Landes zu sprechen. Der Welfe hatte sein eigenes Volk unritterlich ent- waffnet, wie Canitz bitter sagte, er hatte durch die Auflösung des recht- mäßigen Landtags die einzige Körperschaft vernichtet, welche unzweifelhaft berechtigt war, beim Bundestage die Wiederherstellung des Staatsgrund- gesetzes zu verlangen. Doch unmöglich konnte der ernste Streit mit solchen Formbedenken erledigt werden. Wenn das hannöversche Volk nicht reden durfte, so war doch sicherlich der Bund selbst verpflichtet, den Art. 56 der Schlußakte aufrecht zu halten.
Demnach sprach der Bundestag, indem er die Osnabrücker abwies, zugleich die Erwartung aus, daß Hannover noch eine weitere Erklärung über seine Verfassungsverhältnisse abgeben werde, und Stralenheim ver- sprach binnen vier bis sechs Wochen dieser Aufforderung zu genügen. Die entscheidende Abstimmung stand also noch bevor. Aber die Frist verstrich; Ernst August hoffte noch immer die Dinge so lange hinzuhalten, bis er die Bundesversammlung durch die vollendete Thatsache einer neuen han- növerschen Verfassung zur Seite schieben könnte. Erst am 29. November, in dem Augenblicke, da der Bundestag sich auf mehrere Monate vertagte, zeigte Stralenheim an, die versprochene Erklärung sei jetzt den Bundes- regierungen zugegangen; er hatte sie während der Sitzung den Bundes- gesandten ins Haus gesendet, und diese konnten, da sie weder das Aktenstück selber kannten noch von daheim eine Weisung erhalten hatten, nicht einmal mehr gegen diese Verhöhnung des Bundestags sich verwahren. Es war unmöglich eine schlechte Sache mit schlechteren Mitteln zu vertheidigen.
Die überraschte Versammlung trennte sich ohne einen Beschluß, der Unmuth vermochte sich nur in leidenschaftlichen Gesprächen zu äußern. General Schöler selbst, den das welfische Treiben mehr und mehr an- widerte, wagte nur wehmüthig den dringenden Wunsch auszusprechen, "daß dieser Vorgang bei dem großen Publikum nicht zur Vermehrung der ohnehin schon so weit gehenden Nichtachtung des Bundestags beitragen möge;" er befürchtete sehr schlimme Folgen für Deutschland, wenn Ernst August sich nicht bald mit seinem Lande versöhne.*) Die hannöversche Erklärung war nicht an den Bundestag gerichtet, sondern an die einzelnen Regierungen, so daß sie gar nicht in die Bundesprotokolle aufgenommen werden durfte und selbst der immer bedächtige sächsische Minister Zeschau eine solche Un- gezogenheit ganz unerträglich fand.**) Sie bestand aus zwei Denkschriften, von denen die eine nochmals behauptete, die Verfassung von 1819 bestehe zu Recht, weil der alte Landtag versammelt sei. Also mußte die gutmüthige Nachgiebigkeit seiner Unterthanen dem Welfen in der That als eine Schlinge dienen, wie Canitz vorausgesagt. Die zweite Denkschrift suchte zu be- weisen, das Staatsgrundgesetz sei ungiltig, wegen seiner formalen Mängel
*) Schöler's Berichte, 30. Nov., 5. Dec. 1838.
**) Jordan's Bericht, 24. Jan. 1839.
IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
Landes zu ſprechen. Der Welfe hatte ſein eigenes Volk unritterlich ent- waffnet, wie Canitz bitter ſagte, er hatte durch die Auflöſung des recht- mäßigen Landtags die einzige Körperſchaft vernichtet, welche unzweifelhaft berechtigt war, beim Bundestage die Wiederherſtellung des Staatsgrund- geſetzes zu verlangen. Doch unmöglich konnte der ernſte Streit mit ſolchen Formbedenken erledigt werden. Wenn das hannöverſche Volk nicht reden durfte, ſo war doch ſicherlich der Bund ſelbſt verpflichtet, den Art. 56 der Schlußakte aufrecht zu halten.
Demnach ſprach der Bundestag, indem er die Osnabrücker abwies, zugleich die Erwartung aus, daß Hannover noch eine weitere Erklärung über ſeine Verfaſſungsverhältniſſe abgeben werde, und Stralenheim ver- ſprach binnen vier bis ſechs Wochen dieſer Aufforderung zu genügen. Die entſcheidende Abſtimmung ſtand alſo noch bevor. Aber die Friſt verſtrich; Ernſt Auguſt hoffte noch immer die Dinge ſo lange hinzuhalten, bis er die Bundesverſammlung durch die vollendete Thatſache einer neuen han- növerſchen Verfaſſung zur Seite ſchieben könnte. Erſt am 29. November, in dem Augenblicke, da der Bundestag ſich auf mehrere Monate vertagte, zeigte Stralenheim an, die verſprochene Erklärung ſei jetzt den Bundes- regierungen zugegangen; er hatte ſie während der Sitzung den Bundes- geſandten ins Haus geſendet, und dieſe konnten, da ſie weder das Aktenſtück ſelber kannten noch von daheim eine Weiſung erhalten hatten, nicht einmal mehr gegen dieſe Verhöhnung des Bundestags ſich verwahren. Es war unmöglich eine ſchlechte Sache mit ſchlechteren Mitteln zu vertheidigen.
Die überraſchte Verſammlung trennte ſich ohne einen Beſchluß, der Unmuth vermochte ſich nur in leidenſchaftlichen Geſprächen zu äußern. General Schöler ſelbſt, den das welfiſche Treiben mehr und mehr an- widerte, wagte nur wehmüthig den dringenden Wunſch auszuſprechen, „daß dieſer Vorgang bei dem großen Publikum nicht zur Vermehrung der ohnehin ſchon ſo weit gehenden Nichtachtung des Bundestags beitragen möge;“ er befürchtete ſehr ſchlimme Folgen für Deutſchland, wenn Ernſt Auguſt ſich nicht bald mit ſeinem Lande verſöhne.*) Die hannöverſche Erklärung war nicht an den Bundestag gerichtet, ſondern an die einzelnen Regierungen, ſo daß ſie gar nicht in die Bundesprotokolle aufgenommen werden durfte und ſelbſt der immer bedächtige ſächſiſche Miniſter Zeſchau eine ſolche Un- gezogenheit ganz unerträglich fand.**) Sie beſtand aus zwei Denkſchriften, von denen die eine nochmals behauptete, die Verfaſſung von 1819 beſtehe zu Recht, weil der alte Landtag verſammelt ſei. Alſo mußte die gutmüthige Nachgiebigkeit ſeiner Unterthanen dem Welfen in der That als eine Schlinge dienen, wie Canitz vorausgeſagt. Die zweite Denkſchrift ſuchte zu be- weiſen, das Staatsgrundgeſetz ſei ungiltig, wegen ſeiner formalen Mängel
*) Schöler’s Berichte, 30. Nov., 5. Dec. 1838.
**) Jordan’s Bericht, 24. Jan. 1839.
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waffnet, wie Canitz bitter ſagte, er hatte durch die Auflöſung des recht-
mäßigen Landtags die einzige Körperſchaft vernichtet, welche unzweifelhaft
berechtigt war, beim Bundestage die Wiederherſtellung des Staatsgrund-
geſetzes zu verlangen. Doch unmöglich konnte der ernſte Streit mit ſolchen
Formbedenken erledigt werden. Wenn das hannöverſche Volk nicht reden
durfte, ſo war doch ſicherlich der Bund ſelbſt verpflichtet, den Art. 56 der
Schlußakte aufrecht zu halten.
Demnach ſprach der Bundestag, indem er die Osnabrücker abwies,
zugleich die Erwartung aus, daß Hannover noch eine weitere Erklärung
über ſeine Verfaſſungsverhältniſſe abgeben werde, und Stralenheim ver-
ſprach binnen vier bis ſechs Wochen dieſer Aufforderung zu genügen. Die
entſcheidende Abſtimmung ſtand alſo noch bevor. Aber die Friſt verſtrich;
Ernſt Auguſt hoffte noch immer die Dinge ſo lange hinzuhalten, bis er
die Bundesverſammlung durch die vollendete Thatſache einer neuen han-
növerſchen Verfaſſung zur Seite ſchieben könnte. Erſt am 29. November,
in dem Augenblicke, da der Bundestag ſich auf mehrere Monate vertagte,
zeigte Stralenheim an, die verſprochene Erklärung ſei jetzt den Bundes-
regierungen zugegangen; er hatte ſie während der Sitzung den Bundes-
geſandten ins Haus geſendet, und dieſe konnten, da ſie weder das Aktenſtück
ſelber kannten noch von daheim eine Weiſung erhalten hatten, nicht einmal
mehr gegen dieſe Verhöhnung des Bundestags ſich verwahren. Es war
unmöglich eine ſchlechte Sache mit ſchlechteren Mitteln zu vertheidigen.
Die überraſchte Verſammlung trennte ſich ohne einen Beſchluß, der
Unmuth vermochte ſich nur in leidenſchaftlichen Geſprächen zu äußern.
General Schöler ſelbſt, den das welfiſche Treiben mehr und mehr an-
widerte, wagte nur wehmüthig den dringenden Wunſch auszuſprechen, „daß
dieſer Vorgang bei dem großen Publikum nicht zur Vermehrung der ohnehin
ſchon ſo weit gehenden Nichtachtung des Bundestags beitragen möge;“ er
befürchtete ſehr ſchlimme Folgen für Deutſchland, wenn Ernſt Auguſt ſich
nicht bald mit ſeinem Lande verſöhne. *) Die hannöverſche Erklärung war
nicht an den Bundestag gerichtet, ſondern an die einzelnen Regierungen,
ſo daß ſie gar nicht in die Bundesprotokolle aufgenommen werden durfte
und ſelbſt der immer bedächtige ſächſiſche Miniſter Zeſchau eine ſolche Un-
gezogenheit ganz unerträglich fand. **) Sie beſtand aus zwei Denkſchriften,
von denen die eine nochmals behauptete, die Verfaſſung von 1819 beſtehe
zu Recht, weil der alte Landtag verſammelt ſei. Alſo mußte die gutmüthige
Nachgiebigkeit ſeiner Unterthanen dem Welfen in der That als eine Schlinge
dienen, wie Canitz vorausgeſagt. Die zweite Denkſchrift ſuchte zu be-
weiſen, das Staatsgrundgeſetz ſei ungiltig, wegen ſeiner formalen Mängel
*) Schöler’s Berichte, 30. Nov., 5. Dec. 1838.
**) Jordan’s Bericht, 24. Jan. 1839.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 678. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/692>, abgerufen am 24.11.2024.
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