Drange nach allseitiger Bildung, der das alte Jahrhundert beseelt hatte, und von den Gefühlen einer milden Humanität, deren liebenswürdigen Selbsttäuschungen die neue Zeit schon zu entwachsen begann. Die hand- festen jungen Historiker konnten dem freundlichen Greise doch unmöglich beistimmen, wenn er die Rousseau'sche Behauptung aufstellte: "die Natur ist das Reich der Freiheit" -- oder wenn er aus der scharfsinnig erwie- senen Einheit des Menschengeschlechts sanft den Schluß zog: "es giebt bildsamere, höher gebildete, durch geistige Cultur veredelte, aber keine edleren Volksstämme; alle sind gleichmäßig zur Freiheit bestimmt." Und doch war dies Buch, das so lebhaft an die Zeiten Herder's und Goethe's gemahnte, zugleich ein ganz modernes Werk, eine tief durchdachte, um- fassende Encyclopädie Alles dessen, was die empirische Naturerkenntniß bis- her erforscht hatte. Begeisterte Verehrer nannten den Kosmos das hohe Lied der neuen Wissenschaft und sprachen kurzab von dem Zeitalter Alexander Humboldt's. Die vereinzelten Stimmen besorgter Theologen, die vor dem unheiligen Geiste des Buches warnten, beirrten selbst den frommen König nicht und verstummten bald vor der allgemeinen Bewunderung. Das gesammte Europa fühlte, daß ein solches Buch nur einmal, und nur von einem Manne gewagt werden konnte.
Doch derweil Humboldt schrieb, verwandelte sich die Welt bereits wieder, und das so lange geplante Werk stand, als es endlich erschien, schon nicht mehr ganz im Einklange mit dem Geiste der Zeit. Die jungen Naturforscher raunten einander schon oft abschätzige, ungerechte Urtheile über den Kosmos zu, zumal die Mathematiker, die dem Alten nicht verziehen, daß er für ihre Wissenschaft so wenig Sinn zeigte. Diese jugendlichen Stürmer und Dränger fragten nichts nach Beschreibungen noch nach historischen Rückblicken; sie verlangten Thaten, Entdeckungen, Fünde, immer neue Fünde. Und wahrlich an großen Fünden war die Zeit nicht arm. Im Jahre 1840 ging aus dem kleinen Gießener Laboratorium eine Ent- deckung hervor, welche die Landwirthschaft aller Culturvölker umgestalten sollte, und ihr Urheber war niemals hinter einem Pfluge dahergegangen. Liebig begründete die Lehre vom organischen Stoffwechsel und wendete sie an auf den Ackerbau; er wies nach, welche Stoffe die wachsende Pflanze der Luft entnimmt, welche dem Boden, und zeigte, daß es möglich sein müsse, durch natürlichen oder künstlichen Dünger dem Boden die entzogenen Stoffe vollständig zurückzugeben. Wie furchtbar hatte einst der Raubbau der alten Völker die schönsten Länder der Erde verwüstet; jetzt eröffnete sich die tröstliche Aussicht, daß die Bodenkraft der modernen Culturländer bei rationellem Ackerbau allzeit unerschöpflich bleiben würde. Nach lang- jährigen heißen Kämpfen errang die Lehre vom Kreislauf des Lebens einen vollständigen Sieg. Stöckhardt's chemische Feldpredigten und andere popu- läre Schriften verbreiteten sie in weiten Kreisen; der künstliche Dünger, den noch der alte Thaer mit Mißtrauen betrachtet hatte, wurde den deut-
Liebig’s Agriculturchemie.
Drange nach allſeitiger Bildung, der das alte Jahrhundert beſeelt hatte, und von den Gefühlen einer milden Humanität, deren liebenswürdigen Selbſttäuſchungen die neue Zeit ſchon zu entwachſen begann. Die hand- feſten jungen Hiſtoriker konnten dem freundlichen Greiſe doch unmöglich beiſtimmen, wenn er die Rouſſeau’ſche Behauptung aufſtellte: „die Natur iſt das Reich der Freiheit“ — oder wenn er aus der ſcharfſinnig erwie- ſenen Einheit des Menſchengeſchlechts ſanft den Schluß zog: „es giebt bildſamere, höher gebildete, durch geiſtige Cultur veredelte, aber keine edleren Volksſtämme; alle ſind gleichmäßig zur Freiheit beſtimmt.“ Und doch war dies Buch, das ſo lebhaft an die Zeiten Herder’s und Goethe’s gemahnte, zugleich ein ganz modernes Werk, eine tief durchdachte, um- faſſende Encyclopädie Alles deſſen, was die empiriſche Naturerkenntniß bis- her erforſcht hatte. Begeiſterte Verehrer nannten den Kosmos das hohe Lied der neuen Wiſſenſchaft und ſprachen kurzab von dem Zeitalter Alexander Humboldt’s. Die vereinzelten Stimmen beſorgter Theologen, die vor dem unheiligen Geiſte des Buches warnten, beirrten ſelbſt den frommen König nicht und verſtummten bald vor der allgemeinen Bewunderung. Das geſammte Europa fühlte, daß ein ſolches Buch nur einmal, und nur von einem Manne gewagt werden konnte.
Doch derweil Humboldt ſchrieb, verwandelte ſich die Welt bereits wieder, und das ſo lange geplante Werk ſtand, als es endlich erſchien, ſchon nicht mehr ganz im Einklange mit dem Geiſte der Zeit. Die jungen Naturforſcher raunten einander ſchon oft abſchätzige, ungerechte Urtheile über den Kosmos zu, zumal die Mathematiker, die dem Alten nicht verziehen, daß er für ihre Wiſſenſchaft ſo wenig Sinn zeigte. Dieſe jugendlichen Stürmer und Dränger fragten nichts nach Beſchreibungen noch nach hiſtoriſchen Rückblicken; ſie verlangten Thaten, Entdeckungen, Fünde, immer neue Fünde. Und wahrlich an großen Fünden war die Zeit nicht arm. Im Jahre 1840 ging aus dem kleinen Gießener Laboratorium eine Ent- deckung hervor, welche die Landwirthſchaft aller Culturvölker umgeſtalten ſollte, und ihr Urheber war niemals hinter einem Pfluge dahergegangen. Liebig begründete die Lehre vom organiſchen Stoffwechſel und wendete ſie an auf den Ackerbau; er wies nach, welche Stoffe die wachſende Pflanze der Luft entnimmt, welche dem Boden, und zeigte, daß es möglich ſein müſſe, durch natürlichen oder künſtlichen Dünger dem Boden die entzogenen Stoffe vollſtändig zurückzugeben. Wie furchtbar hatte einſt der Raubbau der alten Völker die ſchönſten Länder der Erde verwüſtet; jetzt eröffnete ſich die tröſtliche Ausſicht, daß die Bodenkraft der modernen Culturländer bei rationellem Ackerbau allzeit unerſchöpflich bleiben würde. Nach lang- jährigen heißen Kämpfen errang die Lehre vom Kreislauf des Lebens einen vollſtändigen Sieg. Stöckhardt’s chemiſche Feldpredigten und andere popu- läre Schriften verbreiteten ſie in weiten Kreiſen; der künſtliche Dünger, den noch der alte Thaer mit Mißtrauen betrachtet hatte, wurde den deut-
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Liebig’s Agriculturchemie.
Drange nach allſeitiger Bildung, der das alte Jahrhundert beſeelt hatte,
und von den Gefühlen einer milden Humanität, deren liebenswürdigen
Selbſttäuſchungen die neue Zeit ſchon zu entwachſen begann. Die hand-
feſten jungen Hiſtoriker konnten dem freundlichen Greiſe doch unmöglich
beiſtimmen, wenn er die Rouſſeau’ſche Behauptung aufſtellte: „die Natur
iſt das Reich der Freiheit“ — oder wenn er aus der ſcharfſinnig erwie-
ſenen Einheit des Menſchengeſchlechts ſanft den Schluß zog: „es giebt
bildſamere, höher gebildete, durch geiſtige Cultur veredelte, aber keine
edleren Volksſtämme; alle ſind gleichmäßig zur Freiheit beſtimmt.“ Und
doch war dies Buch, das ſo lebhaft an die Zeiten Herder’s und Goethe’s
gemahnte, zugleich ein ganz modernes Werk, eine tief durchdachte, um-
faſſende Encyclopädie Alles deſſen, was die empiriſche Naturerkenntniß bis-
her erforſcht hatte. Begeiſterte Verehrer nannten den Kosmos das hohe Lied
der neuen Wiſſenſchaft und ſprachen kurzab von dem Zeitalter Alexander
Humboldt’s. Die vereinzelten Stimmen beſorgter Theologen, die vor dem
unheiligen Geiſte des Buches warnten, beirrten ſelbſt den frommen König
nicht und verſtummten bald vor der allgemeinen Bewunderung. Das
geſammte Europa fühlte, daß ein ſolches Buch nur einmal, und nur von
einem Manne gewagt werden konnte.
Doch derweil Humboldt ſchrieb, verwandelte ſich die Welt bereits
wieder, und das ſo lange geplante Werk ſtand, als es endlich erſchien,
ſchon nicht mehr ganz im Einklange mit dem Geiſte der Zeit. Die jungen
Naturforſcher raunten einander ſchon oft abſchätzige, ungerechte Urtheile über
den Kosmos zu, zumal die Mathematiker, die dem Alten nicht verziehen,
daß er für ihre Wiſſenſchaft ſo wenig Sinn zeigte. Dieſe jugendlichen
Stürmer und Dränger fragten nichts nach Beſchreibungen noch nach
hiſtoriſchen Rückblicken; ſie verlangten Thaten, Entdeckungen, Fünde, immer
neue Fünde. Und wahrlich an großen Fünden war die Zeit nicht arm.
Im Jahre 1840 ging aus dem kleinen Gießener Laboratorium eine Ent-
deckung hervor, welche die Landwirthſchaft aller Culturvölker umgeſtalten
ſollte, und ihr Urheber war niemals hinter einem Pfluge dahergegangen.
Liebig begründete die Lehre vom organiſchen Stoffwechſel und wendete ſie
an auf den Ackerbau; er wies nach, welche Stoffe die wachſende Pflanze
der Luft entnimmt, welche dem Boden, und zeigte, daß es möglich ſein
müſſe, durch natürlichen oder künſtlichen Dünger dem Boden die entzogenen
Stoffe vollſtändig zurückzugeben. Wie furchtbar hatte einſt der Raubbau
der alten Völker die ſchönſten Länder der Erde verwüſtet; jetzt eröffnete
ſich die tröſtliche Ausſicht, daß die Bodenkraft der modernen Culturländer
bei rationellem Ackerbau allzeit unerſchöpflich bleiben würde. Nach lang-
jährigen heißen Kämpfen errang die Lehre vom Kreislauf des Lebens einen
vollſtändigen Sieg. Stöckhardt’s chemiſche Feldpredigten und andere popu-
läre Schriften verbreiteten ſie in weiten Kreiſen; der künſtliche Dünger,
den noch der alte Thaer mit Mißtrauen betrachtet hatte, wurde den deut-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 429. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/443>, abgerufen am 23.07.2024.
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