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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 9. Der welfische Staatsstreich.
Gelehrten durchaus keinen Schaden. Unter der Mehrheit der Göttinger
Professoren befanden sich einige, die nicht aus Furcht, sondern grundsätzlich
den Schritt der Sieben verwarfen, so Herbart, Hugo, Gauß. In einer nach-
gelassenen Schrift "Die Göttinger Katastrophe" hat sich Herbart über die
Gründe seines Verhaltens freimüthig ausgesprochen; er glaubte, der tiefe
Ernst, die gesammelte Stille des deutschen akademischen Lebens würden
verschwinden, sobald die Universitäten sich in politische Kämpfe einließen.
Diese im Munde des strengen Philosophen wohl begreifliche Befürchtung
erwies sich als irrig. Die Forscher arbeiteten rüstig weiter, und die Sieben
selber gingen ihnen mit gutem Beispiele voran. Die historische Wissen-
schaft gewann sogar durch die politische Thätigkeit der Gelehrten. Ganz
werthlose historische Tendenzschriften erschienen während der nächsten Jahre
selten, seltener sicherlich als in dem Zeitalter des Rotteck-Welcker'schen Libe-
ralismus; wohl aber viele tüchtige Werke, welche den Deutschen ihre Ver-
gangenheit wissenschaftlich erklärten. Die Blüthe der politischen Geschicht-
schreibung in den vierziger und fünfziger Jahren, die Vertiefung unserer
historischen Selbsterkenntniß ward nur darum möglich, weil die Historiker
der Welt der politischen Thaten so nahe, oft allzu nahe, getreten waren. --


Dem Verfassungskampfe der Hannoveraner konnte die That der Sieben
nur dann Vorschub leisten, wenn sie Nachahmung fand, wenn die Mehr-
zahl der Beamten den verfassungswidrigen Diensteid verweigerte, wenn
die Wahlen für den unrechtmäßigen Landtag nicht zu Stande kamen und
nach Ablauf der gesetzlichen Frist auch die Steuerzahlung unterblieb. Aber
für solchen Einmuth passiven Widerstandes fehlten alle Vorbedingungen.
Es war das Verhängniß dieses welfischen Staatsstreichs, daß er fast alle
Gebrechen der bestehenden Ordnung an den Tag brachte, den Aberwitz
der Censur so gut wie die sittliche Schwäche des alten Beamtenstaats.
Die Mißstimmung reichte bis in die Kreise des Hofes hinein. Ernst
August's Hofmarschall Malortie gestand seinem heißgeliebten Herrn traurig,
auf diesem Wege könne er ihm nicht folgen, und der Welfe nahm das hin,
weil er den treuen Mann nicht entbehren mochte. Das Oberappellations-
gericht in Celle leistete den neuen Diensteid und behielt sich die Verpflich-
tung auf das Staatsgrundgesetz ausdrücklich vor. Aehnlich handelten
mehrere Mittelgerichte und viele einzelne Beamte. Schele war aber jetzt
durch die Göttinger Erfahrungen gewitzigt, er legte die Vorbehalte still-
schweigend zu den Akten, und die Protestirenden gaben sich allesammt zu-
frieden, wenn sie nur insgeheim ihr Gewissen gewahrt hatten. Entsetzlich
war die Selbstentwürdigung der Cabinetsminister; sie blieben in ihrer
Stellung, nur daß sie zu Departementsministern degradirt und ihr alter
Gegner Schele ihnen als alleiniger Cabinetsminister vorgesetzt wurde.

IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
Gelehrten durchaus keinen Schaden. Unter der Mehrheit der Göttinger
Profeſſoren befanden ſich einige, die nicht aus Furcht, ſondern grundſätzlich
den Schritt der Sieben verwarfen, ſo Herbart, Hugo, Gauß. In einer nach-
gelaſſenen Schrift „Die Göttinger Kataſtrophe“ hat ſich Herbart über die
Gründe ſeines Verhaltens freimüthig ausgeſprochen; er glaubte, der tiefe
Ernſt, die geſammelte Stille des deutſchen akademiſchen Lebens würden
verſchwinden, ſobald die Univerſitäten ſich in politiſche Kämpfe einließen.
Dieſe im Munde des ſtrengen Philoſophen wohl begreifliche Befürchtung
erwies ſich als irrig. Die Forſcher arbeiteten rüſtig weiter, und die Sieben
ſelber gingen ihnen mit gutem Beiſpiele voran. Die hiſtoriſche Wiſſen-
ſchaft gewann ſogar durch die politiſche Thätigkeit der Gelehrten. Ganz
werthloſe hiſtoriſche Tendenzſchriften erſchienen während der nächſten Jahre
ſelten, ſeltener ſicherlich als in dem Zeitalter des Rotteck-Welcker’ſchen Libe-
ralismus; wohl aber viele tüchtige Werke, welche den Deutſchen ihre Ver-
gangenheit wiſſenſchaftlich erklärten. Die Blüthe der politiſchen Geſchicht-
ſchreibung in den vierziger und fünfziger Jahren, die Vertiefung unſerer
hiſtoriſchen Selbſterkenntniß ward nur darum möglich, weil die Hiſtoriker
der Welt der politiſchen Thaten ſo nahe, oft allzu nahe, getreten waren. —


Dem Verfaſſungskampfe der Hannoveraner konnte die That der Sieben
nur dann Vorſchub leiſten, wenn ſie Nachahmung fand, wenn die Mehr-
zahl der Beamten den verfaſſungswidrigen Dienſteid verweigerte, wenn
die Wahlen für den unrechtmäßigen Landtag nicht zu Stande kamen und
nach Ablauf der geſetzlichen Friſt auch die Steuerzahlung unterblieb. Aber
für ſolchen Einmuth paſſiven Widerſtandes fehlten alle Vorbedingungen.
Es war das Verhängniß dieſes welfiſchen Staatsſtreichs, daß er faſt alle
Gebrechen der beſtehenden Ordnung an den Tag brachte, den Aberwitz
der Cenſur ſo gut wie die ſittliche Schwäche des alten Beamtenſtaats.
Die Mißſtimmung reichte bis in die Kreiſe des Hofes hinein. Ernſt
Auguſt’s Hofmarſchall Malortie geſtand ſeinem heißgeliebten Herrn traurig,
auf dieſem Wege könne er ihm nicht folgen, und der Welfe nahm das hin,
weil er den treuen Mann nicht entbehren mochte. Das Oberappellations-
gericht in Celle leiſtete den neuen Dienſteid und behielt ſich die Verpflich-
tung auf das Staatsgrundgeſetz ausdrücklich vor. Aehnlich handelten
mehrere Mittelgerichte und viele einzelne Beamte. Schele war aber jetzt
durch die Göttinger Erfahrungen gewitzigt, er legte die Vorbehalte ſtill-
ſchweigend zu den Akten, und die Proteſtirenden gaben ſich alleſammt zu-
frieden, wenn ſie nur insgeheim ihr Gewiſſen gewahrt hatten. Entſetzlich
war die Selbſtentwürdigung der Cabinetsminiſter; ſie blieben in ihrer
Stellung, nur daß ſie zu Departementsminiſtern degradirt und ihr alter
Gegner Schele ihnen als alleiniger Cabinetsminiſter vorgeſetzt wurde.

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[668/0682] IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich. Gelehrten durchaus keinen Schaden. Unter der Mehrheit der Göttinger Profeſſoren befanden ſich einige, die nicht aus Furcht, ſondern grundſätzlich den Schritt der Sieben verwarfen, ſo Herbart, Hugo, Gauß. In einer nach- gelaſſenen Schrift „Die Göttinger Kataſtrophe“ hat ſich Herbart über die Gründe ſeines Verhaltens freimüthig ausgeſprochen; er glaubte, der tiefe Ernſt, die geſammelte Stille des deutſchen akademiſchen Lebens würden verſchwinden, ſobald die Univerſitäten ſich in politiſche Kämpfe einließen. Dieſe im Munde des ſtrengen Philoſophen wohl begreifliche Befürchtung erwies ſich als irrig. Die Forſcher arbeiteten rüſtig weiter, und die Sieben ſelber gingen ihnen mit gutem Beiſpiele voran. Die hiſtoriſche Wiſſen- ſchaft gewann ſogar durch die politiſche Thätigkeit der Gelehrten. Ganz werthloſe hiſtoriſche Tendenzſchriften erſchienen während der nächſten Jahre ſelten, ſeltener ſicherlich als in dem Zeitalter des Rotteck-Welcker’ſchen Libe- ralismus; wohl aber viele tüchtige Werke, welche den Deutſchen ihre Ver- gangenheit wiſſenſchaftlich erklärten. Die Blüthe der politiſchen Geſchicht- ſchreibung in den vierziger und fünfziger Jahren, die Vertiefung unſerer hiſtoriſchen Selbſterkenntniß ward nur darum möglich, weil die Hiſtoriker der Welt der politiſchen Thaten ſo nahe, oft allzu nahe, getreten waren. — Dem Verfaſſungskampfe der Hannoveraner konnte die That der Sieben nur dann Vorſchub leiſten, wenn ſie Nachahmung fand, wenn die Mehr- zahl der Beamten den verfaſſungswidrigen Dienſteid verweigerte, wenn die Wahlen für den unrechtmäßigen Landtag nicht zu Stande kamen und nach Ablauf der geſetzlichen Friſt auch die Steuerzahlung unterblieb. Aber für ſolchen Einmuth paſſiven Widerſtandes fehlten alle Vorbedingungen. Es war das Verhängniß dieſes welfiſchen Staatsſtreichs, daß er faſt alle Gebrechen der beſtehenden Ordnung an den Tag brachte, den Aberwitz der Cenſur ſo gut wie die ſittliche Schwäche des alten Beamtenſtaats. Die Mißſtimmung reichte bis in die Kreiſe des Hofes hinein. Ernſt Auguſt’s Hofmarſchall Malortie geſtand ſeinem heißgeliebten Herrn traurig, auf dieſem Wege könne er ihm nicht folgen, und der Welfe nahm das hin, weil er den treuen Mann nicht entbehren mochte. Das Oberappellations- gericht in Celle leiſtete den neuen Dienſteid und behielt ſich die Verpflich- tung auf das Staatsgrundgeſetz ausdrücklich vor. Aehnlich handelten mehrere Mittelgerichte und viele einzelne Beamte. Schele war aber jetzt durch die Göttinger Erfahrungen gewitzigt, er legte die Vorbehalte ſtill- ſchweigend zu den Akten, und die Proteſtirenden gaben ſich alleſammt zu- frieden, wenn ſie nur insgeheim ihr Gewiſſen gewahrt hatten. Entſetzlich war die Selbſtentwürdigung der Cabinetsminiſter; ſie blieben in ihrer Stellung, nur daß ſie zu Departementsminiſtern degradirt und ihr alter Gegner Schele ihnen als alleiniger Cabinetsminiſter vorgeſetzt wurde.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 668. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/682>, abgerufen am 27.11.2024.