Trotz der allgemeinen Ermattung und trotz seiner parlamentarischen Niederlagen blieb der Liberalismus im Wachsthum. Seine socialen Ideen verbreiteten sich in der Stille, sie wurden allmählich zu Standesvor- urtheilen des gebildeten Bürgerthums, das sich jetzt, seit zu dem Wissen der neue Wohlstand hinzukam, ganz unbedenklich für den Kern der Nation hielt. Die scheinbare gesellschaftliche Gleichheit der Franzosen und das Ge- setzbuch der durchgebildeten Geldwirthschaft, der Code Napoleon fanden Bewunderung, nicht blos im Südwesten, auch in Thüringen, in Sachsen, in den Städten der alten preußischen Provinzen. In diese demokratisirte, den alten Standesunterschieden entfremdete Gesellschaft schlug nun eine Gewaltthat hinein, welche auch die schlummernden politischen Leidenschaften wieder erweckte und von der häßlichen Lüge des deutschen Bundesrechts den letzten Schleier hinwegriß, ein Staatsstreich, so frevelhaft, so unent- schuldbar, so gemeinverständlich in seiner Roheit, daß der sittliche Ekel fast alle irgend selbständigen Männer zum Widerspruche zwang und den Reihen der liberalen Opposition mit einem male neue Kräfte zuführte.
Am 20. Juni 1837 starb König Wilhelm IV., und da nach deutschem Rechte der Mannesstamm den Weibern vorging, so zerriß jetzt, zum Segen für beide Theile, das unnatürliche Band, das die kurbraunschweigischen Lande durch vier Menschenalter an Großbritannien gekettet hatte. Für die Briten hatte diese Verbindung längst allen Werth verloren. Die han- növerschen Truppen für englische Zwecke zu verwenden war unter dem Deutschen Bunde kaum noch möglich; seit der Entstehung des preußischen Volksheeres bedeutete die kleine Armee ohnehin nicht mehr so viel wie im alten Jahrhundert. Seit der Zollverein gesichert war, konnte auch die handelspolitische Dienstbarkeit Hannovers den Engländern nichts mehr nützen. Einzelne kleine Gewinnste vermochte Palmerston's geschickte Hand wohl noch aus dem deutschen Nebenlande herauszuschlagen; mit Han- novers Hilfe hatte er vor Kurzem die Bundesexecution in Luxemburg vereitelt. In der Regel empfand er die Doppelstellung der Krone nur als eine Last: wenn der König von Hannover andere Wege ging als der
41*
Neunter Abſchnitt. Der welfiſche Staatsſtreich.
Trotz der allgemeinen Ermattung und trotz ſeiner parlamentariſchen Niederlagen blieb der Liberalismus im Wachsthum. Seine ſocialen Ideen verbreiteten ſich in der Stille, ſie wurden allmählich zu Standesvor- urtheilen des gebildeten Bürgerthums, das ſich jetzt, ſeit zu dem Wiſſen der neue Wohlſtand hinzukam, ganz unbedenklich für den Kern der Nation hielt. Die ſcheinbare geſellſchaftliche Gleichheit der Franzoſen und das Ge- ſetzbuch der durchgebildeten Geldwirthſchaft, der Code Napoleon fanden Bewunderung, nicht blos im Südweſten, auch in Thüringen, in Sachſen, in den Städten der alten preußiſchen Provinzen. In dieſe demokratiſirte, den alten Standesunterſchieden entfremdete Geſellſchaft ſchlug nun eine Gewaltthat hinein, welche auch die ſchlummernden politiſchen Leidenſchaften wieder erweckte und von der häßlichen Lüge des deutſchen Bundesrechts den letzten Schleier hinwegriß, ein Staatsſtreich, ſo frevelhaft, ſo unent- ſchuldbar, ſo gemeinverſtändlich in ſeiner Roheit, daß der ſittliche Ekel faſt alle irgend ſelbſtändigen Männer zum Widerſpruche zwang und den Reihen der liberalen Oppoſition mit einem male neue Kräfte zuführte.
Am 20. Juni 1837 ſtarb König Wilhelm IV., und da nach deutſchem Rechte der Mannesſtamm den Weibern vorging, ſo zerriß jetzt, zum Segen für beide Theile, das unnatürliche Band, das die kurbraunſchweigiſchen Lande durch vier Menſchenalter an Großbritannien gekettet hatte. Für die Briten hatte dieſe Verbindung längſt allen Werth verloren. Die han- növerſchen Truppen für engliſche Zwecke zu verwenden war unter dem Deutſchen Bunde kaum noch möglich; ſeit der Entſtehung des preußiſchen Volksheeres bedeutete die kleine Armee ohnehin nicht mehr ſo viel wie im alten Jahrhundert. Seit der Zollverein geſichert war, konnte auch die handelspolitiſche Dienſtbarkeit Hannovers den Engländern nichts mehr nützen. Einzelne kleine Gewinnſte vermochte Palmerſton’s geſchickte Hand wohl noch aus dem deutſchen Nebenlande herauszuſchlagen; mit Han- novers Hilfe hatte er vor Kurzem die Bundesexecution in Luxemburg vereitelt. In der Regel empfand er die Doppelſtellung der Krone nur als eine Laſt: wenn der König von Hannover andere Wege ging als der
41*
<TEI><text><body><divn="1"><pbfacs="#f0657"n="[643]"/><divn="2"><head><hirendition="#b">Neunter Abſchnitt.<lb/><milestonerendition="#hr"unit="section"/> Der welfiſche Staatsſtreich.</hi></head><lb/><p>Trotz der allgemeinen Ermattung und trotz ſeiner parlamentariſchen<lb/>
Niederlagen blieb der Liberalismus im Wachsthum. Seine ſocialen Ideen<lb/>
verbreiteten ſich in der Stille, ſie wurden allmählich zu Standesvor-<lb/>
urtheilen des gebildeten Bürgerthums, das ſich jetzt, ſeit zu dem Wiſſen<lb/>
der neue Wohlſtand hinzukam, ganz unbedenklich für den Kern der Nation<lb/>
hielt. Die ſcheinbare geſellſchaftliche Gleichheit der Franzoſen und das Ge-<lb/>ſetzbuch der durchgebildeten Geldwirthſchaft, der Code Napoleon fanden<lb/>
Bewunderung, nicht blos im Südweſten, auch in Thüringen, in Sachſen,<lb/>
in den Städten der alten preußiſchen Provinzen. In dieſe demokratiſirte,<lb/>
den alten Standesunterſchieden entfremdete Geſellſchaft ſchlug nun eine<lb/>
Gewaltthat hinein, welche auch die ſchlummernden politiſchen Leidenſchaften<lb/>
wieder erweckte und von der häßlichen Lüge des deutſchen Bundesrechts<lb/>
den letzten Schleier hinwegriß, ein Staatsſtreich, ſo frevelhaft, ſo unent-<lb/>ſchuldbar, ſo gemeinverſtändlich in ſeiner Roheit, daß der ſittliche Ekel faſt<lb/>
alle irgend ſelbſtändigen Männer zum Widerſpruche zwang und den Reihen<lb/>
der liberalen Oppoſition mit einem male neue Kräfte zuführte.</p><lb/><p>Am 20. Juni 1837 ſtarb König Wilhelm <hirendition="#aq">IV.</hi>, und da nach deutſchem<lb/>
Rechte der Mannesſtamm den Weibern vorging, ſo zerriß jetzt, zum Segen<lb/>
für beide Theile, das unnatürliche Band, das die kurbraunſchweigiſchen<lb/>
Lande durch vier Menſchenalter an Großbritannien gekettet hatte. Für<lb/>
die Briten hatte dieſe Verbindung längſt allen Werth verloren. Die han-<lb/>
növerſchen Truppen für engliſche Zwecke zu verwenden war unter dem<lb/>
Deutſchen Bunde kaum noch möglich; ſeit der Entſtehung des preußiſchen<lb/>
Volksheeres bedeutete die kleine Armee ohnehin nicht mehr ſo viel wie im<lb/>
alten Jahrhundert. Seit der Zollverein geſichert war, konnte auch die<lb/>
handelspolitiſche Dienſtbarkeit Hannovers den Engländern nichts mehr<lb/>
nützen. Einzelne kleine Gewinnſte vermochte Palmerſton’s geſchickte Hand<lb/>
wohl noch aus dem deutſchen Nebenlande herauszuſchlagen; mit Han-<lb/>
novers Hilfe hatte er vor Kurzem die Bundesexecution in Luxemburg<lb/>
vereitelt. In der Regel empfand er die Doppelſtellung der Krone nur<lb/>
als eine Laſt: wenn der König von Hannover andere Wege ging als der<lb/><fwplace="bottom"type="sig">41*</fw><lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[[643]/0657]
Neunter Abſchnitt.
Der welfiſche Staatsſtreich.
Trotz der allgemeinen Ermattung und trotz ſeiner parlamentariſchen
Niederlagen blieb der Liberalismus im Wachsthum. Seine ſocialen Ideen
verbreiteten ſich in der Stille, ſie wurden allmählich zu Standesvor-
urtheilen des gebildeten Bürgerthums, das ſich jetzt, ſeit zu dem Wiſſen
der neue Wohlſtand hinzukam, ganz unbedenklich für den Kern der Nation
hielt. Die ſcheinbare geſellſchaftliche Gleichheit der Franzoſen und das Ge-
ſetzbuch der durchgebildeten Geldwirthſchaft, der Code Napoleon fanden
Bewunderung, nicht blos im Südweſten, auch in Thüringen, in Sachſen,
in den Städten der alten preußiſchen Provinzen. In dieſe demokratiſirte,
den alten Standesunterſchieden entfremdete Geſellſchaft ſchlug nun eine
Gewaltthat hinein, welche auch die ſchlummernden politiſchen Leidenſchaften
wieder erweckte und von der häßlichen Lüge des deutſchen Bundesrechts
den letzten Schleier hinwegriß, ein Staatsſtreich, ſo frevelhaft, ſo unent-
ſchuldbar, ſo gemeinverſtändlich in ſeiner Roheit, daß der ſittliche Ekel faſt
alle irgend ſelbſtändigen Männer zum Widerſpruche zwang und den Reihen
der liberalen Oppoſition mit einem male neue Kräfte zuführte.
Am 20. Juni 1837 ſtarb König Wilhelm IV., und da nach deutſchem
Rechte der Mannesſtamm den Weibern vorging, ſo zerriß jetzt, zum Segen
für beide Theile, das unnatürliche Band, das die kurbraunſchweigiſchen
Lande durch vier Menſchenalter an Großbritannien gekettet hatte. Für
die Briten hatte dieſe Verbindung längſt allen Werth verloren. Die han-
növerſchen Truppen für engliſche Zwecke zu verwenden war unter dem
Deutſchen Bunde kaum noch möglich; ſeit der Entſtehung des preußiſchen
Volksheeres bedeutete die kleine Armee ohnehin nicht mehr ſo viel wie im
alten Jahrhundert. Seit der Zollverein geſichert war, konnte auch die
handelspolitiſche Dienſtbarkeit Hannovers den Engländern nichts mehr
nützen. Einzelne kleine Gewinnſte vermochte Palmerſton’s geſchickte Hand
wohl noch aus dem deutſchen Nebenlande herauszuſchlagen; mit Han-
novers Hilfe hatte er vor Kurzem die Bundesexecution in Luxemburg
vereitelt. In der Regel empfand er die Doppelſtellung der Krone nur
als eine Laſt: wenn der König von Hannover andere Wege ging als der
41*
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. [643]. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/657>, abgerufen am 19.11.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.