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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Aufschwung der Dramatik.
theilte sie die kindliche Freude am Großen, Herrlichen, Wunderbaren, und
ganz westphälisch, kräftige Kinder der rothen Erde waren auch ihre Ge-
dichte und Erzählungen -- meist einfache Stoffe, aus Gebirg und Moor,
aus dem Alltagsleben, aus dem Kirchenjahre und der Geschichte der Heimath,
aber Alles verklärt durch die leidenschaftliche Macht einer immer selb-
ständigen, ursprünglichen Empfindung. Das geheimnißvolle Traumleben
der Natur, in der Landschaft wie in der fiebernden, bangenden Menschen-
seele, war der Tochter der Heide von Kindesbeinen an vertraut und ihre
männliche Sprachgewalt fand auch für das Geisterhafte stets den packenden,
den entscheidenden Ausdruck. Leider verdarb sie den Eindruck ihrer Dich-
tungen oft durch die ungelenke, ja rohe und incorrekte Form; das Ge-
heimniß der künstlerischen Composition blieb ihr wie fast allen Weibern
unfaßbar. Dem Streite des Tages stand Annette fern; nur selten wagte
sie ein Wort der Warnung an den Vorwitz der Weltverbesserer oder an
die friedlose Hast des neuen Geschlechts, das kaum noch fähig schien Freud
und Leid der vierundzwanzig Tagesstunden rein auszukosten:

Vor uns die Hoffnung, hinter uns das Glück,
Und unsre Morgen morden unsre Heute! --

Frischere Blüthen als die anderen Zweige der Dichtung trieb in diesen
Jahren die dramatische Kunst. Zu lange schon kränkelte unser Theater
an den Schultheorien der Romantiker. Feine Kennerkreise erlabten sich
an Tieck's Shakespeare-Vorlesungen oder an gelehrten Lesedramen. Die
mißachtete Bühne aber, die doch leben, doch die Schaulust der Menge be-
friedigen mußte, verfiel mehr und mehr dem Handwerkerfleiße schlechter
Uebersetzer.*) In solcher Lage erwarben sich die beiden kräftigsten Talente
des eigentlichen Jungen Deutschlands, Laube und Gutzkow, ein großes Ver-
dienst, als sie versuchten dem deutschen Theater durch deutsche, streng bühnen-
gerechte und doch nicht gehaltlose Werke wieder aufzuhelfen. Ihre Vorbilder
konnten sie nur bei den Franzosen finden, bei dem einzigen Volke, dessen
Theater damals wirklich lebte. Zum Glück besaß Frankreich keinen über-
legenen dramatischen Genius, der die deutschen Schüler, wie Walter Scott
unsere Romandichter, zu unfreier Nachahmung verführen konnte. Wohl aber
ließ sich von Scribe's vollendeter Technik Vieles lernen; seine feinberechneten
Intrigen vermochten allein dem deutschen Gemüthe so wenig zu genügen
wie die mageren, schablonenhaften, ganz durch die Handlung beherrschten,
ja fast erdrückten Charaktere. Es galt, Dramen zu schaffen, deren Handlung
ebenso spannend und erregend wirkte, aber aus dem Zusammenstoße der
Charaktere nothwendig hervorging. Und wie schwer war diese Aufgabe.
Welch einen Schatz besaß Frankreich an seiner rein nationalen Bühne;
seine Schauspieler hatten immer nur Franzosen darzustellen, Menschen,
deren Art und Unart jedem Hörer verständlich war. Unsere Dichter und

*) S. o. IV. 451.

Aufſchwung der Dramatik.
theilte ſie die kindliche Freude am Großen, Herrlichen, Wunderbaren, und
ganz weſtphäliſch, kräftige Kinder der rothen Erde waren auch ihre Ge-
dichte und Erzählungen — meiſt einfache Stoffe, aus Gebirg und Moor,
aus dem Alltagsleben, aus dem Kirchenjahre und der Geſchichte der Heimath,
aber Alles verklärt durch die leidenſchaftliche Macht einer immer ſelb-
ſtändigen, urſprünglichen Empfindung. Das geheimnißvolle Traumleben
der Natur, in der Landſchaft wie in der fiebernden, bangenden Menſchen-
ſeele, war der Tochter der Heide von Kindesbeinen an vertraut und ihre
männliche Sprachgewalt fand auch für das Geiſterhafte ſtets den packenden,
den entſcheidenden Ausdruck. Leider verdarb ſie den Eindruck ihrer Dich-
tungen oft durch die ungelenke, ja rohe und incorrekte Form; das Ge-
heimniß der künſtleriſchen Compoſition blieb ihr wie faſt allen Weibern
unfaßbar. Dem Streite des Tages ſtand Annette fern; nur ſelten wagte
ſie ein Wort der Warnung an den Vorwitz der Weltverbeſſerer oder an
die friedloſe Haſt des neuen Geſchlechts, das kaum noch fähig ſchien Freud
und Leid der vierundzwanzig Tagesſtunden rein auszukoſten:

Vor uns die Hoffnung, hinter uns das Glück,
Und unſre Morgen morden unſre Heute! —

Friſchere Blüthen als die anderen Zweige der Dichtung trieb in dieſen
Jahren die dramatiſche Kunſt. Zu lange ſchon kränkelte unſer Theater
an den Schultheorien der Romantiker. Feine Kennerkreiſe erlabten ſich
an Tieck’s Shakeſpeare-Vorleſungen oder an gelehrten Leſedramen. Die
mißachtete Bühne aber, die doch leben, doch die Schauluſt der Menge be-
friedigen mußte, verfiel mehr und mehr dem Handwerkerfleiße ſchlechter
Ueberſetzer.*) In ſolcher Lage erwarben ſich die beiden kräftigſten Talente
des eigentlichen Jungen Deutſchlands, Laube und Gutzkow, ein großes Ver-
dienſt, als ſie verſuchten dem deutſchen Theater durch deutſche, ſtreng bühnen-
gerechte und doch nicht gehaltloſe Werke wieder aufzuhelfen. Ihre Vorbilder
konnten ſie nur bei den Franzoſen finden, bei dem einzigen Volke, deſſen
Theater damals wirklich lebte. Zum Glück beſaß Frankreich keinen über-
legenen dramatiſchen Genius, der die deutſchen Schüler, wie Walter Scott
unſere Romandichter, zu unfreier Nachahmung verführen konnte. Wohl aber
ließ ſich von Scribe’s vollendeter Technik Vieles lernen; ſeine feinberechneten
Intrigen vermochten allein dem deutſchen Gemüthe ſo wenig zu genügen
wie die mageren, ſchablonenhaften, ganz durch die Handlung beherrſchten,
ja faſt erdrückten Charaktere. Es galt, Dramen zu ſchaffen, deren Handlung
ebenſo ſpannend und erregend wirkte, aber aus dem Zuſammenſtoße der
Charaktere nothwendig hervorging. Und wie ſchwer war dieſe Aufgabe.
Welch einen Schatz beſaß Frankreich an ſeiner rein nationalen Bühne;
ſeine Schauſpieler hatten immer nur Franzoſen darzuſtellen, Menſchen,
deren Art und Unart jedem Hörer verſtändlich war. Unſere Dichter und

*) S. o. IV. 451.
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[389/0403] Aufſchwung der Dramatik. theilte ſie die kindliche Freude am Großen, Herrlichen, Wunderbaren, und ganz weſtphäliſch, kräftige Kinder der rothen Erde waren auch ihre Ge- dichte und Erzählungen — meiſt einfache Stoffe, aus Gebirg und Moor, aus dem Alltagsleben, aus dem Kirchenjahre und der Geſchichte der Heimath, aber Alles verklärt durch die leidenſchaftliche Macht einer immer ſelb- ſtändigen, urſprünglichen Empfindung. Das geheimnißvolle Traumleben der Natur, in der Landſchaft wie in der fiebernden, bangenden Menſchen- ſeele, war der Tochter der Heide von Kindesbeinen an vertraut und ihre männliche Sprachgewalt fand auch für das Geiſterhafte ſtets den packenden, den entſcheidenden Ausdruck. Leider verdarb ſie den Eindruck ihrer Dich- tungen oft durch die ungelenke, ja rohe und incorrekte Form; das Ge- heimniß der künſtleriſchen Compoſition blieb ihr wie faſt allen Weibern unfaßbar. Dem Streite des Tages ſtand Annette fern; nur ſelten wagte ſie ein Wort der Warnung an den Vorwitz der Weltverbeſſerer oder an die friedloſe Haſt des neuen Geſchlechts, das kaum noch fähig ſchien Freud und Leid der vierundzwanzig Tagesſtunden rein auszukoſten: Vor uns die Hoffnung, hinter uns das Glück, Und unſre Morgen morden unſre Heute! — Friſchere Blüthen als die anderen Zweige der Dichtung trieb in dieſen Jahren die dramatiſche Kunſt. Zu lange ſchon kränkelte unſer Theater an den Schultheorien der Romantiker. Feine Kennerkreiſe erlabten ſich an Tieck’s Shakeſpeare-Vorleſungen oder an gelehrten Leſedramen. Die mißachtete Bühne aber, die doch leben, doch die Schauluſt der Menge be- friedigen mußte, verfiel mehr und mehr dem Handwerkerfleiße ſchlechter Ueberſetzer. *) In ſolcher Lage erwarben ſich die beiden kräftigſten Talente des eigentlichen Jungen Deutſchlands, Laube und Gutzkow, ein großes Ver- dienſt, als ſie verſuchten dem deutſchen Theater durch deutſche, ſtreng bühnen- gerechte und doch nicht gehaltloſe Werke wieder aufzuhelfen. Ihre Vorbilder konnten ſie nur bei den Franzoſen finden, bei dem einzigen Volke, deſſen Theater damals wirklich lebte. Zum Glück beſaß Frankreich keinen über- legenen dramatiſchen Genius, der die deutſchen Schüler, wie Walter Scott unſere Romandichter, zu unfreier Nachahmung verführen konnte. Wohl aber ließ ſich von Scribe’s vollendeter Technik Vieles lernen; ſeine feinberechneten Intrigen vermochten allein dem deutſchen Gemüthe ſo wenig zu genügen wie die mageren, ſchablonenhaften, ganz durch die Handlung beherrſchten, ja faſt erdrückten Charaktere. Es galt, Dramen zu ſchaffen, deren Handlung ebenſo ſpannend und erregend wirkte, aber aus dem Zuſammenſtoße der Charaktere nothwendig hervorging. Und wie ſchwer war dieſe Aufgabe. Welch einen Schatz beſaß Frankreich an ſeiner rein nationalen Bühne; ſeine Schauſpieler hatten immer nur Franzoſen darzuſtellen, Menſchen, deren Art und Unart jedem Hörer verſtändlich war. Unſere Dichter und *) S. o. IV. 451.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 389. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/403>, abgerufen am 22.11.2024.