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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 9. Der welfische Staatsstreich.
und beruhigten sich mit dem Troste, daß sie den Unzufriedenen kein böses
Beispiel geben dürften. Nur Ompteda, der deutsche Minister in London,
forderte seine Entlassung und erhielt sie in Gnaden, da sein Amt durch
die Thronbesteigung von selbst hinwegfiel; für Männer seines Schlages
war unter diesem Welfen kein Platz.*)

Demnach erschien das Patent unverändert, und so viel ging aus den
gewundenen Sätzen doch klar hervor, daß der König, ohne irgend einen
Grund anzugeben, die Verfassungsgesetze seiner Vorfahren kurzerhand für
unverbindlich erklärte. Ward ihm dies gestattet, dann stand keine deutsche
Verfassung mehr fest. Daher erhob sich sofort ein Sturm in der ge-
sammten deutschen Presse. Mit der einzigen Ausnahme der von Schele
beeinflußten unsauberen Hannöverschen Landesblätter war alle Welt der-
selben Meinung. Die Nation empfand es wie einen Faustschlag ins An-
gesicht, daß dieser Fremdling sich erdreisten wollte, nach seinem Gutdünken
zu entscheiden, ob in einem gesetzlich geordneten deutschen Lande die gegen-
wärtige Verfassung bestehen sollte oder die ältere oder vielleicht auch eine
dritte. Der Hamburger Wurm verdammte in einer scharfen Flugschrift
die neue welfische Staatslehre; zahlreiche anonyme Büchlein und die allezeit
behutsame Augsburger Allgemeine Zeitung redeten im gleichen Tone. Das
stille Berlin sogar gerieth in Bewegung: Gans lärmte auf dem Katheder,
Dr. Friedenburg in der sonst so harmlosen Vossischen Zeitung; selbst das
mit Schele befreundete Berliner Wochenblatt wagte nur "die männliche
Offenheit" des Welfen zu loben und die Hoffnung auszusprechen, daß die
nothwendigen Verfassungsveränderungen ohne Rechtsverletzung gelingen
möchten. Die beste der Gegenschriften stammte aus der Feder des wackeren
weimarischen Ministers v. Gersdorff; leider wurde sie nur anonym, in
25 Exemplaren gedruckt, so stark war schon die Furcht der kleinen Höfe
vor dem brutalen Welfen.**) Sie war in ruhigem Geschäftsstile gehalten
und zeigte unwiderleglich, daß der Bundestag einst, ohne nach der Zu-
stimmung der Agnaten zu fragen, die Bürgschaft für die weimarische Ver-
fassung übernommen, daß Hannover selbst am 15. Oct. 1830 bei den
Frankfurter Verhandlungen über die braunschweigische Verfassung nach-
drücklich erklärt hatte: eine in anerkannter Wirksamkeit bestehende Ver-
fassung bedürfe nicht erst der Zustimmung des neuen Regenten, denn
sonst hinge es nur von dessen Willkür ab "geheiligte Rechte nach Gut-
dünken zu vernichten".

Auch alle die Landtage, die gerade versammelt waren, regten sich
sogleich, weil sie sich in ihrem eigenen Rechte bedroht sahen. In Karlsruhe
verlangten Itzstein, Rotteck, Duttlinger, daß man am Bundestage Ein-

*) Canitz's Berichte, 15. Oct., 9. Nov. 1837.
**) "Ansicht des Verhältnisses der Erklärung S. Maj. des Königs v. Hannover"
u. s. w., Weimar 1837. Den Verfasser nennt, offenbar richtig, Münchhausen in seinem
Berichte v. 16. Oct. 1837.

IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich.
und beruhigten ſich mit dem Troſte, daß ſie den Unzufriedenen kein böſes
Beiſpiel geben dürften. Nur Ompteda, der deutſche Miniſter in London,
forderte ſeine Entlaſſung und erhielt ſie in Gnaden, da ſein Amt durch
die Thronbeſteigung von ſelbſt hinwegfiel; für Männer ſeines Schlages
war unter dieſem Welfen kein Platz.*)

Demnach erſchien das Patent unverändert, und ſo viel ging aus den
gewundenen Sätzen doch klar hervor, daß der König, ohne irgend einen
Grund anzugeben, die Verfaſſungsgeſetze ſeiner Vorfahren kurzerhand für
unverbindlich erklärte. Ward ihm dies geſtattet, dann ſtand keine deutſche
Verfaſſung mehr feſt. Daher erhob ſich ſofort ein Sturm in der ge-
ſammten deutſchen Preſſe. Mit der einzigen Ausnahme der von Schele
beeinflußten unſauberen Hannöverſchen Landesblätter war alle Welt der-
ſelben Meinung. Die Nation empfand es wie einen Fauſtſchlag ins An-
geſicht, daß dieſer Fremdling ſich erdreiſten wollte, nach ſeinem Gutdünken
zu entſcheiden, ob in einem geſetzlich geordneten deutſchen Lande die gegen-
wärtige Verfaſſung beſtehen ſollte oder die ältere oder vielleicht auch eine
dritte. Der Hamburger Wurm verdammte in einer ſcharfen Flugſchrift
die neue welfiſche Staatslehre; zahlreiche anonyme Büchlein und die allezeit
behutſame Augsburger Allgemeine Zeitung redeten im gleichen Tone. Das
ſtille Berlin ſogar gerieth in Bewegung: Gans lärmte auf dem Katheder,
Dr. Friedenburg in der ſonſt ſo harmloſen Voſſiſchen Zeitung; ſelbſt das
mit Schele befreundete Berliner Wochenblatt wagte nur „die männliche
Offenheit“ des Welfen zu loben und die Hoffnung auszuſprechen, daß die
nothwendigen Verfaſſungsveränderungen ohne Rechtsverletzung gelingen
möchten. Die beſte der Gegenſchriften ſtammte aus der Feder des wackeren
weimariſchen Miniſters v. Gersdorff; leider wurde ſie nur anonym, in
25 Exemplaren gedruckt, ſo ſtark war ſchon die Furcht der kleinen Höfe
vor dem brutalen Welfen.**) Sie war in ruhigem Geſchäftsſtile gehalten
und zeigte unwiderleglich, daß der Bundestag einſt, ohne nach der Zu-
ſtimmung der Agnaten zu fragen, die Bürgſchaft für die weimariſche Ver-
faſſung übernommen, daß Hannover ſelbſt am 15. Oct. 1830 bei den
Frankfurter Verhandlungen über die braunſchweigiſche Verfaſſung nach-
drücklich erklärt hatte: eine in anerkannter Wirkſamkeit beſtehende Ver-
faſſung bedürfe nicht erſt der Zuſtimmung des neuen Regenten, denn
ſonſt hinge es nur von deſſen Willkür ab „geheiligte Rechte nach Gut-
dünken zu vernichten“.

Auch alle die Landtage, die gerade verſammelt waren, regten ſich
ſogleich, weil ſie ſich in ihrem eigenen Rechte bedroht ſahen. In Karlsruhe
verlangten Itzſtein, Rotteck, Duttlinger, daß man am Bundestage Ein-

*) Canitz’s Berichte, 15. Oct., 9. Nov. 1837.
**) „Anſicht des Verhältniſſes der Erklärung S. Maj. des Königs v. Hannover“
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Berichte v. 16. Oct. 1837.
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[652/0666] IV. 9. Der welfiſche Staatsſtreich. und beruhigten ſich mit dem Troſte, daß ſie den Unzufriedenen kein böſes Beiſpiel geben dürften. Nur Ompteda, der deutſche Miniſter in London, forderte ſeine Entlaſſung und erhielt ſie in Gnaden, da ſein Amt durch die Thronbeſteigung von ſelbſt hinwegfiel; für Männer ſeines Schlages war unter dieſem Welfen kein Platz. *) Demnach erſchien das Patent unverändert, und ſo viel ging aus den gewundenen Sätzen doch klar hervor, daß der König, ohne irgend einen Grund anzugeben, die Verfaſſungsgeſetze ſeiner Vorfahren kurzerhand für unverbindlich erklärte. Ward ihm dies geſtattet, dann ſtand keine deutſche Verfaſſung mehr feſt. Daher erhob ſich ſofort ein Sturm in der ge- ſammten deutſchen Preſſe. Mit der einzigen Ausnahme der von Schele beeinflußten unſauberen Hannöverſchen Landesblätter war alle Welt der- ſelben Meinung. Die Nation empfand es wie einen Fauſtſchlag ins An- geſicht, daß dieſer Fremdling ſich erdreiſten wollte, nach ſeinem Gutdünken zu entſcheiden, ob in einem geſetzlich geordneten deutſchen Lande die gegen- wärtige Verfaſſung beſtehen ſollte oder die ältere oder vielleicht auch eine dritte. Der Hamburger Wurm verdammte in einer ſcharfen Flugſchrift die neue welfiſche Staatslehre; zahlreiche anonyme Büchlein und die allezeit behutſame Augsburger Allgemeine Zeitung redeten im gleichen Tone. Das ſtille Berlin ſogar gerieth in Bewegung: Gans lärmte auf dem Katheder, Dr. Friedenburg in der ſonſt ſo harmloſen Voſſiſchen Zeitung; ſelbſt das mit Schele befreundete Berliner Wochenblatt wagte nur „die männliche Offenheit“ des Welfen zu loben und die Hoffnung auszuſprechen, daß die nothwendigen Verfaſſungsveränderungen ohne Rechtsverletzung gelingen möchten. Die beſte der Gegenſchriften ſtammte aus der Feder des wackeren weimariſchen Miniſters v. Gersdorff; leider wurde ſie nur anonym, in 25 Exemplaren gedruckt, ſo ſtark war ſchon die Furcht der kleinen Höfe vor dem brutalen Welfen. **) Sie war in ruhigem Geſchäftsſtile gehalten und zeigte unwiderleglich, daß der Bundestag einſt, ohne nach der Zu- ſtimmung der Agnaten zu fragen, die Bürgſchaft für die weimariſche Ver- faſſung übernommen, daß Hannover ſelbſt am 15. Oct. 1830 bei den Frankfurter Verhandlungen über die braunſchweigiſche Verfaſſung nach- drücklich erklärt hatte: eine in anerkannter Wirkſamkeit beſtehende Ver- faſſung bedürfe nicht erſt der Zuſtimmung des neuen Regenten, denn ſonſt hinge es nur von deſſen Willkür ab „geheiligte Rechte nach Gut- dünken zu vernichten“. Auch alle die Landtage, die gerade verſammelt waren, regten ſich ſogleich, weil ſie ſich in ihrem eigenen Rechte bedroht ſahen. In Karlsruhe verlangten Itzſtein, Rotteck, Duttlinger, daß man am Bundestage Ein- *) Canitz’s Berichte, 15. Oct., 9. Nov. 1837. **) „Anſicht des Verhältniſſes der Erklärung S. Maj. des Königs v. Hannover“ u. ſ. w., Weimar 1837. Den Verfaſſer nennt, offenbar richtig, Münchhauſen in ſeinem Berichte v. 16. Oct. 1837.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 652. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/666>, abgerufen am 24.11.2024.