dann regt sich überall die Scheelsucht gemeiner Seelen. In Völkern von altbefestigtem Stolze wird solcher Kleinsinn gebändigt durch den nationalen Instinkt, der sich den Einen doch nicht rauben lassen will. In Deutschland bestand diese Schranke des Neides nicht. Mit philosophischem Selbstge- fühle blickten die Kritiker der Deutschen Jahrbücher auf Ranke's "Halb- gedanken" hernieder und belehrten ihn herablassend über historische That- sachen, deren Dasein sie selber erst aus seinem Werke erfahren hatten. Auch reichgebildete Männer konnten den liberalen Parteihaß nicht über- winden; in den Kreisen Humboldt's und Varnhagen's stellte man F. v. Raumer, ja sogar den treufleißigen, harmlosen Sammler Preuß weit über den Verfasser der Reformationsgeschichte.
Die abgünstigen Urtheile äußerten sich noch dreister, als darauf die Neun Bücher preußischer Geschichte erschienen. Nachdem Stenzel, der gründ- liche Kenner deutsch-slavischen Grenzerlebens, zuerst versucht hatte, die Ge- schichte des preußischen Staates von den ältesten Zeiten an gemeinverständ- lich, im Geiste des gemäßigten Liberalismus darzustellen, wagte sich Ranke an einen ihrer bedeutsamsten Abschnitte, an die Zeiten, da das absolute Königthum den Staat erst im Innern neu gestaltete, dann durch die beiden ersten schlesischen Kriege zur Großmacht emporhob, und wieder erschloß er dem historischen Urtheil einen neuen Gesichtskreis. Zur Verwunderung seines königlichen Gönners bewies er zuerst, daß Friedrich Wilhelm I. der schöpferische Organisator unserer Verwaltung war, und sagte schon voraus, welch ein Schatz politischer Belehrung noch zu heben sei, wenn dereinst die Geschichte der preußischen Verwaltung im Zusammenhange, auf Grund umfassender Aktenforschung geschildert würde. Dies Urtheil berührte sich zwar mit der Ansicht Schön's, der dem Wiederhersteller Litthauens immer dankbare Verehrung bewahrte; die liberale Durchschnittsmeinung jedoch ließ sich das altüberlieferte Zerrbild des rohen, bildungslosen "Natur- menschen" Friedrich Wilhelm so schnell nicht nehmen. Ohnehin zeigte die nach constitutionellen Formen drängende Zeit wenig Sinn für die großen Tage königlicher Machtvollkommenheit. Das Buch erwärmte Nie- mand; die elegante, kühl diplomatische Erzählung, die über Friedrich's I. auswärtige Politik und andere schwache Stellen unserer Geschichte leicht hinwegglitt, stand in auffälligem Gegensatze zu der grellen Lebenswahrheit der Menzel'schen Zeichnungen. So ward denn dies Werk anfangs sehr undankbar aufgenommen; an ihm bewährte sich noch mehr als an den meisten anderen Schriften Ranke's, daß seine neuen Ideen immer erst einer Reihe von Jahren bedurften bis sie von der Nation ganz verstan- den wurden.
Ranke's friedfertigen Geist wähnte man mit spöttischer Geringschätzung abfertigen zu können. Den überschwänglichen Haß der liberalen öffentlichen Meinung aber bekam Stahl zu empfinden, der tapfere Staatsrechtslehrer der strengconservativen Richtung, der einzige große politische Kopf unter allen
V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
dann regt ſich überall die Scheelſucht gemeiner Seelen. In Völkern von altbefeſtigtem Stolze wird ſolcher Kleinſinn gebändigt durch den nationalen Inſtinkt, der ſich den Einen doch nicht rauben laſſen will. In Deutſchland beſtand dieſe Schranke des Neides nicht. Mit philoſophiſchem Selbſtge- fühle blickten die Kritiker der Deutſchen Jahrbücher auf Ranke’s „Halb- gedanken“ hernieder und belehrten ihn herablaſſend über hiſtoriſche That- ſachen, deren Daſein ſie ſelber erſt aus ſeinem Werke erfahren hatten. Auch reichgebildete Männer konnten den liberalen Parteihaß nicht über- winden; in den Kreiſen Humboldt’s und Varnhagen’s ſtellte man F. v. Raumer, ja ſogar den treufleißigen, harmloſen Sammler Preuß weit über den Verfaſſer der Reformationsgeſchichte.
Die abgünſtigen Urtheile äußerten ſich noch dreiſter, als darauf die Neun Bücher preußiſcher Geſchichte erſchienen. Nachdem Stenzel, der gründ- liche Kenner deutſch-ſlaviſchen Grenzerlebens, zuerſt verſucht hatte, die Ge- ſchichte des preußiſchen Staates von den älteſten Zeiten an gemeinverſtänd- lich, im Geiſte des gemäßigten Liberalismus darzuſtellen, wagte ſich Ranke an einen ihrer bedeutſamſten Abſchnitte, an die Zeiten, da das abſolute Königthum den Staat erſt im Innern neu geſtaltete, dann durch die beiden erſten ſchleſiſchen Kriege zur Großmacht emporhob, und wieder erſchloß er dem hiſtoriſchen Urtheil einen neuen Geſichtskreis. Zur Verwunderung ſeines königlichen Gönners bewies er zuerſt, daß Friedrich Wilhelm I. der ſchöpferiſche Organiſator unſerer Verwaltung war, und ſagte ſchon voraus, welch ein Schatz politiſcher Belehrung noch zu heben ſei, wenn dereinſt die Geſchichte der preußiſchen Verwaltung im Zuſammenhange, auf Grund umfaſſender Aktenforſchung geſchildert würde. Dies Urtheil berührte ſich zwar mit der Anſicht Schön’s, der dem Wiederherſteller Litthauens immer dankbare Verehrung bewahrte; die liberale Durchſchnittsmeinung jedoch ließ ſich das altüberlieferte Zerrbild des rohen, bildungsloſen „Natur- menſchen“ Friedrich Wilhelm ſo ſchnell nicht nehmen. Ohnehin zeigte die nach conſtitutionellen Formen drängende Zeit wenig Sinn für die großen Tage königlicher Machtvollkommenheit. Das Buch erwärmte Nie- mand; die elegante, kühl diplomatiſche Erzählung, die über Friedrich’s I. auswärtige Politik und andere ſchwache Stellen unſerer Geſchichte leicht hinwegglitt, ſtand in auffälligem Gegenſatze zu der grellen Lebenswahrheit der Menzel’ſchen Zeichnungen. So ward denn dies Werk anfangs ſehr undankbar aufgenommen; an ihm bewährte ſich noch mehr als an den meiſten anderen Schriften Ranke’s, daß ſeine neuen Ideen immer erſt einer Reihe von Jahren bedurften bis ſie von der Nation ganz verſtan- den wurden.
Ranke’s friedfertigen Geiſt wähnte man mit ſpöttiſcher Geringſchätzung abfertigen zu können. Den überſchwänglichen Haß der liberalen öffentlichen Meinung aber bekam Stahl zu empfinden, der tapfere Staatsrechtslehrer der ſtrengconſervativen Richtung, der einzige große politiſche Kopf unter allen
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Inſtinkt, der ſich den Einen doch nicht rauben laſſen will. In Deutſchland
beſtand dieſe Schranke des Neides nicht. Mit philoſophiſchem Selbſtge-
fühle blickten die Kritiker der Deutſchen Jahrbücher auf Ranke’s „Halb-
gedanken“ hernieder und belehrten ihn herablaſſend über hiſtoriſche That-
ſachen, deren Daſein ſie ſelber erſt aus ſeinem Werke erfahren hatten.
Auch reichgebildete Männer konnten den liberalen Parteihaß nicht über-
winden; in den Kreiſen Humboldt’s und Varnhagen’s ſtellte man F. v.
Raumer, ja ſogar den treufleißigen, harmloſen Sammler Preuß weit
über den Verfaſſer der Reformationsgeſchichte.
Die abgünſtigen Urtheile äußerten ſich noch dreiſter, als darauf die
Neun Bücher preußiſcher Geſchichte erſchienen. Nachdem Stenzel, der gründ-
liche Kenner deutſch-ſlaviſchen Grenzerlebens, zuerſt verſucht hatte, die Ge-
ſchichte des preußiſchen Staates von den älteſten Zeiten an gemeinverſtänd-
lich, im Geiſte des gemäßigten Liberalismus darzuſtellen, wagte ſich Ranke
an einen ihrer bedeutſamſten Abſchnitte, an die Zeiten, da das abſolute
Königthum den Staat erſt im Innern neu geſtaltete, dann durch die beiden
erſten ſchleſiſchen Kriege zur Großmacht emporhob, und wieder erſchloß er
dem hiſtoriſchen Urtheil einen neuen Geſichtskreis. Zur Verwunderung
ſeines königlichen Gönners bewies er zuerſt, daß Friedrich Wilhelm I. der
ſchöpferiſche Organiſator unſerer Verwaltung war, und ſagte ſchon voraus,
welch ein Schatz politiſcher Belehrung noch zu heben ſei, wenn dereinſt
die Geſchichte der preußiſchen Verwaltung im Zuſammenhange, auf Grund
umfaſſender Aktenforſchung geſchildert würde. Dies Urtheil berührte ſich
zwar mit der Anſicht Schön’s, der dem Wiederherſteller Litthauens immer
dankbare Verehrung bewahrte; die liberale Durchſchnittsmeinung jedoch
ließ ſich das altüberlieferte Zerrbild des rohen, bildungsloſen „Natur-
menſchen“ Friedrich Wilhelm ſo ſchnell nicht nehmen. Ohnehin zeigte
die nach conſtitutionellen Formen drängende Zeit wenig Sinn für die
großen Tage königlicher Machtvollkommenheit. Das Buch erwärmte Nie-
mand; die elegante, kühl diplomatiſche Erzählung, die über Friedrich’s I.
auswärtige Politik und andere ſchwache Stellen unſerer Geſchichte leicht
hinwegglitt, ſtand in auffälligem Gegenſatze zu der grellen Lebenswahrheit
der Menzel’ſchen Zeichnungen. So ward denn dies Werk anfangs ſehr
undankbar aufgenommen; an ihm bewährte ſich noch mehr als an den
meiſten anderen Schriften Ranke’s, daß ſeine neuen Ideen immer erſt
einer Reihe von Jahren bedurften bis ſie von der Nation ganz verſtan-
den wurden.
Ranke’s friedfertigen Geiſt wähnte man mit ſpöttiſcher Geringſchätzung
abfertigen zu können. Den überſchwänglichen Haß der liberalen öffentlichen
Meinung aber bekam Stahl zu empfinden, der tapfere Staatsrechtslehrer
der ſtrengconſervativen Richtung, der einzige große politiſche Kopf unter allen
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 414. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/428>, abgerufen am 22.11.2024.
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