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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 9. Der welfische Staatsstreich.
der Landdrostei befürchteten, einige auch unter ausdrücklicher Verwahrung
des Verfassungsrechts.

Als der Landtag im Februar 1838 eröffnet wurde, erschienen in der
zweiten Kammer 48 Abgeordnete. Die Kammer war also beschlußfähig,
aber sie bemerkte sofort, daß der König nicht einmal auf dem Rechtsboden
vom Jahre 1819, den er angeblich wiederherstellen wollte, ehrlich bestand:
den Landtag von 1819 hatte er einberufen, doch nicht das von der alten
Verfassung unzertrennliche Collegium der Schatzräthe, denn Stüve war
Schatzrath, und dieser gefährliche Mann mußte um jeden Preis dem Land-
tage fern gehalten werden. Auch der den Ständen vorgelegte Verfassungs-
entwurf wich von der alten Verfassung mehrfach ab. Bodenlose Willkür
überall, und dazu die nichtswürdigen, jeden redlichen Mann anwidernden
Rechtsverdrehungen des Vertreters der Regierung Leist. Mit Entsetzen
bemerkte Canitz, daß dieser Landesvater seinem Volke "eine Schlinge"
drehte; wenn die Abgeordneten sich auf das Staatsgrundgesetz beriefen,
dann hieß es kurzab: Ihr habt durch Euer Erscheinen den Rechtsboden
vom Jahre 1819 schon anerkannt.*) Der Landtag wußte sich nicht zu
helfen, die Vermittlungsversuche des Syndicus Lang vermehrten nur die
allgemeine Rathlosigkeit; die führerlose Opposition verdiente keineswegs
die reichen Lobsprüche, welche die liberalen Zeitungen ihr spendeten.
Das Volk aber erfuhr nichts von den geheimen Sitzungen. Eine Zeit
lang war die Kammer beschlußunfähig, weil viele Mitglieder die Hoff-
nung aufgaben. Endlich trat sie in die Verfassungsberathung ein, sie
verlangte jedoch zugleich, daß die neue Verfassung noch dem zu Recht
bestehenden Landtage des Staatsgrundgesetzes vorgelegt werden müsse.
Diesen Vorbehalt wollte Leist natürlich nicht gelten lassen, und der unter-
thänige Präsident Jacobi mahnte: "man muß den Muth haben, sich über
den Rechtspunkt hinwegzusetzen." Die Beschwichtigungen fruchteten nichts.
Die Kammer erklärte ausdrücklich, "daß keine Handlung der jetzt versam-
melten Deputirten rechtlich Giltiges zu bewirken im Stande sei," und
wurde darauf sofort vertagt. Nun schien nichts mehr übrig zu bleiben
als eine Vorstellung an den Bundestag, aber auch hierüber einigten sich
(28. Juni) nur 28 Mitglieder, eine Minderheit, die nicht im Namen der
Kammer zu reden befugt war.

Währenddem ward es im Lande lebendiger. Die Städte Osnabrück,
Hannover, Stade, Lüneburg, Hildesheim, Harburg, Celle, Münden sprachen
sich in Verwahrungen und Adressen für die Rechtsgiltigkeit des Staats-
grundgesetzes aus. An der Spitze dieser volksthümlichen Bewegung stand
Stüve, jetzt Bürgermeister von Osnabrück, und wie heillos mußte dies
Land zerrüttet sein, wenn ein solcher Mann sich zu demagogischer Thätig-
keit gezwungen sah. Er hatte mitsammt seinem Magistrate, nach vergeb-

*) Canitz's Bericht, 2. Aug. 1838.

IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
der Landdroſtei befürchteten, einige auch unter ausdrücklicher Verwahrung
des Verfaſſungsrechts.

Als der Landtag im Februar 1838 eröffnet wurde, erſchienen in der
zweiten Kammer 48 Abgeordnete. Die Kammer war alſo beſchlußfähig,
aber ſie bemerkte ſofort, daß der König nicht einmal auf dem Rechtsboden
vom Jahre 1819, den er angeblich wiederherſtellen wollte, ehrlich beſtand:
den Landtag von 1819 hatte er einberufen, doch nicht das von der alten
Verfaſſung unzertrennliche Collegium der Schatzräthe, denn Stüve war
Schatzrath, und dieſer gefährliche Mann mußte um jeden Preis dem Land-
tage fern gehalten werden. Auch der den Ständen vorgelegte Verfaſſungs-
entwurf wich von der alten Verfaſſung mehrfach ab. Bodenloſe Willkür
überall, und dazu die nichtswürdigen, jeden redlichen Mann anwidernden
Rechtsverdrehungen des Vertreters der Regierung Leiſt. Mit Entſetzen
bemerkte Canitz, daß dieſer Landesvater ſeinem Volke „eine Schlinge“
drehte; wenn die Abgeordneten ſich auf das Staatsgrundgeſetz beriefen,
dann hieß es kurzab: Ihr habt durch Euer Erſcheinen den Rechtsboden
vom Jahre 1819 ſchon anerkannt.*) Der Landtag wußte ſich nicht zu
helfen, die Vermittlungsverſuche des Syndicus Lang vermehrten nur die
allgemeine Rathloſigkeit; die führerloſe Oppoſition verdiente keineswegs
die reichen Lobſprüche, welche die liberalen Zeitungen ihr ſpendeten.
Das Volk aber erfuhr nichts von den geheimen Sitzungen. Eine Zeit
lang war die Kammer beſchlußunfähig, weil viele Mitglieder die Hoff-
nung aufgaben. Endlich trat ſie in die Verfaſſungsberathung ein, ſie
verlangte jedoch zugleich, daß die neue Verfaſſung noch dem zu Recht
beſtehenden Landtage des Staatsgrundgeſetzes vorgelegt werden müſſe.
Dieſen Vorbehalt wollte Leiſt natürlich nicht gelten laſſen, und der unter-
thänige Präſident Jacobi mahnte: „man muß den Muth haben, ſich über
den Rechtspunkt hinwegzuſetzen.“ Die Beſchwichtigungen fruchteten nichts.
Die Kammer erklärte ausdrücklich, „daß keine Handlung der jetzt verſam-
melten Deputirten rechtlich Giltiges zu bewirken im Stande ſei,“ und
wurde darauf ſofort vertagt. Nun ſchien nichts mehr übrig zu bleiben
als eine Vorſtellung an den Bundestag, aber auch hierüber einigten ſich
(28. Juni) nur 28 Mitglieder, eine Minderheit, die nicht im Namen der
Kammer zu reden befugt war.

Währenddem ward es im Lande lebendiger. Die Städte Osnabrück,
Hannover, Stade, Lüneburg, Hildesheim, Harburg, Celle, Münden ſprachen
ſich in Verwahrungen und Adreſſen für die Rechtsgiltigkeit des Staats-
grundgeſetzes aus. An der Spitze dieſer volksthümlichen Bewegung ſtand
Stüve, jetzt Bürgermeiſter von Osnabrück, und wie heillos mußte dies
Land zerrüttet ſein, wenn ein ſolcher Mann ſich zu demagogiſcher Thätig-
keit gezwungen ſah. Er hatte mitſammt ſeinem Magiſtrate, nach vergeb-

*) Canitz’s Bericht, 2. Aug. 1838.
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[670/0684] IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich. der Landdroſtei befürchteten, einige auch unter ausdrücklicher Verwahrung des Verfaſſungsrechts. Als der Landtag im Februar 1838 eröffnet wurde, erſchienen in der zweiten Kammer 48 Abgeordnete. Die Kammer war alſo beſchlußfähig, aber ſie bemerkte ſofort, daß der König nicht einmal auf dem Rechtsboden vom Jahre 1819, den er angeblich wiederherſtellen wollte, ehrlich beſtand: den Landtag von 1819 hatte er einberufen, doch nicht das von der alten Verfaſſung unzertrennliche Collegium der Schatzräthe, denn Stüve war Schatzrath, und dieſer gefährliche Mann mußte um jeden Preis dem Land- tage fern gehalten werden. Auch der den Ständen vorgelegte Verfaſſungs- entwurf wich von der alten Verfaſſung mehrfach ab. Bodenloſe Willkür überall, und dazu die nichtswürdigen, jeden redlichen Mann anwidernden Rechtsverdrehungen des Vertreters der Regierung Leiſt. Mit Entſetzen bemerkte Canitz, daß dieſer Landesvater ſeinem Volke „eine Schlinge“ drehte; wenn die Abgeordneten ſich auf das Staatsgrundgeſetz beriefen, dann hieß es kurzab: Ihr habt durch Euer Erſcheinen den Rechtsboden vom Jahre 1819 ſchon anerkannt. *) Der Landtag wußte ſich nicht zu helfen, die Vermittlungsverſuche des Syndicus Lang vermehrten nur die allgemeine Rathloſigkeit; die führerloſe Oppoſition verdiente keineswegs die reichen Lobſprüche, welche die liberalen Zeitungen ihr ſpendeten. Das Volk aber erfuhr nichts von den geheimen Sitzungen. Eine Zeit lang war die Kammer beſchlußunfähig, weil viele Mitglieder die Hoff- nung aufgaben. Endlich trat ſie in die Verfaſſungsberathung ein, ſie verlangte jedoch zugleich, daß die neue Verfaſſung noch dem zu Recht beſtehenden Landtage des Staatsgrundgeſetzes vorgelegt werden müſſe. Dieſen Vorbehalt wollte Leiſt natürlich nicht gelten laſſen, und der unter- thänige Präſident Jacobi mahnte: „man muß den Muth haben, ſich über den Rechtspunkt hinwegzuſetzen.“ Die Beſchwichtigungen fruchteten nichts. Die Kammer erklärte ausdrücklich, „daß keine Handlung der jetzt verſam- melten Deputirten rechtlich Giltiges zu bewirken im Stande ſei,“ und wurde darauf ſofort vertagt. Nun ſchien nichts mehr übrig zu bleiben als eine Vorſtellung an den Bundestag, aber auch hierüber einigten ſich (28. Juni) nur 28 Mitglieder, eine Minderheit, die nicht im Namen der Kammer zu reden befugt war. Währenddem ward es im Lande lebendiger. Die Städte Osnabrück, Hannover, Stade, Lüneburg, Hildesheim, Harburg, Celle, Münden ſprachen ſich in Verwahrungen und Adreſſen für die Rechtsgiltigkeit des Staats- grundgeſetzes aus. An der Spitze dieſer volksthümlichen Bewegung ſtand Stüve, jetzt Bürgermeiſter von Osnabrück, und wie heillos mußte dies Land zerrüttet ſein, wenn ein ſolcher Mann ſich zu demagogiſcher Thätig- keit gezwungen ſah. Er hatte mitſammt ſeinem Magiſtrate, nach vergeb- *) Canitz’s Bericht, 2. Aug. 1838.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 670. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/684>, abgerufen am 24.11.2024.