fest. Friedrich Wilhelm ließ sich zwar, wie sein Vater, in der Regel von dem Cabinetsminister Vortrag halten, berief aber auch zuweilen kurzweg einen oder mehrere der andern Minister oder erschien unerwartet im Ministerrath; so überlastete er sich und fand schwer ein Ende.*) Um sich gegen die unberechenbaren Einfälle des Monarchen zu decken, versammelte Boyen häufiger als er vordem pflegte berathende Commissionen, in deren schwerfälligen Verhandlungen mancher gute Plan stecken blieb. Dergestalt ward seine zweite Amtsführung, wenn auch nicht unfruchtbar, doch weit weniger erfolgreich als die erste. Er empfand oft schmerzlich die Last seiner Jahre, obgleich Andere sich über seine jugendliche Frische verwunder- ten, und in seinen Augen noch immer jene verdeckte Gluth brannte, die ihm einst den Namen des stillen Löwen verschafft hatte. Mehr als das Alter hemmte ihn die Unsicherheit seiner Stellung; alle Rathgeber Fried- rich Wilhelm's überkam bald das drückende Gefühl, daß man in einer un- möglichen Zeit lebte.
Auch im Justizministerium ward ein Personenwechsel unvermeidlich. Schon gleich nach seiner Thronbesteigung (29. Juni 1840) hatte der König eine dankenswerthe Reform in der Rechtspflege herbeigeführt, indem er erklärte, es widerstrebe seinem Gefühl, die Todesurtheile förmlich zu be- stätigen. Die Krone verzichtete also auf jede unmittelbare Ausübung ihrer alten oberstrichterlichen Gewalt, sie begnügte sich fortan mit dem Rechte der Begnadigung; wenn sie von diesem Rechte keinen Gebrauch machen wollte, dann befahl sie einfach, der Gerechtigkeit freien Lauf zu lassen, so daß die Unabhängigkeit der Gerichte jetzt auch in der Form streng ge- wahrt wurde. Dieser ersten Reform sollten größere folgen, vornehmlich eine Neugestaltung des Strafverfahrens. Wie hätte Friedrich Wilhelm für solche Pläne den alten, ihm persönlich widerwärtigen Kamptz gebrauchen können, der mit allem seinem Fleiße das Werk der Gesetzrevision kaum von der Stelle gebracht hatte und, befangen in der todten Gelehrsamkeit seines geliebten Reichskammergerichts, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit als Re- liquien aus den Kinderzeiten der Rechtspflege bemitleidete? Vor Kurzem erst, bei seinem Jubiläum waren dem Demagogenverfolger mannichfache Aus- zeichnungen, sogar das Ehrenbürgerrecht der Hauptstadt zu Theil geworden. Er hielt sich für unentbehrlich, ging im Sommer 1841 wohlgemuth nach Gastein, dem Jungbrunnen der Greise, und wollte seinen Augen kaum trauen, als ihm General Thile dorthin schrieb: bei seiner "Lebens- und Geistesfülle" bedürfe der König jüngerer Diener. Kamptz sträubte sich noch heftiger denn vor drei Jahren, als man ihm die rheinische Justiz- verwaltung nahm;**) flehentlich bat er den General, selbst zu beurtheilen "ob ich jemals mit meinen Kräften zurückgeblieben bin", und beschwor
*) Thile, Bericht über die Vereinfachung des Geschäftsganges, 15. Febr. 1842.
**) S. o. IV. 551.
Boyen. Kamptz.
feſt. Friedrich Wilhelm ließ ſich zwar, wie ſein Vater, in der Regel von dem Cabinetsminiſter Vortrag halten, berief aber auch zuweilen kurzweg einen oder mehrere der andern Miniſter oder erſchien unerwartet im Miniſterrath; ſo überlaſtete er ſich und fand ſchwer ein Ende.*) Um ſich gegen die unberechenbaren Einfälle des Monarchen zu decken, verſammelte Boyen häufiger als er vordem pflegte berathende Commiſſionen, in deren ſchwerfälligen Verhandlungen mancher gute Plan ſtecken blieb. Dergeſtalt ward ſeine zweite Amtsführung, wenn auch nicht unfruchtbar, doch weit weniger erfolgreich als die erſte. Er empfand oft ſchmerzlich die Laſt ſeiner Jahre, obgleich Andere ſich über ſeine jugendliche Friſche verwunder- ten, und in ſeinen Augen noch immer jene verdeckte Gluth brannte, die ihm einſt den Namen des ſtillen Löwen verſchafft hatte. Mehr als das Alter hemmte ihn die Unſicherheit ſeiner Stellung; alle Rathgeber Fried- rich Wilhelm’s überkam bald das drückende Gefühl, daß man in einer un- möglichen Zeit lebte.
Auch im Juſtizminiſterium ward ein Perſonenwechſel unvermeidlich. Schon gleich nach ſeiner Thronbeſteigung (29. Juni 1840) hatte der König eine dankenswerthe Reform in der Rechtspflege herbeigeführt, indem er erklärte, es widerſtrebe ſeinem Gefühl, die Todesurtheile förmlich zu be- ſtätigen. Die Krone verzichtete alſo auf jede unmittelbare Ausübung ihrer alten oberſtrichterlichen Gewalt, ſie begnügte ſich fortan mit dem Rechte der Begnadigung; wenn ſie von dieſem Rechte keinen Gebrauch machen wollte, dann befahl ſie einfach, der Gerechtigkeit freien Lauf zu laſſen, ſo daß die Unabhängigkeit der Gerichte jetzt auch in der Form ſtreng ge- wahrt wurde. Dieſer erſten Reform ſollten größere folgen, vornehmlich eine Neugeſtaltung des Strafverfahrens. Wie hätte Friedrich Wilhelm für ſolche Pläne den alten, ihm perſönlich widerwärtigen Kamptz gebrauchen können, der mit allem ſeinem Fleiße das Werk der Geſetzreviſion kaum von der Stelle gebracht hatte und, befangen in der todten Gelehrſamkeit ſeines geliebten Reichskammergerichts, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit als Re- liquien aus den Kinderzeiten der Rechtspflege bemitleidete? Vor Kurzem erſt, bei ſeinem Jubiläum waren dem Demagogenverfolger mannichfache Aus- zeichnungen, ſogar das Ehrenbürgerrecht der Hauptſtadt zu Theil geworden. Er hielt ſich für unentbehrlich, ging im Sommer 1841 wohlgemuth nach Gaſtein, dem Jungbrunnen der Greiſe, und wollte ſeinen Augen kaum trauen, als ihm General Thile dorthin ſchrieb: bei ſeiner „Lebens- und Geiſtesfülle“ bedürfe der König jüngerer Diener. Kamptz ſträubte ſich noch heftiger denn vor drei Jahren, als man ihm die rheiniſche Juſtiz- verwaltung nahm;**) flehentlich bat er den General, ſelbſt zu beurtheilen „ob ich jemals mit meinen Kräften zurückgeblieben bin“, und beſchwor
*) Thile, Bericht über die Vereinfachung des Geſchäftsganges, 15. Febr. 1842.
**) S. o. IV. 551.
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Boyen. Kamptz.
feſt. Friedrich Wilhelm ließ ſich zwar, wie ſein Vater, in der Regel von
dem Cabinetsminiſter Vortrag halten, berief aber auch zuweilen kurzweg
einen oder mehrere der andern Miniſter oder erſchien unerwartet im
Miniſterrath; ſo überlaſtete er ſich und fand ſchwer ein Ende. *) Um ſich
gegen die unberechenbaren Einfälle des Monarchen zu decken, verſammelte
Boyen häufiger als er vordem pflegte berathende Commiſſionen, in deren
ſchwerfälligen Verhandlungen mancher gute Plan ſtecken blieb. Dergeſtalt
ward ſeine zweite Amtsführung, wenn auch nicht unfruchtbar, doch weit
weniger erfolgreich als die erſte. Er empfand oft ſchmerzlich die Laſt
ſeiner Jahre, obgleich Andere ſich über ſeine jugendliche Friſche verwunder-
ten, und in ſeinen Augen noch immer jene verdeckte Gluth brannte, die
ihm einſt den Namen des ſtillen Löwen verſchafft hatte. Mehr als das
Alter hemmte ihn die Unſicherheit ſeiner Stellung; alle Rathgeber Fried-
rich Wilhelm’s überkam bald das drückende Gefühl, daß man in einer un-
möglichen Zeit lebte.
Auch im Juſtizminiſterium ward ein Perſonenwechſel unvermeidlich.
Schon gleich nach ſeiner Thronbeſteigung (29. Juni 1840) hatte der König
eine dankenswerthe Reform in der Rechtspflege herbeigeführt, indem er
erklärte, es widerſtrebe ſeinem Gefühl, die Todesurtheile förmlich zu be-
ſtätigen. Die Krone verzichtete alſo auf jede unmittelbare Ausübung ihrer
alten oberſtrichterlichen Gewalt, ſie begnügte ſich fortan mit dem Rechte
der Begnadigung; wenn ſie von dieſem Rechte keinen Gebrauch machen
wollte, dann befahl ſie einfach, der Gerechtigkeit freien Lauf zu laſſen,
ſo daß die Unabhängigkeit der Gerichte jetzt auch in der Form ſtreng ge-
wahrt wurde. Dieſer erſten Reform ſollten größere folgen, vornehmlich
eine Neugeſtaltung des Strafverfahrens. Wie hätte Friedrich Wilhelm
für ſolche Pläne den alten, ihm perſönlich widerwärtigen Kamptz gebrauchen
können, der mit allem ſeinem Fleiße das Werk der Geſetzreviſion kaum von
der Stelle gebracht hatte und, befangen in der todten Gelehrſamkeit ſeines
geliebten Reichskammergerichts, Oeffentlichkeit und Mündlichkeit als Re-
liquien aus den Kinderzeiten der Rechtspflege bemitleidete? Vor Kurzem
erſt, bei ſeinem Jubiläum waren dem Demagogenverfolger mannichfache Aus-
zeichnungen, ſogar das Ehrenbürgerrecht der Hauptſtadt zu Theil geworden.
Er hielt ſich für unentbehrlich, ging im Sommer 1841 wohlgemuth nach
Gaſtein, dem Jungbrunnen der Greiſe, und wollte ſeinen Augen kaum
trauen, als ihm General Thile dorthin ſchrieb: bei ſeiner „Lebens- und
Geiſtesfülle“ bedürfe der König jüngerer Diener. Kamptz ſträubte ſich
noch heftiger denn vor drei Jahren, als man ihm die rheiniſche Juſtiz-
verwaltung nahm; **) flehentlich bat er den General, ſelbſt zu beurtheilen
„ob ich jemals mit meinen Kräften zurückgeblieben bin“, und beſchwor
*) Thile, Bericht über die Vereinfachung des Geſchäftsganges, 15. Febr. 1842.
**) S. o. IV. 551.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 155. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/169>, abgerufen am 23.11.2024.
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