Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894.V. 1. Die frohen Tage der Erwartung. der wenigen Franzosen, welche den Schicksalen des Nachbarlandes mit Ver-ständniß folgten, Saint-Rene-Taillandier, meinte besorgt: solche Anarchie der Geister erinnere an die Zustände Frankreichs vor der Revolution. Aber in den deutschen Wirren offenbarte sich nicht wie einst in Frank- reich die Fäulniß einer sittlich zersetzten Gesellschaft, sondern der unklare Jünglingsmuth eines edlen aufstrebenden Volkes, das seine Kraft zu fühlen begann. Wie leicht eine große Idee alle diese hadernden Köpfe unter einen Hut zwingen, alle diese durch einander fluthenden Gedanken, von denen keiner die Nation ganz beherrschte, völlig überschatten konnte, das lehrte jener wunderbare Einmuth kriegerischer Begeisterung, der die Deutschen ergriff als sie ihre Westmark gefährdet sahen. Wenn der Nach- folger Friedrich Wilhelm's III. durch freien königlichen Entschluß, wie bis- her noch alle die großen Wendungen unserer Geschichte sich entschieden hatten, durch eine rechtzeitige weise Gewährung seine heimischen Verfassungs- händel schlichtete, wenn er also zugleich das Ansehen seiner Krone stärkte und die Kluft überbrückte, welche sein Preußen von den kleinen deutschen Staaten abschied, wenn er das edle Vermächtniß der Befreiungskriege, das erstarkte religiöse Leben treu behütete, ohne die freie Forschung von sich zu stoßen, dann durfte er wagen die fridericianischen Gedanken in einem großen und freien Sinne wieder aufzunehmen, das Werk des Zoll- vereins zu vollenden und mit dem Degen in der Hand für den Staat, der das Arbeitsleben der Nation bereits beherrschte, auch die Leitung der deutschen Politik zu fordern. -- Selten hat sich so fühlbar die alte Wahrheit bestätigt, daß Männer V. 1. Die frohen Tage der Erwartung. der wenigen Franzoſen, welche den Schickſalen des Nachbarlandes mit Ver-ſtändniß folgten, Saint-René-Taillandier, meinte beſorgt: ſolche Anarchie der Geiſter erinnere an die Zuſtände Frankreichs vor der Revolution. Aber in den deutſchen Wirren offenbarte ſich nicht wie einſt in Frank- reich die Fäulniß einer ſittlich zerſetzten Geſellſchaft, ſondern der unklare Jünglingsmuth eines edlen aufſtrebenden Volkes, das ſeine Kraft zu fühlen begann. Wie leicht eine große Idee alle dieſe hadernden Köpfe unter einen Hut zwingen, alle dieſe durch einander fluthenden Gedanken, von denen keiner die Nation ganz beherrſchte, völlig überſchatten konnte, das lehrte jener wunderbare Einmuth kriegeriſcher Begeiſterung, der die Deutſchen ergriff als ſie ihre Weſtmark gefährdet ſahen. Wenn der Nach- folger Friedrich Wilhelm’s III. durch freien königlichen Entſchluß, wie bis- her noch alle die großen Wendungen unſerer Geſchichte ſich entſchieden hatten, durch eine rechtzeitige weiſe Gewährung ſeine heimiſchen Verfaſſungs- händel ſchlichtete, wenn er alſo zugleich das Anſehen ſeiner Krone ſtärkte und die Kluft überbrückte, welche ſein Preußen von den kleinen deutſchen Staaten abſchied, wenn er das edle Vermächtniß der Befreiungskriege, das erſtarkte religiöſe Leben treu behütete, ohne die freie Forſchung von ſich zu ſtoßen, dann durfte er wagen die fridericianiſchen Gedanken in einem großen und freien Sinne wieder aufzunehmen, das Werk des Zoll- vereins zu vollenden und mit dem Degen in der Hand für den Staat, der das Arbeitsleben der Nation bereits beherrſchte, auch die Leitung der deutſchen Politik zu fordern. — Selten hat ſich ſo fühlbar die alte Wahrheit beſtätigt, daß Männer <TEI> <text> <body> <div n="1"> <div n="2"> <p><pb facs="#f0020" n="6"/><fw place="top" type="header"><hi rendition="#aq">V.</hi> 1. 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Eine ſo eigen-<lb/> artige Anſicht von der Vollgewalt des Königthums, wie dieſer Fürſt ſie<lb/> in begeiſtertem Herzen hegte, hatte mit der frivolen Selbſtvergötterung der<lb/> Bourbonen, mit der gedankenloſen Ruheſeligkeit der Wiener Hofburg gar<lb/> nichts, mit der pfäffiſchen Königskunſt der Stuarts auch nur wenig ge-<lb/> mein; ſie konnte, gleich dem künſtleriſchen Abſolutismus König Ludwig’s<lb/> von Baiern, nur auf deutſchem Boden erwachſen, nur auf dem Boden<lb/> jener romantiſchen Weltanſchauung, welche in der ſchrankenloſen Entfal-<lb/> tung aller Gaben, in der Selbſtgewißheit und dem Selbſtgenuſſe des<lb/> ſtolzen Ichs ihr Ideal fand. In der gedrückten und beengten Zeit rief<lb/></p> </div> </div> </body> </text> </TEI> [6/0020]
V. 1. Die frohen Tage der Erwartung.
der wenigen Franzoſen, welche den Schickſalen des Nachbarlandes mit Ver-
ſtändniß folgten, Saint-René-Taillandier, meinte beſorgt: ſolche Anarchie
der Geiſter erinnere an die Zuſtände Frankreichs vor der Revolution.
Aber in den deutſchen Wirren offenbarte ſich nicht wie einſt in Frank-
reich die Fäulniß einer ſittlich zerſetzten Geſellſchaft, ſondern der unklare
Jünglingsmuth eines edlen aufſtrebenden Volkes, das ſeine Kraft zu
fühlen begann. Wie leicht eine große Idee alle dieſe hadernden Köpfe
unter einen Hut zwingen, alle dieſe durch einander fluthenden Gedanken,
von denen keiner die Nation ganz beherrſchte, völlig überſchatten konnte,
das lehrte jener wunderbare Einmuth kriegeriſcher Begeiſterung, der die
Deutſchen ergriff als ſie ihre Weſtmark gefährdet ſahen. Wenn der Nach-
folger Friedrich Wilhelm’s III. durch freien königlichen Entſchluß, wie bis-
her noch alle die großen Wendungen unſerer Geſchichte ſich entſchieden
hatten, durch eine rechtzeitige weiſe Gewährung ſeine heimiſchen Verfaſſungs-
händel ſchlichtete, wenn er alſo zugleich das Anſehen ſeiner Krone ſtärkte
und die Kluft überbrückte, welche ſein Preußen von den kleinen deutſchen
Staaten abſchied, wenn er das edle Vermächtniß der Befreiungskriege,
das erſtarkte religiöſe Leben treu behütete, ohne die freie Forſchung von
ſich zu ſtoßen, dann durfte er wagen die fridericianiſchen Gedanken in
einem großen und freien Sinne wieder aufzunehmen, das Werk des Zoll-
vereins zu vollenden und mit dem Degen in der Hand für den Staat,
der das Arbeitsleben der Nation bereits beherrſchte, auch die Leitung der
deutſchen Politik zu fordern. —
Selten hat ſich ſo fühlbar die alte Wahrheit beſtätigt, daß Männer
den Lauf der Zeiten beherrſchen. Friedrich Wilhelm der Vierte blieb acht
Jahre hindurch der Mann des Schickſals für Deutſchland; die Kräfte,
die er weckte, und weit mehr noch die Gegenkräfte, die er wider ſich auf-
rief, trieben unſer Volk der Revolution entgegen. Aber ſelten auch ward
ſo anſchaulich, daß die Zeit ſich ihre Männer bildet. Der räthſelhafte
Charakter des neuen Königs war ſelbſt nur eine letzte feine Blüthe der
langen, kaum erſt überwundenen Epoche äſthetiſcher Ueberſchwänglichkeit;
erſt den thatkräftigeren Söhnen eines anderen abgehärteten Geſchlechts,
das die Gräuel der Revolution durch die Gaſſen hatte raſen ſehen, ſollte
gelingen was dieſen weichen Händen mißrathen mußte. Eine ſo eigen-
artige Anſicht von der Vollgewalt des Königthums, wie dieſer Fürſt ſie
in begeiſtertem Herzen hegte, hatte mit der frivolen Selbſtvergötterung der
Bourbonen, mit der gedankenloſen Ruheſeligkeit der Wiener Hofburg gar
nichts, mit der pfäffiſchen Königskunſt der Stuarts auch nur wenig ge-
mein; ſie konnte, gleich dem künſtleriſchen Abſolutismus König Ludwig’s
von Baiern, nur auf deutſchem Boden erwachſen, nur auf dem Boden
jener romantiſchen Weltanſchauung, welche in der ſchrankenloſen Entfal-
tung aller Gaben, in der Selbſtgewißheit und dem Selbſtgenuſſe des
ſtolzen Ichs ihr Ideal fand. In der gedrückten und beengten Zeit rief
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