniſter
des Auswärtigen, Verſtolk van Soelen, ſofort entrüſtet ſeinen Abſchied
nahm und mehrere andere erfahrene Diplomaten dem Monarchen erklärten,
unter ſolchen Umſtänden könnten ſie das Auswärtige Amt nicht über-
nehmen.

Geſchäftsſachen unter Freunden geſchäftlich nüchtern zu erledigen wider-
ſtrebte dem weichen Gemüthe König Friedrich Wilhelms immer. In einem
brüderlichen Briefe hielt er „ſeinem lieben Wilhelm“ die Thorheit und das
Unrecht der plötzlichen Sinnesänderung vor und ſchloß treuherzig: „In
Summa, die Nicht-Ratification wird uns ſehr angenehm ſein, aber ſie
wird ein Unglück für Luxemburg ſein und eine unerſchöpfliche Quelle von
Katzenjammer (déboires) für Dich!“ Dieſen gemüthlichen Ton ſuchte
der Oranier ſchlau auszunutzen; er erwiderte „ſeinem lieben Fritz“ am
15. Sept.: „ich ſehe alſo mit wahrer Freude, daß Du mir nicht nur nicht
die Zunge herausſtrecken wirſt, ſondern daß meine Nicht-Genehmigung
Dir ſogar ſehr angenehm ſein wird, da ſie Deinen Unterthanen Vortheil
bringt.“ Darauf verſicherte er, die Luxemburger würden erſt nach langer
Zeit zu Deutſchen werden, und dann nur aus Intereſſe, wenn Deutſch-
land ihre Unabhängigkeit nicht ſtörte, ſondern beſchützte.**) Gleich nachher
erſchien ſchon der niederländiſche Bundesgeſandte v. Scherff in Berlin
und erbat, daß Preußen und der Zollverein den Abfall König Wilhelm’s
von dem geſchloſſenen Vertrage förmlich genehmigen möchten. Die durch-
weg belgiſch geſinnten Zeitungen Luxemburgs frohlockten ſchon: die un-
natürliche Trennung der beiden Hälften des Landes würde jetzt endlich
aufhören.


*) Dieſe Frage iſt noch nicht aufgeklärt. Selbſt der immer gründlich unterrichtete
de Boſch Kemper wagt darüber nur Vermuthungen (Geschiedenis van Nederland
na 1830. IV.
56).
**) König Wilhelm II. an König Friedrich Wilhelm, 15. Sept. 1841.
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[438/0452] V. 6. Wachsthum und Siechthum der Volkswirthſchaft. Träumen ſeiner Todeskrankheit hat ihn das Mißgeſchick der oraniſchen Verwandten oft beſchäftigt. Im Vertrauen auf die Herzensgüte ſeines preußiſchen Vetters wagte nun der niederländiſche König eine That un- erhörter Treuloſigkeit; er hatte unterdeſſen einige Luxemburger von der preußenfeindlichen Partei insgeheim zu Rathe gezogen und erklärte plötz- lich, ohne einen Grund anzugeben, daß er den Vertrag nicht ratificiren könne. Vielleicht ſtand dabei noch ein abenteuerlicher Plan im Hintergrunde. Eben in dieſen Septembertagen wurde in belgiſchen Garniſonen eine orangiſtiſche Verſchwörung entdeckt, an deren Spitze zwei Generale ſtanden, und man argwöhnte in Brüſſel wie im Haag, daß der König geglaubt hätte, jetzt ſei die Zeit für eine Gegenrevolution gekommen. *) Genug, der Oranier verſagte ſeine Genehmigung einem Vertrage, den ſeine Bevoll- mächtigten genau nach ſeinen eigenen Weiſungen abgeſchloſſen hatten. Es war nicht gradehin ein Bruch des Völkerrechts, aber eine ſo unehren- hafte Verletzung des internationalen Anſtandes, daß der alte Miniſter des Auswärtigen, Verſtolk van Soelen, ſofort entrüſtet ſeinen Abſchied nahm und mehrere andere erfahrene Diplomaten dem Monarchen erklärten, unter ſolchen Umſtänden könnten ſie das Auswärtige Amt nicht über- nehmen. Geſchäftsſachen unter Freunden geſchäftlich nüchtern zu erledigen wider- ſtrebte dem weichen Gemüthe König Friedrich Wilhelms immer. In einem brüderlichen Briefe hielt er „ſeinem lieben Wilhelm“ die Thorheit und das Unrecht der plötzlichen Sinnesänderung vor und ſchloß treuherzig: „In Summa, die Nicht-Ratification wird uns ſehr angenehm ſein, aber ſie wird ein Unglück für Luxemburg ſein und eine unerſchöpfliche Quelle von Katzenjammer (déboires) für Dich!“ Dieſen gemüthlichen Ton ſuchte der Oranier ſchlau auszunutzen; er erwiderte „ſeinem lieben Fritz“ am 15. Sept.: „ich ſehe alſo mit wahrer Freude, daß Du mir nicht nur nicht die Zunge herausſtrecken wirſt, ſondern daß meine Nicht-Genehmigung Dir ſogar ſehr angenehm ſein wird, da ſie Deinen Unterthanen Vortheil bringt.“ Darauf verſicherte er, die Luxemburger würden erſt nach langer Zeit zu Deutſchen werden, und dann nur aus Intereſſe, wenn Deutſch- land ihre Unabhängigkeit nicht ſtörte, ſondern beſchützte. **) Gleich nachher erſchien ſchon der niederländiſche Bundesgeſandte v. Scherff in Berlin und erbat, daß Preußen und der Zollverein den Abfall König Wilhelm’s von dem geſchloſſenen Vertrage förmlich genehmigen möchten. Die durch- weg belgiſch geſinnten Zeitungen Luxemburgs frohlockten ſchon: die un- natürliche Trennung der beiden Hälften des Landes würde jetzt endlich aufhören. *) Dieſe Frage iſt noch nicht aufgeklärt. Selbſt der immer gründlich unterrichtete de Boſch Kemper wagt darüber nur Vermuthungen (Geschiedenis van Nederland na 1830. IV. 56). **) König Wilhelm II. an König Friedrich Wilhelm, 15. Sept. 1841.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 438. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/452>, abgerufen am 22.11.2024.