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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Die große Woche in Warschau.
sicht schlug, jedem Hochverrath einen Freipaß ausstellte. Der Adel froh-
lockte, er war längst gewohnt alle Staatsverbrecher als Patrioten zu
verherrlichen. Die Krone aber nahm die Verhöhnung ohne Widerstand
hin, und seitdem führten die Polen mit wachsender Dreistigkeit jenen
kleinen Krieg gegen die Behörden, dessen Neckereien ihnen ebenso ge-
läufig waren wie den geknechteten Völkern Südeuropas; Händel anzu-
fangen mit der Obrigkeit und dann den Märtyrer zu spielen gehörte
zum guten Tone unter den jungen Männern.

Als nun Lafayette, der alte Waffengefährte Kosciuszko's, die geliebte
Tricolore wieder schwenkte, da wirbelte die Begeisterung hoch auf. In der
Jugend wurden die Träume der neunziger Jahre, im Heere die napo-
leonischen Erinnerungen wieder lebendig; Niemand in diesen Adelskreisen
bezweifelte, daß jetzt auch für Polen die Stunde der Befreiung geschlagen
habe. Sendboten der französischen Radicalen mahnten zu rascher That,
aus Petersburg aber kam das Gerücht, daß Czar Nikolaus gegen Frank-
reich kämpfen, das polnische Heer als Vorhut voraussenden wolle. Noch
bestand kein fester Plan für den Aufruhr, jedoch bei der allgemeinen Un-
treue genügte ein Funke den Brand zu wecken. Die Entscheidung fiel,
als eine Handvoll junger Offiziere, Fähnriche, Studenten einen Mord-
versuch gegen den Statthalter unternahm, dann einige Generale meuchlings
niederstieß und den Warschauer Pöbel zu den Waffen rief. Großfürst
Constantin verlor Muth und Fassung; er hatte die Polen auf seine
Weise lieb gewonnen und scheute sich in ihre Händel einzugreifen. "Ich
und die Meinen, wir wollen rein aus diesen Wirren hervorgehen" -- so
entschuldigte er seine Schwäche.*) Ohne einen Widerstand zu wagen, zog
er mit seinen russischen Regimentern heimwärts und überließ das Land
seinem Schicksale. Das ganze Königreich mitsammt den starken Festungen
des Weichselthals schloß sich sofort der Sache der Sieger an. Das war
kein Aufstand mehr. Ein selbständiger Staat mit geordneten Behörden,
mit vollem Schatze und wohlgerüstetem Heere trat Macht gegen Macht
dem Czarenreiche gegenüber; nur durch einen Krieg konnte er bezwungen
werden.

Inzwischen nahmen die Dinge in Warschau den herkömmlichen
Verlauf aller polnischen Revolutionen: Kampflust und Opfermuth im
Ueberschwang, flammende Reden und brüderliche Umarmungen, zeternde
Priester und hochsinnige schöne Frauen, dazu Punsch und Mazurka so-
viel das Herz begehrte, aber daneben auch Parteihaß, Unbotmäßigkeit,
wüthende Anklagen herüber und hinüber, und in diesem Gewoge tapferer
begeisterter Männer kein einziger staatsmännischer Kopf, kein einziger
großer Charakter. Für die Massen des Volks und ihre Leiden hatten
die Freiheitsredner dieser Adelsverschwörung kein Auge; der Antrag die

*) Schmidt's Bericht, 14. December 1830.

Die große Woche in Warſchau.
ſicht ſchlug, jedem Hochverrath einen Freipaß ausſtellte. Der Adel froh-
lockte, er war längſt gewohnt alle Staatsverbrecher als Patrioten zu
verherrlichen. Die Krone aber nahm die Verhöhnung ohne Widerſtand
hin, und ſeitdem führten die Polen mit wachſender Dreiſtigkeit jenen
kleinen Krieg gegen die Behörden, deſſen Neckereien ihnen ebenſo ge-
läufig waren wie den geknechteten Völkern Südeuropas; Händel anzu-
fangen mit der Obrigkeit und dann den Märtyrer zu ſpielen gehörte
zum guten Tone unter den jungen Männern.

Als nun Lafayette, der alte Waffengefährte Koſciuszko’s, die geliebte
Tricolore wieder ſchwenkte, da wirbelte die Begeiſterung hoch auf. In der
Jugend wurden die Träume der neunziger Jahre, im Heere die napo-
leoniſchen Erinnerungen wieder lebendig; Niemand in dieſen Adelskreiſen
bezweifelte, daß jetzt auch für Polen die Stunde der Befreiung geſchlagen
habe. Sendboten der franzöſiſchen Radicalen mahnten zu raſcher That,
aus Petersburg aber kam das Gerücht, daß Czar Nikolaus gegen Frank-
reich kämpfen, das polniſche Heer als Vorhut vorausſenden wolle. Noch
beſtand kein feſter Plan für den Aufruhr, jedoch bei der allgemeinen Un-
treue genügte ein Funke den Brand zu wecken. Die Entſcheidung fiel,
als eine Handvoll junger Offiziere, Fähnriche, Studenten einen Mord-
verſuch gegen den Statthalter unternahm, dann einige Generale meuchlings
niederſtieß und den Warſchauer Pöbel zu den Waffen rief. Großfürſt
Conſtantin verlor Muth und Faſſung; er hatte die Polen auf ſeine
Weiſe lieb gewonnen und ſcheute ſich in ihre Händel einzugreifen. „Ich
und die Meinen, wir wollen rein aus dieſen Wirren hervorgehen“ — ſo
entſchuldigte er ſeine Schwäche.*) Ohne einen Widerſtand zu wagen, zog
er mit ſeinen ruſſiſchen Regimentern heimwärts und überließ das Land
ſeinem Schickſale. Das ganze Königreich mitſammt den ſtarken Feſtungen
des Weichſelthals ſchloß ſich ſofort der Sache der Sieger an. Das war
kein Aufſtand mehr. Ein ſelbſtändiger Staat mit geordneten Behörden,
mit vollem Schatze und wohlgerüſtetem Heere trat Macht gegen Macht
dem Czarenreiche gegenüber; nur durch einen Krieg konnte er bezwungen
werden.

Inzwiſchen nahmen die Dinge in Warſchau den herkömmlichen
Verlauf aller polniſchen Revolutionen: Kampfluſt und Opfermuth im
Ueberſchwang, flammende Reden und brüderliche Umarmungen, zeternde
Prieſter und hochſinnige ſchöne Frauen, dazu Punſch und Mazurka ſo-
viel das Herz begehrte, aber daneben auch Parteihaß, Unbotmäßigkeit,
wüthende Anklagen herüber und hinüber, und in dieſem Gewoge tapferer
begeiſterter Männer kein einziger ſtaatsmänniſcher Kopf, kein einziger
großer Charakter. Für die Maſſen des Volks und ihre Leiden hatten
die Freiheitsredner dieſer Adelsverſchwörung kein Auge; der Antrag die

*) Schmidt’s Bericht, 14. December 1830.
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[59/0073] Die große Woche in Warſchau. ſicht ſchlug, jedem Hochverrath einen Freipaß ausſtellte. Der Adel froh- lockte, er war längſt gewohnt alle Staatsverbrecher als Patrioten zu verherrlichen. Die Krone aber nahm die Verhöhnung ohne Widerſtand hin, und ſeitdem führten die Polen mit wachſender Dreiſtigkeit jenen kleinen Krieg gegen die Behörden, deſſen Neckereien ihnen ebenſo ge- läufig waren wie den geknechteten Völkern Südeuropas; Händel anzu- fangen mit der Obrigkeit und dann den Märtyrer zu ſpielen gehörte zum guten Tone unter den jungen Männern. Als nun Lafayette, der alte Waffengefährte Koſciuszko’s, die geliebte Tricolore wieder ſchwenkte, da wirbelte die Begeiſterung hoch auf. In der Jugend wurden die Träume der neunziger Jahre, im Heere die napo- leoniſchen Erinnerungen wieder lebendig; Niemand in dieſen Adelskreiſen bezweifelte, daß jetzt auch für Polen die Stunde der Befreiung geſchlagen habe. Sendboten der franzöſiſchen Radicalen mahnten zu raſcher That, aus Petersburg aber kam das Gerücht, daß Czar Nikolaus gegen Frank- reich kämpfen, das polniſche Heer als Vorhut vorausſenden wolle. Noch beſtand kein feſter Plan für den Aufruhr, jedoch bei der allgemeinen Un- treue genügte ein Funke den Brand zu wecken. Die Entſcheidung fiel, als eine Handvoll junger Offiziere, Fähnriche, Studenten einen Mord- verſuch gegen den Statthalter unternahm, dann einige Generale meuchlings niederſtieß und den Warſchauer Pöbel zu den Waffen rief. Großfürſt Conſtantin verlor Muth und Faſſung; er hatte die Polen auf ſeine Weiſe lieb gewonnen und ſcheute ſich in ihre Händel einzugreifen. „Ich und die Meinen, wir wollen rein aus dieſen Wirren hervorgehen“ — ſo entſchuldigte er ſeine Schwäche. *) Ohne einen Widerſtand zu wagen, zog er mit ſeinen ruſſiſchen Regimentern heimwärts und überließ das Land ſeinem Schickſale. Das ganze Königreich mitſammt den ſtarken Feſtungen des Weichſelthals ſchloß ſich ſofort der Sache der Sieger an. Das war kein Aufſtand mehr. Ein ſelbſtändiger Staat mit geordneten Behörden, mit vollem Schatze und wohlgerüſtetem Heere trat Macht gegen Macht dem Czarenreiche gegenüber; nur durch einen Krieg konnte er bezwungen werden. Inzwiſchen nahmen die Dinge in Warſchau den herkömmlichen Verlauf aller polniſchen Revolutionen: Kampfluſt und Opfermuth im Ueberſchwang, flammende Reden und brüderliche Umarmungen, zeternde Prieſter und hochſinnige ſchöne Frauen, dazu Punſch und Mazurka ſo- viel das Herz begehrte, aber daneben auch Parteihaß, Unbotmäßigkeit, wüthende Anklagen herüber und hinüber, und in dieſem Gewoge tapferer begeiſterter Männer kein einziger ſtaatsmänniſcher Kopf, kein einziger großer Charakter. Für die Maſſen des Volks und ihre Leiden hatten die Freiheitsredner dieſer Adelsverſchwörung kein Auge; der Antrag die *) Schmidt’s Bericht, 14. December 1830.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 59. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/73>, abgerufen am 26.11.2024.