der Grund des allgemeinen Hasses tiefer: das Volk empfand dunkel, daß Blittersdorff in der That darauf ausging die Landesverfassung, nöthigen- falls mit Hilfe des Bundestages, umzugestalten. Wer die wüste Hetzerei dieser Wahlkämpfe nüchtern beobachtete, mußte schon ahnen, daß eine Re- volution herannahte.
Die Liberalen siegten vollständig, sie erlangten zum ersten male seit langer Zeit wieder eine sichere Mehrheit in der zweiten Kammer, eine Mehrheit freilich, die mit den Gegnern auf Tod und Leben verfeindet war. Vater Itzstein machte seinem volksthümlichen Beinamen Ehre: er hatte trefflich verstanden seiner Partei einen Nachwuchs heranzuziehen. Zu den alten Kämpen des Liberalismus gesellten sich jetzt der feurige, herrschsüchtige, von seinen Freunden Marat genannte Jurist Sander; dann der Mann- heimer Buchhändler Bassermann, ein warmherziger Vertreter des gebil- deten, besitzenden Bürgerthums, der nur durch die rückhaltlose Offenheit seiner Reden in den Ruf radicaler Gesinnung kam; endlich, alle Anderen überragend, Karl Mathy. Nach langen Jahren schließlich freigesprochen, hatte Mathy sein stilles Schulmeisteramt in der Schweiz verlassen und die alte Heimath wieder aufgesucht. In den Kreisen der Regierung galt er fast für den schlimmsten aller Demagogen; wenn er sich langsam erhob, mit seinen großen, ruhigen blauen Augen den Ministern gerade in's Ge- sicht sah und dann kalt in wohlerwogenen ironischen Sätzen ihnen seine Vorwürfe zuschleuderte, so verwundete er tiefer als Welcker's pathetische Entrüstung. Und doch war er der einzige staatsmännische Kopf in den Reihen der Opposition; er besaß die Mäßigung, die der gründlichen Kennt- niß entspringt, er verschmähte die Phrase, sprach immer zur Sache, am liebsten über Finanzfragen und nur wenn ein Erfolg möglich schien.
Dank dem wilden Ansturm Blittersdorff's erlebte der badische Libera- lismus jetzt nochmals eine Zeit der Blüthe wie einst auf dem großen Land- tage von 1831. Was nützte es, daß die Minister beschlossen den Verhand- lungen des neuen Landtags zunächst fern zu bleiben, damit die Opposition sich durch ihre Zornreden wider die leeren Regierungsbänke lächerlich machen sollte? Alle Welt sah darin nur ein Zeichen der Schwäche. Mathy's vielgelesene Landtagszeitung verbreitete ausführliche, klug berechnete Mit- theilungen aus dem Ständesaale bis in die entlegensten Walddörfer. Weither, selbst aus Württemberg und der bairischen Pfalz kamen die Neugierigen herbei; die Kammer ward zum Theater, und die Zuschauer spielten mit. Welch ein Fest, wenn der Präsident die überfüllten Gallerien wegen grober Ruhestörung räumen ließ und bald nachher auf den Antrag eines libe- ralen Abgeordneten das souveräne Volk wieder eingelassen wurde um den Lärm von Neuem zu beginnen. Damen saßen auf den Stufen des Prä- sidentenstuhls, andere Gäste mitten im Saale, als Bassermann die ab- wesenden Minister, "die Beamten des Volks" zur schuldigen Rechenschaft vorforderte, als ergrimmte Redner die schmutzige Wäsche des jüngsten Wahl-
Neue Blüthezeit des badiſchen Liberalismus.
der Grund des allgemeinen Haſſes tiefer: das Volk empfand dunkel, daß Blittersdorff in der That darauf ausging die Landesverfaſſung, nöthigen- falls mit Hilfe des Bundestages, umzugeſtalten. Wer die wüſte Hetzerei dieſer Wahlkämpfe nüchtern beobachtete, mußte ſchon ahnen, daß eine Re- volution herannahte.
Die Liberalen ſiegten vollſtändig, ſie erlangten zum erſten male ſeit langer Zeit wieder eine ſichere Mehrheit in der zweiten Kammer, eine Mehrheit freilich, die mit den Gegnern auf Tod und Leben verfeindet war. Vater Itzſtein machte ſeinem volksthümlichen Beinamen Ehre: er hatte trefflich verſtanden ſeiner Partei einen Nachwuchs heranzuziehen. Zu den alten Kämpen des Liberalismus geſellten ſich jetzt der feurige, herrſchſüchtige, von ſeinen Freunden Marat genannte Juriſt Sander; dann der Mann- heimer Buchhändler Baſſermann, ein warmherziger Vertreter des gebil- deten, beſitzenden Bürgerthums, der nur durch die rückhaltloſe Offenheit ſeiner Reden in den Ruf radicaler Geſinnung kam; endlich, alle Anderen überragend, Karl Mathy. Nach langen Jahren ſchließlich freigeſprochen, hatte Mathy ſein ſtilles Schulmeiſteramt in der Schweiz verlaſſen und die alte Heimath wieder aufgeſucht. In den Kreiſen der Regierung galt er faſt für den ſchlimmſten aller Demagogen; wenn er ſich langſam erhob, mit ſeinen großen, ruhigen blauen Augen den Miniſtern gerade in’s Ge- ſicht ſah und dann kalt in wohlerwogenen ironiſchen Sätzen ihnen ſeine Vorwürfe zuſchleuderte, ſo verwundete er tiefer als Welcker’s pathetiſche Entrüſtung. Und doch war er der einzige ſtaatsmänniſche Kopf in den Reihen der Oppoſition; er beſaß die Mäßigung, die der gründlichen Kennt- niß entſpringt, er verſchmähte die Phraſe, ſprach immer zur Sache, am liebſten über Finanzfragen und nur wenn ein Erfolg möglich ſchien.
Dank dem wilden Anſturm Blittersdorff’s erlebte der badiſche Libera- lismus jetzt nochmals eine Zeit der Blüthe wie einſt auf dem großen Land- tage von 1831. Was nützte es, daß die Miniſter beſchloſſen den Verhand- lungen des neuen Landtags zunächſt fern zu bleiben, damit die Oppoſition ſich durch ihre Zornreden wider die leeren Regierungsbänke lächerlich machen ſollte? Alle Welt ſah darin nur ein Zeichen der Schwäche. Mathy’s vielgeleſene Landtagszeitung verbreitete ausführliche, klug berechnete Mit- theilungen aus dem Ständeſaale bis in die entlegenſten Walddörfer. Weither, ſelbſt aus Württemberg und der bairiſchen Pfalz kamen die Neugierigen herbei; die Kammer ward zum Theater, und die Zuſchauer ſpielten mit. Welch ein Feſt, wenn der Präſident die überfüllten Gallerien wegen grober Ruheſtörung räumen ließ und bald nachher auf den Antrag eines libe- ralen Abgeordneten das ſouveräne Volk wieder eingelaſſen wurde um den Lärm von Neuem zu beginnen. Damen ſaßen auf den Stufen des Prä- ſidentenſtuhls, andere Gäſte mitten im Saale, als Baſſermann die ab- weſenden Miniſter, „die Beamten des Volks“ zur ſchuldigen Rechenſchaft vorforderte, als ergrimmte Redner die ſchmutzige Wäſche des jüngſten Wahl-
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Neue Blüthezeit des badiſchen Liberalismus.
der Grund des allgemeinen Haſſes tiefer: das Volk empfand dunkel, daß
Blittersdorff in der That darauf ausging die Landesverfaſſung, nöthigen-
falls mit Hilfe des Bundestages, umzugeſtalten. Wer die wüſte Hetzerei
dieſer Wahlkämpfe nüchtern beobachtete, mußte ſchon ahnen, daß eine Re-
volution herannahte.
Die Liberalen ſiegten vollſtändig, ſie erlangten zum erſten male ſeit
langer Zeit wieder eine ſichere Mehrheit in der zweiten Kammer, eine
Mehrheit freilich, die mit den Gegnern auf Tod und Leben verfeindet war.
Vater Itzſtein machte ſeinem volksthümlichen Beinamen Ehre: er hatte
trefflich verſtanden ſeiner Partei einen Nachwuchs heranzuziehen. Zu den
alten Kämpen des Liberalismus geſellten ſich jetzt der feurige, herrſchſüchtige,
von ſeinen Freunden Marat genannte Juriſt Sander; dann der Mann-
heimer Buchhändler Baſſermann, ein warmherziger Vertreter des gebil-
deten, beſitzenden Bürgerthums, der nur durch die rückhaltloſe Offenheit
ſeiner Reden in den Ruf radicaler Geſinnung kam; endlich, alle Anderen
überragend, Karl Mathy. Nach langen Jahren ſchließlich freigeſprochen,
hatte Mathy ſein ſtilles Schulmeiſteramt in der Schweiz verlaſſen und
die alte Heimath wieder aufgeſucht. In den Kreiſen der Regierung galt
er faſt für den ſchlimmſten aller Demagogen; wenn er ſich langſam erhob,
mit ſeinen großen, ruhigen blauen Augen den Miniſtern gerade in’s Ge-
ſicht ſah und dann kalt in wohlerwogenen ironiſchen Sätzen ihnen ſeine
Vorwürfe zuſchleuderte, ſo verwundete er tiefer als Welcker’s pathetiſche
Entrüſtung. Und doch war er der einzige ſtaatsmänniſche Kopf in den
Reihen der Oppoſition; er beſaß die Mäßigung, die der gründlichen Kennt-
niß entſpringt, er verſchmähte die Phraſe, ſprach immer zur Sache, am
liebſten über Finanzfragen und nur wenn ein Erfolg möglich ſchien.
Dank dem wilden Anſturm Blittersdorff’s erlebte der badiſche Libera-
lismus jetzt nochmals eine Zeit der Blüthe wie einſt auf dem großen Land-
tage von 1831. Was nützte es, daß die Miniſter beſchloſſen den Verhand-
lungen des neuen Landtags zunächſt fern zu bleiben, damit die Oppoſition
ſich durch ihre Zornreden wider die leeren Regierungsbänke lächerlich machen
ſollte? Alle Welt ſah darin nur ein Zeichen der Schwäche. Mathy’s
vielgeleſene Landtagszeitung verbreitete ausführliche, klug berechnete Mit-
theilungen aus dem Ständeſaale bis in die entlegenſten Walddörfer. Weither,
ſelbſt aus Württemberg und der bairiſchen Pfalz kamen die Neugierigen
herbei; die Kammer ward zum Theater, und die Zuſchauer ſpielten mit.
Welch ein Feſt, wenn der Präſident die überfüllten Gallerien wegen grober
Ruheſtörung räumen ließ und bald nachher auf den Antrag eines libe-
ralen Abgeordneten das ſouveräne Volk wieder eingelaſſen wurde um den
Lärm von Neuem zu beginnen. Damen ſaßen auf den Stufen des Prä-
ſidentenſtuhls, andere Gäſte mitten im Saale, als Baſſermann die ab-
weſenden Miniſter, „die Beamten des Volks“ zur ſchuldigen Rechenſchaft
vorforderte, als ergrimmte Redner die ſchmutzige Wäſche des jüngſten Wahl-
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 329. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/343>, abgerufen am 22.11.2024.
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