Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. sie die helvetische Republik dem französischen Einheitsstaate nachbildetenund dann die Mediationsakte aus Bonaparte's Hand entgegennahmen. Obwohl ermuthigt durch das Beispiel der Franzosen bewahrte die Revo- lution hier ihren schweizerischen Charakter und darum nachhaltige Lebens- kraft; sie erstrebte das Ziel der reinen Volksherrschaft, das sich aus der neueren Geschichte der Eidgenossenschaft mit Nothwendigkeit ergab. Nicht ohne Roheit und Gewaltthat, aber auch ohne schweren Bürgerkrieg, wurden in mehreren Cantonen, zumal in den größten und reichsten, die Herr- schaft der Hauptstädte sowie die Vorrechte der Patricier gebrochen und demokratische Staatsformen eingeführt, deren Schwerpunkt in der erwählten Volksvertretung, dem Großen Rathe lag. Mit den demokratischen Ge- danken verband sich das Verlangen nach Reform der lockeren Bundes- verfassung. Indeß vermochte der Einheitsdrang in diesem classischen Lande des Föderalismus niemals so übermächtig zu werden, wie in Deutschland oder Italien. Die alten kleinen Händel der Landschaften währten fort; in Schwyz ward der Versuch gewagt den Canton in zwei Hälften zu zer- schlagen, und das radicale Baselland riß sich als souveräner Halbcanton von der conservativen Stadt Basel los. Da die Tagsatzung sich zu schwach fühlte alle diese Parteikämpfe zu beherrschen, so nahm sie den modischen Grundsatz der Nicht-Einmischung an. Ein solcher Beschluß augenblick- licher Verlegenheit konnte auf die Dauer nicht vorhalten; früher oder später mußten die Verfassungs-Aenderungen der Cantone auf den Bund zurückwirken. Dies erkannte auch Metternich mit dem Scharfblicke des Hasses. Er wußte, wie eifrig der Pariser Hof, der allein bei der Tag- satzung einen Botschafter unterhielt, sich wieder um die schweizerische Schirmherrschaft bemühte;*) auch fürchtete er, die Einheitsbewegung der Eidgenossen könne den Deutschen ein übles Beispiel geben. In seiner Angst sah er die Schweiz schon wieder dem Einheitsstaate der helvetischen Republik zutreiben und gab den Ostmächten zu erwägen, ob man eine solche Aenderung dulden könne, da doch jeder Canton ein wohlerworbens Recht auf Erhaltung der alten Verfassung besitze und die Schweiz nur als Staatenbund von den großen Mächten anerkannt worden sei.**) In der Menge dieser Gegensätze, welche den Welttheil erfüllten, lag *) Otterstedt's Bericht, Bern 12. Juli 1830. **) Metternicht, Memorandum sur les affaires de la Suisse 23. Nov 1831.
IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede. ſie die helvetiſche Republik dem franzöſiſchen Einheitsſtaate nachbildetenund dann die Mediationsakte aus Bonaparte’s Hand entgegennahmen. Obwohl ermuthigt durch das Beiſpiel der Franzoſen bewahrte die Revo- lution hier ihren ſchweizeriſchen Charakter und darum nachhaltige Lebens- kraft; ſie erſtrebte das Ziel der reinen Volksherrſchaft, das ſich aus der neueren Geſchichte der Eidgenoſſenſchaft mit Nothwendigkeit ergab. Nicht ohne Roheit und Gewaltthat, aber auch ohne ſchweren Bürgerkrieg, wurden in mehreren Cantonen, zumal in den größten und reichſten, die Herr- ſchaft der Hauptſtädte ſowie die Vorrechte der Patricier gebrochen und demokratiſche Staatsformen eingeführt, deren Schwerpunkt in der erwählten Volksvertretung, dem Großen Rathe lag. Mit den demokratiſchen Ge- danken verband ſich das Verlangen nach Reform der lockeren Bundes- verfaſſung. Indeß vermochte der Einheitsdrang in dieſem claſſiſchen Lande des Föderalismus niemals ſo übermächtig zu werden, wie in Deutſchland oder Italien. Die alten kleinen Händel der Landſchaften währten fort; in Schwyz ward der Verſuch gewagt den Canton in zwei Hälften zu zer- ſchlagen, und das radicale Baſelland riß ſich als ſouveräner Halbcanton von der conſervativen Stadt Baſel los. Da die Tagſatzung ſich zu ſchwach fühlte alle dieſe Parteikämpfe zu beherrſchen, ſo nahm ſie den modiſchen Grundſatz der Nicht-Einmiſchung an. Ein ſolcher Beſchluß augenblick- licher Verlegenheit konnte auf die Dauer nicht vorhalten; früher oder ſpäter mußten die Verfaſſungs-Aenderungen der Cantone auf den Bund zurückwirken. Dies erkannte auch Metternich mit dem Scharfblicke des Haſſes. Er wußte, wie eifrig der Pariſer Hof, der allein bei der Tag- ſatzung einen Botſchafter unterhielt, ſich wieder um die ſchweizeriſche Schirmherrſchaft bemühte;*) auch fürchtete er, die Einheitsbewegung der Eidgenoſſen könne den Deutſchen ein übles Beiſpiel geben. In ſeiner Angſt ſah er die Schweiz ſchon wieder dem Einheitsſtaate der helvetiſchen Republik zutreiben und gab den Oſtmächten zu erwägen, ob man eine ſolche Aenderung dulden könne, da doch jeder Canton ein wohlerworbens Recht auf Erhaltung der alten Verfaſſung beſitze und die Schweiz nur als Staatenbund von den großen Mächten anerkannt worden ſei.**) In der Menge dieſer Gegenſätze, welche den Welttheil erfüllten, lag *) Otterſtedt’s Bericht, Bern 12. Juli 1830. **) Metternicht, Memorandum sur les affaires de la Suisse 23. Nov 1831.
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IV. 1. Die Juli-Revolution und der Weltfriede.
ſie die helvetiſche Republik dem franzöſiſchen Einheitsſtaate nachbildeten
und dann die Mediationsakte aus Bonaparte’s Hand entgegennahmen.
Obwohl ermuthigt durch das Beiſpiel der Franzoſen bewahrte die Revo-
lution hier ihren ſchweizeriſchen Charakter und darum nachhaltige Lebens-
kraft; ſie erſtrebte das Ziel der reinen Volksherrſchaft, das ſich aus der
neueren Geſchichte der Eidgenoſſenſchaft mit Nothwendigkeit ergab. Nicht
ohne Roheit und Gewaltthat, aber auch ohne ſchweren Bürgerkrieg, wurden
in mehreren Cantonen, zumal in den größten und reichſten, die Herr-
ſchaft der Hauptſtädte ſowie die Vorrechte der Patricier gebrochen und
demokratiſche Staatsformen eingeführt, deren Schwerpunkt in der erwählten
Volksvertretung, dem Großen Rathe lag. Mit den demokratiſchen Ge-
danken verband ſich das Verlangen nach Reform der lockeren Bundes-
verfaſſung. Indeß vermochte der Einheitsdrang in dieſem claſſiſchen Lande
des Föderalismus niemals ſo übermächtig zu werden, wie in Deutſchland
oder Italien. Die alten kleinen Händel der Landſchaften währten fort;
in Schwyz ward der Verſuch gewagt den Canton in zwei Hälften zu zer-
ſchlagen, und das radicale Baſelland riß ſich als ſouveräner Halbcanton
von der conſervativen Stadt Baſel los. Da die Tagſatzung ſich zu ſchwach
fühlte alle dieſe Parteikämpfe zu beherrſchen, ſo nahm ſie den modiſchen
Grundſatz der Nicht-Einmiſchung an. Ein ſolcher Beſchluß augenblick-
licher Verlegenheit konnte auf die Dauer nicht vorhalten; früher oder
ſpäter mußten die Verfaſſungs-Aenderungen der Cantone auf den Bund
zurückwirken. Dies erkannte auch Metternich mit dem Scharfblicke des
Haſſes. Er wußte, wie eifrig der Pariſer Hof, der allein bei der Tag-
ſatzung einen Botſchafter unterhielt, ſich wieder um die ſchweizeriſche
Schirmherrſchaft bemühte; *) auch fürchtete er, die Einheitsbewegung der
Eidgenoſſen könne den Deutſchen ein übles Beiſpiel geben. In ſeiner
Angſt ſah er die Schweiz ſchon wieder dem Einheitsſtaate der helvetiſchen
Republik zutreiben und gab den Oſtmächten zu erwägen, ob man eine
ſolche Aenderung dulden könne, da doch jeder Canton ein wohlerworbens
Recht auf Erhaltung der alten Verfaſſung beſitze und die Schweiz nur
als Staatenbund von den großen Mächten anerkannt worden ſei. **)
In der Menge dieſer Gegenſätze, welche den Welttheil erfüllten, lag
doch einige Gewähr für den allgemeinen Frieden. Nur die Selbſtüber-
hebung des Czaren Nikolaus mochte ſich’s zutrauen alle dieſe Knoten
zugleich mit dem Schwerte zu durchhauen. Vorderhand waren die Oſt-
mächte durch Polen und Italien beengt, die Weſtmächte durch innere Ver-
legenheiten. So konnte denn die Vermittlungsarbeit der Londoner Con-
ferenz ſtätig voranſchreiten, freilich nur unter wiederholten gefährlichen
Rückſchlägen, die zumeiſt durch Frankreichs Doppelſpiel verſchuldet wurden.
*) Otterſtedt’s Bericht, Bern 12. Juli 1830.
**) Metternicht, Memorandum sur les affaires de la Suisse 23. Nov 1831.
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