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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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V. 5. Realismus in Kunst und Wissenschaft.
Verkehre jedem ernstlich gebildeten deutschen Maler in Fleisch und Blut
gedrungen sein mußte und nunmehr eine ganz selbständige nordische Kunst
möglich war.

Unterdessen bewies ein bescheidener, lange kaum beachteter Meister,
daß auch in dieser bildungsstolzen Zeit die volksthümliche Kunst mit ein-
fachen Mitteln große Erfolge erringen konnte. Ludwig Richter war in
dem stillvergnügten Philisterthum einer armen Vorstadt Dresdens auf-
gewachsen, in einer Welt von kleinbürgerlichen Originalen; die engen Ver-
hältnisse bedrückten den kindlich frommen, genügsamen Jüngling wenig; war
doch die Natur so reich und mild im heiteren Thale der Elbe, und wie
wonnig ließ es sich träumen unter den Zweigen des alten Birnbaums im
Garten, vor den üppigen Rosenbeeten. Nachher zu Rom schloß er Freund-
schaft mit Koch und seinem Landsmanne Schnorr und versuchte sich in
dieser strengen Schule an dem hohen Stile historischer Landschaften;
als er aber dort einmal gedrängt wurde, rasch aus dem Kopfe ein Bild
zu entwerfen, da zeichnete er unwillkürlich eine Schaar sächsischer Land-
leute, die mit ihren Kindern am Sonntag durchs hohe Korn zur Kirche
zogen. Es war die Stimme des Herzens, die Ahnung seines Lebens-
berufes.

Als er dann wieder daheim im bescheidenen glücklichen Hause saß,
da fühlte er bald, daß ihm das schlichte Bürgerkind, die deutsche Land-
schaft doch viel traulicher zum Gemüthe redete als die stolze Königs-
tochter des Südens, und er begriff, warum der Wälsche im Walde auf
dem Bauche liegt, der Deutsche auf dem Rücken. Die Heimath mit ihrem
Kleinleben ward ihm immer lieber, und er begann nunmehr für den
Holzschnitt zu zeichnen -- eine echt deutsche Kunstweise, die einst in Dürer's
Tagen weit tiefer als die Malerei auf unser Volk eingewirkt hatte, dann
lange ganz vergessen und endlich in England zuerst wiederbelebt, neuer-
dings auch in Deutschland wieder tüchtige Vertreter fand. Naiv, wie er
immer blieb, wendete er sich also von der großen zur kleinen Kunst, vom
Erhabenen zum Schlichten, ohne sich's träumen zu lassen, daß diese Wen-
dung doch durch die veränderte Zeitstimmung mitbedingt war. Ihm war
die Kunst "ein wunderschöner Engel, der die Menschen, die eines guten
Herzens sind, auf sonnige und blumige Stellen führt", und mit seliger
Freude schilderte er nun auf unzähligen Blättern das Treiben seines Volks:
Studenten und Handwerksburschen, das Lebkuchenhäuschen des Volksmär-
chens und die frierenden Kinder, die auf dem Dresdener Striezelmarkte
ihre aus Backpflaumen geformten Schornsteinfeger verkaufen, vor Allem
doch das Glück des Hauses: den Weihnachtsbaum, die Punschbowle des
Sylvesterabends und die dampfende Kartoffelschüssel -- was Jeder kennt
und Jeder erlebt hat.

Ueberall Glück und Frieden, auch ein Zug von jenem warmherzigen
Spener'schen Pietismus, der unter den Stillen im kursächsischen Lande

V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft.
Verkehre jedem ernſtlich gebildeten deutſchen Maler in Fleiſch und Blut
gedrungen ſein mußte und nunmehr eine ganz ſelbſtändige nordiſche Kunſt
möglich war.

Unterdeſſen bewies ein beſcheidener, lange kaum beachteter Meiſter,
daß auch in dieſer bildungsſtolzen Zeit die volksthümliche Kunſt mit ein-
fachen Mitteln große Erfolge erringen konnte. Ludwig Richter war in
dem ſtillvergnügten Philiſterthum einer armen Vorſtadt Dresdens auf-
gewachſen, in einer Welt von kleinbürgerlichen Originalen; die engen Ver-
hältniſſe bedrückten den kindlich frommen, genügſamen Jüngling wenig; war
doch die Natur ſo reich und mild im heiteren Thale der Elbe, und wie
wonnig ließ es ſich träumen unter den Zweigen des alten Birnbaums im
Garten, vor den üppigen Roſenbeeten. Nachher zu Rom ſchloß er Freund-
ſchaft mit Koch und ſeinem Landsmanne Schnorr und verſuchte ſich in
dieſer ſtrengen Schule an dem hohen Stile hiſtoriſcher Landſchaften;
als er aber dort einmal gedrängt wurde, raſch aus dem Kopfe ein Bild
zu entwerfen, da zeichnete er unwillkürlich eine Schaar ſächſiſcher Land-
leute, die mit ihren Kindern am Sonntag durchs hohe Korn zur Kirche
zogen. Es war die Stimme des Herzens, die Ahnung ſeines Lebens-
berufes.

Als er dann wieder daheim im beſcheidenen glücklichen Hauſe ſaß,
da fühlte er bald, daß ihm das ſchlichte Bürgerkind, die deutſche Land-
ſchaft doch viel traulicher zum Gemüthe redete als die ſtolze Königs-
tochter des Südens, und er begriff, warum der Wälſche im Walde auf
dem Bauche liegt, der Deutſche auf dem Rücken. Die Heimath mit ihrem
Kleinleben ward ihm immer lieber, und er begann nunmehr für den
Holzſchnitt zu zeichnen — eine echt deutſche Kunſtweiſe, die einſt in Dürer’s
Tagen weit tiefer als die Malerei auf unſer Volk eingewirkt hatte, dann
lange ganz vergeſſen und endlich in England zuerſt wiederbelebt, neuer-
dings auch in Deutſchland wieder tüchtige Vertreter fand. Naiv, wie er
immer blieb, wendete er ſich alſo von der großen zur kleinen Kunſt, vom
Erhabenen zum Schlichten, ohne ſich’s träumen zu laſſen, daß dieſe Wen-
dung doch durch die veränderte Zeitſtimmung mitbedingt war. Ihm war
die Kunſt „ein wunderſchöner Engel, der die Menſchen, die eines guten
Herzens ſind, auf ſonnige und blumige Stellen führt“, und mit ſeliger
Freude ſchilderte er nun auf unzähligen Blättern das Treiben ſeines Volks:
Studenten und Handwerksburſchen, das Lebkuchenhäuschen des Volksmär-
chens und die frierenden Kinder, die auf dem Dresdener Striezelmarkte
ihre aus Backpflaumen geformten Schornſteinfeger verkaufen, vor Allem
doch das Glück des Hauſes: den Weihnachtsbaum, die Punſchbowle des
Sylveſterabends und die dampfende Kartoffelſchüſſel — was Jeder kennt
und Jeder erlebt hat.

Ueberall Glück und Frieden, auch ein Zug von jenem warmherzigen
Spener’ſchen Pietismus, der unter den Stillen im kurſächſiſchen Lande

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[402/0416] V. 5. Realismus in Kunſt und Wiſſenſchaft. Verkehre jedem ernſtlich gebildeten deutſchen Maler in Fleiſch und Blut gedrungen ſein mußte und nunmehr eine ganz ſelbſtändige nordiſche Kunſt möglich war. Unterdeſſen bewies ein beſcheidener, lange kaum beachteter Meiſter, daß auch in dieſer bildungsſtolzen Zeit die volksthümliche Kunſt mit ein- fachen Mitteln große Erfolge erringen konnte. Ludwig Richter war in dem ſtillvergnügten Philiſterthum einer armen Vorſtadt Dresdens auf- gewachſen, in einer Welt von kleinbürgerlichen Originalen; die engen Ver- hältniſſe bedrückten den kindlich frommen, genügſamen Jüngling wenig; war doch die Natur ſo reich und mild im heiteren Thale der Elbe, und wie wonnig ließ es ſich träumen unter den Zweigen des alten Birnbaums im Garten, vor den üppigen Roſenbeeten. Nachher zu Rom ſchloß er Freund- ſchaft mit Koch und ſeinem Landsmanne Schnorr und verſuchte ſich in dieſer ſtrengen Schule an dem hohen Stile hiſtoriſcher Landſchaften; als er aber dort einmal gedrängt wurde, raſch aus dem Kopfe ein Bild zu entwerfen, da zeichnete er unwillkürlich eine Schaar ſächſiſcher Land- leute, die mit ihren Kindern am Sonntag durchs hohe Korn zur Kirche zogen. Es war die Stimme des Herzens, die Ahnung ſeines Lebens- berufes. Als er dann wieder daheim im beſcheidenen glücklichen Hauſe ſaß, da fühlte er bald, daß ihm das ſchlichte Bürgerkind, die deutſche Land- ſchaft doch viel traulicher zum Gemüthe redete als die ſtolze Königs- tochter des Südens, und er begriff, warum der Wälſche im Walde auf dem Bauche liegt, der Deutſche auf dem Rücken. Die Heimath mit ihrem Kleinleben ward ihm immer lieber, und er begann nunmehr für den Holzſchnitt zu zeichnen — eine echt deutſche Kunſtweiſe, die einſt in Dürer’s Tagen weit tiefer als die Malerei auf unſer Volk eingewirkt hatte, dann lange ganz vergeſſen und endlich in England zuerſt wiederbelebt, neuer- dings auch in Deutſchland wieder tüchtige Vertreter fand. Naiv, wie er immer blieb, wendete er ſich alſo von der großen zur kleinen Kunſt, vom Erhabenen zum Schlichten, ohne ſich’s träumen zu laſſen, daß dieſe Wen- dung doch durch die veränderte Zeitſtimmung mitbedingt war. Ihm war die Kunſt „ein wunderſchöner Engel, der die Menſchen, die eines guten Herzens ſind, auf ſonnige und blumige Stellen führt“, und mit ſeliger Freude ſchilderte er nun auf unzähligen Blättern das Treiben ſeines Volks: Studenten und Handwerksburſchen, das Lebkuchenhäuschen des Volksmär- chens und die frierenden Kinder, die auf dem Dresdener Striezelmarkte ihre aus Backpflaumen geformten Schornſteinfeger verkaufen, vor Allem doch das Glück des Hauſes: den Weihnachtsbaum, die Punſchbowle des Sylveſterabends und die dampfende Kartoffelſchüſſel — was Jeder kennt und Jeder erlebt hat. Ueberall Glück und Frieden, auch ein Zug von jenem warmherzigen Spener’ſchen Pietismus, der unter den Stillen im kurſächſiſchen Lande

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 402. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/416>, abgerufen am 22.11.2024.