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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.

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Dingelstedt.
bairische Pfaffenherrschaft oder die närrischen Despotenlaunen der Dutzend-
fürsten und Taschenhöflein, bald in finsterer Ahnung das unheimliche
Schicksal, das über den alten Welfen und seinen blinden Knaben herauf-
zog. Sein bitterster Hohn galt "der Stadt der Bildung und des Thees,
der Künste und der Nücken", die eitle geistreiche Unfruchtbarkeit der
Berliner Politik und Kunst ekelte ihn an. Ganz unbekümmert um die
Judenschwärmerei seiner liberalen Freunde wagte der Nachtwächter frank
herauszusagen, daß "Er, der Einzle, Einz'ge, Eine", Rothschild schon in
der Bundesstadt allmächtig schalte; er warnte die Deutschen, das ewig
klagende Juda hätte schon längst zu Haufen sich gesammelt,

Und halb um Gold, und halb mit Sklavenwitze
Kauft es dem Zeitgeist ab sein Losungswort.

Rücksichtslos war seine Muse, wie der Mann selber, aber niemals frech.
In dankbarer Ehrfurcht beugte er sich vor Goethe, Platen, Chamisso; ein
tiefes Heimweh klang durch seine Lieder, wenn er von dem stillen Liebreiz
seines Weserthals oder von dem Freiheitstrotze seiner tapferen hessischen
Landsleute sang; und den Frevlern, die in ihrem rasenden Parteihaß das
Vaterland selber lästerten, erwiderte er einfach:

Nein, wer mit deutscher Zunge spricht
Ruft Deutschland niemals Wehe.

Seine Dichterkraft völlig auszubilden, gelang diesem edel angelegten
Geiste doch niemals. Ein Mensch von Fleisch und Blut, schön, schlank
und liebenswerth, sprudelnd von Lebenslust und Lebensmuth, sehnte er sich
hinaus aus der kleinbürgerlichen Enge seiner Jugend, er wollte die Welt
sehen, in ihr herrschen, an ihrem Glanze sich sonnen. Als er dann,
ohne seine liberale Gesinnung je zu verleugnen, eine Bibliothekarstelle am
Stuttgarter Hofe erhielt, da mußte er wegen solcher Verhofrätherei, wie
Heine spottete, von den Ueberzeugungsterroristen der liberalen Presse groben
Unglimpf hören, wie auch Anastasius Grün ein Abtrünniger gescholten
wurde, weil er nach dem Brauche seines Hauses den österreichischen Käm-
merertitel annahm. Nachher gewann Dingelstedt als Leiter großer Hof-
bühnen eine Mittelstellung zwischen der Kunst und der vornehmen Gesell-
schaft, wie sie seiner Neigung zusagte; er erwarb sich hohe Verdienste um
die Bühne, doch zu eigenem Schaffen konnte er sich in dem weltmännischen
Treiben nur noch selten sammeln.

Diesen Bannerträgern folgte ein ganzes Heer von Zeitpoeten. Die
Lyrik, die so lange in den Taschenbüchern der Damenwelt ein stilles thränen-
seliges Dasein geführt hatte, drängte sich lärmend auf den Markt hinaus;
fast keine Zeitung, die nicht manchmal einen gereimten Leitartikel brachte.
Meist wurde die Poesie durch die Tendenz gänzlich übertäubt; das Vater-
land, so hieß es kurzab, "das will von der Dichterinnung statt dem ver-
brauchten Leiertand nur Muth und bied're Gesinnung". Der Ton war
fast überall radical, da die Kunst keine Vermittlung verträgt. Einer

Dingelſtedt.
bairiſche Pfaffenherrſchaft oder die närriſchen Despotenlaunen der Dutzend-
fürſten und Taſchenhöflein, bald in finſterer Ahnung das unheimliche
Schickſal, das über den alten Welfen und ſeinen blinden Knaben herauf-
zog. Sein bitterſter Hohn galt „der Stadt der Bildung und des Thees,
der Künſte und der Nücken“, die eitle geiſtreiche Unfruchtbarkeit der
Berliner Politik und Kunſt ekelte ihn an. Ganz unbekümmert um die
Judenſchwärmerei ſeiner liberalen Freunde wagte der Nachtwächter frank
herauszuſagen, daß „Er, der Einzle, Einz’ge, Eine“, Rothſchild ſchon in
der Bundesſtadt allmächtig ſchalte; er warnte die Deutſchen, das ewig
klagende Juda hätte ſchon längſt zu Haufen ſich geſammelt,

Und halb um Gold, und halb mit Sklavenwitze
Kauft es dem Zeitgeiſt ab ſein Loſungswort.

Rückſichtslos war ſeine Muſe, wie der Mann ſelber, aber niemals frech.
In dankbarer Ehrfurcht beugte er ſich vor Goethe, Platen, Chamiſſo; ein
tiefes Heimweh klang durch ſeine Lieder, wenn er von dem ſtillen Liebreiz
ſeines Weſerthals oder von dem Freiheitstrotze ſeiner tapferen heſſiſchen
Landsleute ſang; und den Frevlern, die in ihrem raſenden Parteihaß das
Vaterland ſelber läſterten, erwiderte er einfach:

Nein, wer mit deutſcher Zunge ſpricht
Ruft Deutſchland niemals Wehe.

Seine Dichterkraft völlig auszubilden, gelang dieſem edel angelegten
Geiſte doch niemals. Ein Menſch von Fleiſch und Blut, ſchön, ſchlank
und liebenswerth, ſprudelnd von Lebensluſt und Lebensmuth, ſehnte er ſich
hinaus aus der kleinbürgerlichen Enge ſeiner Jugend, er wollte die Welt
ſehen, in ihr herrſchen, an ihrem Glanze ſich ſonnen. Als er dann,
ohne ſeine liberale Geſinnung je zu verleugnen, eine Bibliothekarſtelle am
Stuttgarter Hofe erhielt, da mußte er wegen ſolcher Verhofrätherei, wie
Heine ſpottete, von den Ueberzeugungsterroriſten der liberalen Preſſe groben
Unglimpf hören, wie auch Anaſtaſius Grün ein Abtrünniger geſcholten
wurde, weil er nach dem Brauche ſeines Hauſes den öſterreichiſchen Käm-
merertitel annahm. Nachher gewann Dingelſtedt als Leiter großer Hof-
bühnen eine Mittelſtellung zwiſchen der Kunſt und der vornehmen Geſell-
ſchaft, wie ſie ſeiner Neigung zuſagte; er erwarb ſich hohe Verdienſte um
die Bühne, doch zu eigenem Schaffen konnte er ſich in dem weltmänniſchen
Treiben nur noch ſelten ſammeln.

Dieſen Bannerträgern folgte ein ganzes Heer von Zeitpoeten. Die
Lyrik, die ſo lange in den Taſchenbüchern der Damenwelt ein ſtilles thränen-
ſeliges Daſein geführt hatte, drängte ſich lärmend auf den Markt hinaus;
faſt keine Zeitung, die nicht manchmal einen gereimten Leitartikel brachte.
Meiſt wurde die Poeſie durch die Tendenz gänzlich übertäubt; das Vater-
land, ſo hieß es kurzab, „das will von der Dichterinnung ſtatt dem ver-
brauchten Leiertand nur Muth und bied’re Geſinnung“. Der Ton war
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[375/0389] Dingelſtedt. bairiſche Pfaffenherrſchaft oder die närriſchen Despotenlaunen der Dutzend- fürſten und Taſchenhöflein, bald in finſterer Ahnung das unheimliche Schickſal, das über den alten Welfen und ſeinen blinden Knaben herauf- zog. Sein bitterſter Hohn galt „der Stadt der Bildung und des Thees, der Künſte und der Nücken“, die eitle geiſtreiche Unfruchtbarkeit der Berliner Politik und Kunſt ekelte ihn an. Ganz unbekümmert um die Judenſchwärmerei ſeiner liberalen Freunde wagte der Nachtwächter frank herauszuſagen, daß „Er, der Einzle, Einz’ge, Eine“, Rothſchild ſchon in der Bundesſtadt allmächtig ſchalte; er warnte die Deutſchen, das ewig klagende Juda hätte ſchon längſt zu Haufen ſich geſammelt, Und halb um Gold, und halb mit Sklavenwitze Kauft es dem Zeitgeiſt ab ſein Loſungswort. Rückſichtslos war ſeine Muſe, wie der Mann ſelber, aber niemals frech. In dankbarer Ehrfurcht beugte er ſich vor Goethe, Platen, Chamiſſo; ein tiefes Heimweh klang durch ſeine Lieder, wenn er von dem ſtillen Liebreiz ſeines Weſerthals oder von dem Freiheitstrotze ſeiner tapferen heſſiſchen Landsleute ſang; und den Frevlern, die in ihrem raſenden Parteihaß das Vaterland ſelber läſterten, erwiderte er einfach: Nein, wer mit deutſcher Zunge ſpricht Ruft Deutſchland niemals Wehe. Seine Dichterkraft völlig auszubilden, gelang dieſem edel angelegten Geiſte doch niemals. Ein Menſch von Fleiſch und Blut, ſchön, ſchlank und liebenswerth, ſprudelnd von Lebensluſt und Lebensmuth, ſehnte er ſich hinaus aus der kleinbürgerlichen Enge ſeiner Jugend, er wollte die Welt ſehen, in ihr herrſchen, an ihrem Glanze ſich ſonnen. Als er dann, ohne ſeine liberale Geſinnung je zu verleugnen, eine Bibliothekarſtelle am Stuttgarter Hofe erhielt, da mußte er wegen ſolcher Verhofrätherei, wie Heine ſpottete, von den Ueberzeugungsterroriſten der liberalen Preſſe groben Unglimpf hören, wie auch Anaſtaſius Grün ein Abtrünniger geſcholten wurde, weil er nach dem Brauche ſeines Hauſes den öſterreichiſchen Käm- merertitel annahm. Nachher gewann Dingelſtedt als Leiter großer Hof- bühnen eine Mittelſtellung zwiſchen der Kunſt und der vornehmen Geſell- ſchaft, wie ſie ſeiner Neigung zuſagte; er erwarb ſich hohe Verdienſte um die Bühne, doch zu eigenem Schaffen konnte er ſich in dem weltmänniſchen Treiben nur noch ſelten ſammeln. Dieſen Bannerträgern folgte ein ganzes Heer von Zeitpoeten. Die Lyrik, die ſo lange in den Taſchenbüchern der Damenwelt ein ſtilles thränen- ſeliges Daſein geführt hatte, drängte ſich lärmend auf den Markt hinaus; faſt keine Zeitung, die nicht manchmal einen gereimten Leitartikel brachte. Meiſt wurde die Poeſie durch die Tendenz gänzlich übertäubt; das Vater- land, ſo hieß es kurzab, „das will von der Dichterinnung ſtatt dem ver- brauchten Leiertand nur Muth und bied’re Geſinnung“. Der Ton war faſt überall radical, da die Kunſt keine Vermittlung verträgt. Einer

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 375. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/389>, abgerufen am 22.11.2024.