noch zwei junge Bonner Professoren, der Orientalist J. Gildemeister und der Historiker H. v. Sybel in einer streitbaren, aber ernsten, streng wissen- schaftlichen Schrift über "den heiligen Rock zu Trier und die zwanzig anderen heiligen ungenähten Röcke", welch ein Unfug die Jahrhunderte hindurch mit dieser gefälschten Reliquie getrieben worden war. Doch was vermochten Gründe wider den frommen Wahn? Was galt es den römischen Priestern, daß Nitzsch zu Bonn in einer herrlichen Predigt die Protestanten ermahnte, statt der todten Reliquie die Heilkraft des lebendigen Christus zu verehren, und mitleidig ausrief: o der Armen, denen das Evangelium nicht gepredigt wird! Binnen sieben Wochen strömten eine Million und hunderttausend Pilger nach Trier; in allen Städten und Dörfern des schönen Mosellandes läuteten die Glocken so oft ein Zug von Wall- fahrern mit wehenden Kirchenfahnen herankam; die Gastwirthe, die Bil- derkrämer, die Paramentenhändler der Bischofsstadt hielten eine goldene Ernte, und inbrünstig erklang im Dome das Stoßgebet: heiliger Rock, bitt' für uns! Auch die Mirakel blieben nicht aus. Eine Verwandte des alten Erzbischofs Droste-Vischering wähnte durch den Anblick des Rocks von einer Lähmung geheilt zu sein; und das Bänkelsängerlied spottete ihr nach: Du Rock bist ganz unnäthig, drum bist du auch so gnädig! Ernste Protestanten konnten nur mit Besorgniß wahrnehmen, wie verblendet der Clerus grade die alten Mißbräuche neu belebte, welche einst die Reformation unmittelbar veranlaßt hatten.
Da erklang plötzlich ein gellender Widerspruch aus der Mitte der Priesterschaft selbst. Ein junger, vor Kurzem wegen eines freigeistigen Zeitungsartikels suspendirter Caplan zu Laurahütte in Oberschlesien, Jo- hannes Ronge, veröffentlichte in den radicalen Sächsischen Vaterlands- blättern ein Schreiben an Arnoldi, das den Bischof wegen seines "Götzen- festes" scharf angriff und in dem Satze gipfelte: "Schon ergreift der Ge- schichtsschreiber den Griffel und übergiebt Ihren Namen, Arnoldi, der Verachtung bei Mit- und Nachwelt und bezeichnet Sie als den Tetzel des neunzehnten Jahrhunderts." Diese Worte bewiesen schon genugsam, daß der eitle Mann, der sich so deutlich selber für einen neuen Luther aus- gab, nicht aus dem Holze der Reformatoren geschnitzt war. Ihn entflammte ein achtungswerthes Gefühl jugendlicher Entrüstung wider das Schau- gepränge römischer Werkheiligkeit; doch von dem Ernste, dem Tiefsinn, der Selbstverleugnung des Glaubenshelden lag nichts in ihm. Sein Brief wiederholte lediglich alte Wahrheiten, die der Protestantismus längst kühner und würdiger ausgesprochen hatte; neu war daran nur der moderne jour- nalistische Stil und das patriotische Pathos. "Erzürnen Sie nicht die Manen Ihrer Väter, welche das Capitol zerbrachen, indem Sie die Engels- burg in Deutschland dulden" -- so rief er dem Bischof zu, und man konnte leicht errathen, daß er seine Weltanschauung gutentheils der Rotteck- schen Weltgeschichte verdankte.
V. 4. Die Parteiung in der Kirche.
noch zwei junge Bonner Profeſſoren, der Orientaliſt J. Gildemeiſter und der Hiſtoriker H. v. Sybel in einer ſtreitbaren, aber ernſten, ſtreng wiſſen- ſchaftlichen Schrift über „den heiligen Rock zu Trier und die zwanzig anderen heiligen ungenähten Röcke“, welch ein Unfug die Jahrhunderte hindurch mit dieſer gefälſchten Reliquie getrieben worden war. Doch was vermochten Gründe wider den frommen Wahn? Was galt es den römiſchen Prieſtern, daß Nitzſch zu Bonn in einer herrlichen Predigt die Proteſtanten ermahnte, ſtatt der todten Reliquie die Heilkraft des lebendigen Chriſtus zu verehren, und mitleidig ausrief: o der Armen, denen das Evangelium nicht gepredigt wird! Binnen ſieben Wochen ſtrömten eine Million und hunderttauſend Pilger nach Trier; in allen Städten und Dörfern des ſchönen Moſellandes läuteten die Glocken ſo oft ein Zug von Wall- fahrern mit wehenden Kirchenfahnen herankam; die Gaſtwirthe, die Bil- derkrämer, die Paramentenhändler der Biſchofsſtadt hielten eine goldene Ernte, und inbrünſtig erklang im Dome das Stoßgebet: heiliger Rock, bitt’ für uns! Auch die Mirakel blieben nicht aus. Eine Verwandte des alten Erzbiſchofs Droſte-Viſchering wähnte durch den Anblick des Rocks von einer Lähmung geheilt zu ſein; und das Bänkelſängerlied ſpottete ihr nach: Du Rock biſt ganz unnäthig, drum biſt du auch ſo gnädig! Ernſte Proteſtanten konnten nur mit Beſorgniß wahrnehmen, wie verblendet der Clerus grade die alten Mißbräuche neu belebte, welche einſt die Reformation unmittelbar veranlaßt hatten.
Da erklang plötzlich ein gellender Widerſpruch aus der Mitte der Prieſterſchaft ſelbſt. Ein junger, vor Kurzem wegen eines freigeiſtigen Zeitungsartikels ſuspendirter Caplan zu Laurahütte in Oberſchleſien, Jo- hannes Ronge, veröffentlichte in den radicalen Sächſiſchen Vaterlands- blättern ein Schreiben an Arnoldi, das den Biſchof wegen ſeines „Götzen- feſtes“ ſcharf angriff und in dem Satze gipfelte: „Schon ergreift der Ge- ſchichtsſchreiber den Griffel und übergiebt Ihren Namen, Arnoldi, der Verachtung bei Mit- und Nachwelt und bezeichnet Sie als den Tetzel des neunzehnten Jahrhunderts.“ Dieſe Worte bewieſen ſchon genugſam, daß der eitle Mann, der ſich ſo deutlich ſelber für einen neuen Luther aus- gab, nicht aus dem Holze der Reformatoren geſchnitzt war. Ihn entflammte ein achtungswerthes Gefühl jugendlicher Entrüſtung wider das Schau- gepränge römiſcher Werkheiligkeit; doch von dem Ernſte, dem Tiefſinn, der Selbſtverleugnung des Glaubenshelden lag nichts in ihm. Sein Brief wiederholte lediglich alte Wahrheiten, die der Proteſtantismus längſt kühner und würdiger ausgeſprochen hatte; neu war daran nur der moderne jour- naliſtiſche Stil und das patriotiſche Pathos. „Erzürnen Sie nicht die Manen Ihrer Väter, welche das Capitol zerbrachen, indem Sie die Engels- burg in Deutſchland dulden“ — ſo rief er dem Biſchof zu, und man konnte leicht errathen, daß er ſeine Weltanſchauung gutentheils der Rotteck- ſchen Weltgeſchichte verdankte.
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ſchaftlichen Schrift über „den heiligen Rock zu Trier und die zwanzig
anderen heiligen ungenähten Röcke“, welch ein Unfug die Jahrhunderte
hindurch mit dieſer gefälſchten Reliquie getrieben worden war. Doch was
vermochten Gründe wider den frommen Wahn? Was galt es den römiſchen
Prieſtern, daß Nitzſch zu Bonn in einer herrlichen Predigt die Proteſtanten
ermahnte, ſtatt der todten Reliquie die Heilkraft des lebendigen Chriſtus
zu verehren, und mitleidig ausrief: o der Armen, denen das Evangelium
nicht gepredigt wird! Binnen ſieben Wochen ſtrömten eine Million und
hunderttauſend Pilger nach Trier; in allen Städten und Dörfern des
ſchönen Moſellandes läuteten die Glocken ſo oft ein Zug von Wall-
fahrern mit wehenden Kirchenfahnen herankam; die Gaſtwirthe, die Bil-
derkrämer, die Paramentenhändler der Biſchofsſtadt hielten eine goldene
Ernte, und inbrünſtig erklang im Dome das Stoßgebet: heiliger Rock,
bitt’ für uns! Auch die Mirakel blieben nicht aus. Eine Verwandte
des alten Erzbiſchofs Droſte-Viſchering wähnte durch den Anblick des
Rocks von einer Lähmung geheilt zu ſein; und das Bänkelſängerlied
ſpottete ihr nach: Du Rock biſt ganz unnäthig, drum biſt du auch ſo
gnädig! Ernſte Proteſtanten konnten nur mit Beſorgniß wahrnehmen,
wie verblendet der Clerus grade die alten Mißbräuche neu belebte, welche
einſt die Reformation unmittelbar veranlaßt hatten.
Da erklang plötzlich ein gellender Widerſpruch aus der Mitte der
Prieſterſchaft ſelbſt. Ein junger, vor Kurzem wegen eines freigeiſtigen
Zeitungsartikels ſuspendirter Caplan zu Laurahütte in Oberſchleſien, Jo-
hannes Ronge, veröffentlichte in den radicalen Sächſiſchen Vaterlands-
blättern ein Schreiben an Arnoldi, das den Biſchof wegen ſeines „Götzen-
feſtes“ ſcharf angriff und in dem Satze gipfelte: „Schon ergreift der Ge-
ſchichtsſchreiber den Griffel und übergiebt Ihren Namen, Arnoldi, der
Verachtung bei Mit- und Nachwelt und bezeichnet Sie als den Tetzel
des neunzehnten Jahrhunderts.“ Dieſe Worte bewieſen ſchon genugſam,
daß der eitle Mann, der ſich ſo deutlich ſelber für einen neuen Luther aus-
gab, nicht aus dem Holze der Reformatoren geſchnitzt war. Ihn entflammte
ein achtungswerthes Gefühl jugendlicher Entrüſtung wider das Schau-
gepränge römiſcher Werkheiligkeit; doch von dem Ernſte, dem Tiefſinn, der
Selbſtverleugnung des Glaubenshelden lag nichts in ihm. Sein Brief
wiederholte lediglich alte Wahrheiten, die der Proteſtantismus längſt kühner
und würdiger ausgeſprochen hatte; neu war daran nur der moderne jour-
naliſtiſche Stil und das patriotiſche Pathos. „Erzürnen Sie nicht die
Manen Ihrer Väter, welche das Capitol zerbrachen, indem Sie die Engels-
burg in Deutſchland dulden“ — ſo rief er dem Biſchof zu, und man
konnte leicht errathen, daß er ſeine Weltanſchauung gutentheils der Rotteck-
ſchen Weltgeſchichte verdankte.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 336. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/350>, abgerufen am 23.07.2024.
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