Auch die wohlgemeinte Politik Preußens erntete in diesem diploma- tischen Spiele keine Lorbeeren. Friedrich Wilhelm hatte sich durch Pal- merston und Bülow unbedacht in einen Streit verwickeln lassen, welcher dem Machtgebiete seines Staates fern lag, und war alsdann den englisch- russischen Ränken so lange gefolgt, bis er endlich gezwungen wurde, sich unter mannischfachen, wenig rühmlichen Windungen aus einer selbstver- schuldeten falschen Stellung wieder hinauszuretten. Er wünschte auf- richtig den Bestand des Julikönigthums, das er früher gehaßt hatte, jetzt aber als ein letztes Bollwerk der bürgerlichen Ordnung hochschätzte; und doch half er selbst mit, durch den Julivertrag die Grundlagen dieser Monar- chie zu erschüttern, eine neue französische Revolution vorzubereiten, welche ihre Brandfackel leicht nach Deutschland hinüberschleudern konnte. Als die Rheingrenze bedroht ward erfüllte er ehrenhaft seine Pflicht gegen das Vaterland; aber wie unklar erschien seine hochherzige Bundespolitik. Wo war denn jener Deutsche Bund, der in den Depeschen der Hofburg als die erste der europäischen Mächte gefeiert wurde? Auf der Londoner Con- ferenz besaß er nicht einmal einen Vertreter. Es zeigte sich zur Beschä- mung der Phantasten, daß für Europa ein Deutschland neben Oesterreich und Preußen überhaupt nicht vorhanden war. Friedrich Wilhelm's deut- sche Politik rechnete mit Faktoren, welche nirgends bestanden. Und zu Alledem noch die klägliche Ohnmacht des altersschwachen Oesterreichs, die sich durch Metternich's hochtrabende Denkschriften längst nicht mehr be- mänteln ließ.
Nach dem großen Versöhnungsfeste des Meerengen-Vertrages war Europa tiefer denn jemals zerspaltet. Von den alten Allianzen stand keine mehr ganz fest, neue hatten sich nicht gebildet. Das Staatensystem der Wiener Verträge trieb rathlos einer furchtbaren Erschütterung ent- gegen, wenn sich nicht noch in der elften Stunde ein genialer Wille fand, der die zersplitterten Kräfte Mitteleuropas zu einer geschlossenen Macht zusammenballte. --
Schwerlich wäre König Friedrich Wilhelm an die Gefahren eines allgemeinen Krieges so nahe herangetreten, wenn nicht die religiöse Be- geisterung bei seinen Entschlüssen mitgewirkt hätte. Indem er sich für die Unantastbarkeit der Türkenherrschaft aussprach, glaubte er, seltsam genug, den philhellenischen Gesinnungen seiner Jugend keineswegs untreu zu werden. Das herrische Eingreifen der europäischen Mächte in die inneren Verhältnisse des Orients erschien ihm vielmehr wie eine Erneue- rung der Kreuzzüge, wie ein Sieg des Kreuzes über den Halbmond, und von vornherein sprach er die Erwartung aus, diese Gelegenheit müsse be- nutzt werden um allen christlichen Kirchen auf dem Berge Zion eine Heimath zu sichern. Jerusalem war die heiligste Stätte der Christenheit,
V. 2. Die Kriegsgefahr.
Auch die wohlgemeinte Politik Preußens erntete in dieſem diploma- tiſchen Spiele keine Lorbeeren. Friedrich Wilhelm hatte ſich durch Pal- merſton und Bülow unbedacht in einen Streit verwickeln laſſen, welcher dem Machtgebiete ſeines Staates fern lag, und war alsdann den engliſch- ruſſiſchen Ränken ſo lange gefolgt, bis er endlich gezwungen wurde, ſich unter manniſchfachen, wenig rühmlichen Windungen aus einer ſelbſtver- ſchuldeten falſchen Stellung wieder hinauszuretten. Er wünſchte auf- richtig den Beſtand des Julikönigthums, das er früher gehaßt hatte, jetzt aber als ein letztes Bollwerk der bürgerlichen Ordnung hochſchätzte; und doch half er ſelbſt mit, durch den Julivertrag die Grundlagen dieſer Monar- chie zu erſchüttern, eine neue franzöſiſche Revolution vorzubereiten, welche ihre Brandfackel leicht nach Deutſchland hinüberſchleudern konnte. Als die Rheingrenze bedroht ward erfüllte er ehrenhaft ſeine Pflicht gegen das Vaterland; aber wie unklar erſchien ſeine hochherzige Bundespolitik. Wo war denn jener Deutſche Bund, der in den Depeſchen der Hofburg als die erſte der europäiſchen Mächte gefeiert wurde? Auf der Londoner Con- ferenz beſaß er nicht einmal einen Vertreter. Es zeigte ſich zur Beſchä- mung der Phantaſten, daß für Europa ein Deutſchland neben Oeſterreich und Preußen überhaupt nicht vorhanden war. Friedrich Wilhelm’s deut- ſche Politik rechnete mit Faktoren, welche nirgends beſtanden. Und zu Alledem noch die klägliche Ohnmacht des altersſchwachen Oeſterreichs, die ſich durch Metternich’s hochtrabende Denkſchriften längſt nicht mehr be- mänteln ließ.
Nach dem großen Verſöhnungsfeſte des Meerengen-Vertrages war Europa tiefer denn jemals zerſpaltet. Von den alten Allianzen ſtand keine mehr ganz feſt, neue hatten ſich nicht gebildet. Das Staatenſyſtem der Wiener Verträge trieb rathlos einer furchtbaren Erſchütterung ent- gegen, wenn ſich nicht noch in der elften Stunde ein genialer Wille fand, der die zerſplitterten Kräfte Mitteleuropas zu einer geſchloſſenen Macht zuſammenballte. —
Schwerlich wäre König Friedrich Wilhelm an die Gefahren eines allgemeinen Krieges ſo nahe herangetreten, wenn nicht die religiöſe Be- geiſterung bei ſeinen Entſchlüſſen mitgewirkt hätte. Indem er ſich für die Unantaſtbarkeit der Türkenherrſchaft ausſprach, glaubte er, ſeltſam genug, den philhelleniſchen Geſinnungen ſeiner Jugend keineswegs untreu zu werden. Das herriſche Eingreifen der europäiſchen Mächte in die inneren Verhältniſſe des Orients erſchien ihm vielmehr wie eine Erneue- rung der Kreuzzüge, wie ein Sieg des Kreuzes über den Halbmond, und von vornherein ſprach er die Erwartung aus, dieſe Gelegenheit müſſe be- nutzt werden um allen chriſtlichen Kirchen auf dem Berge Zion eine Heimath zu ſichern. Jeruſalem war die heiligſte Stätte der Chriſtenheit,
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Auch die wohlgemeinte Politik Preußens erntete in dieſem diploma-
tiſchen Spiele keine Lorbeeren. Friedrich Wilhelm hatte ſich durch Pal-
merſton und Bülow unbedacht in einen Streit verwickeln laſſen, welcher
dem Machtgebiete ſeines Staates fern lag, und war alsdann den engliſch-
ruſſiſchen Ränken ſo lange gefolgt, bis er endlich gezwungen wurde, ſich
unter manniſchfachen, wenig rühmlichen Windungen aus einer ſelbſtver-
ſchuldeten falſchen Stellung wieder hinauszuretten. Er wünſchte auf-
richtig den Beſtand des Julikönigthums, das er früher gehaßt hatte, jetzt
aber als ein letztes Bollwerk der bürgerlichen Ordnung hochſchätzte; und
doch half er ſelbſt mit, durch den Julivertrag die Grundlagen dieſer Monar-
chie zu erſchüttern, eine neue franzöſiſche Revolution vorzubereiten, welche
ihre Brandfackel leicht nach Deutſchland hinüberſchleudern konnte. Als die
Rheingrenze bedroht ward erfüllte er ehrenhaft ſeine Pflicht gegen das
Vaterland; aber wie unklar erſchien ſeine hochherzige Bundespolitik. Wo
war denn jener Deutſche Bund, der in den Depeſchen der Hofburg als
die erſte der europäiſchen Mächte gefeiert wurde? Auf der Londoner Con-
ferenz beſaß er nicht einmal einen Vertreter. Es zeigte ſich zur Beſchä-
mung der Phantaſten, daß für Europa ein Deutſchland neben Oeſterreich
und Preußen überhaupt nicht vorhanden war. Friedrich Wilhelm’s deut-
ſche Politik rechnete mit Faktoren, welche nirgends beſtanden. Und zu
Alledem noch die klägliche Ohnmacht des altersſchwachen Oeſterreichs, die
ſich durch Metternich’s hochtrabende Denkſchriften längſt nicht mehr be-
mänteln ließ.
Nach dem großen Verſöhnungsfeſte des Meerengen-Vertrages war
Europa tiefer denn jemals zerſpaltet. Von den alten Allianzen ſtand
keine mehr ganz feſt, neue hatten ſich nicht gebildet. Das Staatenſyſtem
der Wiener Verträge trieb rathlos einer furchtbaren Erſchütterung ent-
gegen, wenn ſich nicht noch in der elften Stunde ein genialer Wille fand,
der die zerſplitterten Kräfte Mitteleuropas zu einer geſchloſſenen Macht
zuſammenballte. —
Schwerlich wäre König Friedrich Wilhelm an die Gefahren eines
allgemeinen Krieges ſo nahe herangetreten, wenn nicht die religiöſe Be-
geiſterung bei ſeinen Entſchlüſſen mitgewirkt hätte. Indem er ſich für
die Unantaſtbarkeit der Türkenherrſchaft ausſprach, glaubte er, ſeltſam
genug, den philhelleniſchen Geſinnungen ſeiner Jugend keineswegs untreu
zu werden. Das herriſche Eingreifen der europäiſchen Mächte in die
inneren Verhältniſſe des Orients erſchien ihm vielmehr wie eine Erneue-
rung der Kreuzzüge, wie ein Sieg des Kreuzes über den Halbmond, und
von vornherein ſprach er die Erwartung aus, dieſe Gelegenheit müſſe be-
nutzt werden um allen chriſtlichen Kirchen auf dem Berge Zion eine
Heimath zu ſichern. Jeruſalem war die heiligſte Stätte der Chriſtenheit,
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im Neunzehnten Jahrhundert. Bd. 5: Bis zur März-Revolution. Leipzig, 1894, S. 120. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte05_1894/134>, abgerufen am 23.11.2024.
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