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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 8. Stille Jahre.
verlangte in feuriger Rede: jeder Landtag müsse die gemeinsamen deut-
schen Angelegenheiten als wahrhafte Landesangelegenheiten betrachten; dann
werde die Nation sich als Nation erkennen und nicht länger vor den Aus-
ländern zu erröthen brauchen. Allein die Theilnahme blieb lau; als er
seine Anträge zum vierten male einbrachte, begrub man sie stillschweigend
in den Akten. Auch Römer's tief durchdachte Reden gegen das neue, überaus
harte Strafgesetzbuch fanden wenig Anklang.

Die Opposition stand aussichtslos im Winkel und verfiel allmählich,
wie vormals die Altrechtler, jenem pessimistischen Trotze, der die tiefen
schwäbischen Gemüther so leicht bethört. In einer geistreichen Schrift über
das Recht der Steuerverwilligung (1836) erwies Pfizer, dies Recht müsse
den Landständen als Mittel dienen, "um auf die vollziehende Gewalt Ein-
fluß zu gewinnen und Aenderungen im Regierungssystem zu bewirken."
Es war die altständische Ansicht vom power of the purse, eine grob
naturalistische, mit der Staatseinheit schlechthin unvereinbare Lehre, welche
das Wesen der Freiheit im beständigen Kampfe gegen die Regierung suchte.
Diese staatsfeindliche Doctrin, die einst den alten Ständen Mecklenburgs
und Württembergs zum Leitstern gedient hatte, wurde jetzt von dem ersten
Publicisten des deutschen Liberalismus als Grundsatz des modernen con-
stitutionellen Staatsrechts aufgestellt, und seine gemäßigt liberalen Freunde
schlossen sich ihm an. Sie stimmten allesammt gegen das Budget, weil
sie wußten, daß die Mehrheit es doch bewilligen würde, und sprachen selbst
feierlich aus, durch ihr Nein wollten sie nur Verwahrung einlegen wider
"ein dem constitutionellen Princip so wenig entsprechendes Regierungssystem".
Doch unmöglich konnten ehrliche, geistvolle Männer bei Abstimmungen,
die nicht ernst gemeint waren, sich auf die Dauer beruhigen. Was mußte
Pfizer empfinden, wenn er gegen den Zollverein stimmte oder gar den un-
sinnigen Satz vertheidigte: Landesrecht geht vor Bundesrecht! Er täuschte
sich nicht über die Unwahrheit eines politischen Kampfes ohne Mittelpunkt
und Ziel; von den Portfolio-Träumen seines Freundes Wurm wollte er
auch nichts hören, weil er die Selbstsucht der britischen Staatskunst durch-
schaute. Ueberdies hatte er an sich selbst erfahren, daß nur Männer,
welche ganz im parlamentarischen Leben aufgehen, in der Volksvertretung
wahrhaft mächtig werden, nicht aber Publicisten oder Denker, die auf an-
deren Gebieten sich ihren Namen erworben haben. Selbst Uhland, dessen
politischer Blick nicht so weit reichte, erkannte beschämt die Ohnmacht dieser
kleinen Landtage und sagte: "Wir stehen an der Grenze einer lebendigen
Wirksamkeit auf diesem Wege. Der Bündel ist nicht zu Stande gekommen,
das Beil hat kein Heft, und die Stäbe liegen geknickt umher." Das Land
regte sich nicht, und es klang fast wie Hohn, wenn Wurm und seine
Genossen im Portfolio rühmten: der Stuttgarter Hof sei russisch, die
Opposition allein vertrete die wirkliche Meinung des Volks, das nach
einem Bunde mit den Westmächten verlange.

IV. 8. Stille Jahre.
verlangte in feuriger Rede: jeder Landtag müſſe die gemeinſamen deut-
ſchen Angelegenheiten als wahrhafte Landesangelegenheiten betrachten; dann
werde die Nation ſich als Nation erkennen und nicht länger vor den Aus-
ländern zu erröthen brauchen. Allein die Theilnahme blieb lau; als er
ſeine Anträge zum vierten male einbrachte, begrub man ſie ſtillſchweigend
in den Akten. Auch Römer’s tief durchdachte Reden gegen das neue, überaus
harte Strafgeſetzbuch fanden wenig Anklang.

Die Oppoſition ſtand ausſichtslos im Winkel und verfiel allmählich,
wie vormals die Altrechtler, jenem peſſimiſtiſchen Trotze, der die tiefen
ſchwäbiſchen Gemüther ſo leicht bethört. In einer geiſtreichen Schrift über
das Recht der Steuerverwilligung (1836) erwies Pfizer, dies Recht müſſe
den Landſtänden als Mittel dienen, „um auf die vollziehende Gewalt Ein-
fluß zu gewinnen und Aenderungen im Regierungsſyſtem zu bewirken.“
Es war die altſtändiſche Anſicht vom power of the purse, eine grob
naturaliſtiſche, mit der Staatseinheit ſchlechthin unvereinbare Lehre, welche
das Weſen der Freiheit im beſtändigen Kampfe gegen die Regierung ſuchte.
Dieſe ſtaatsfeindliche Doctrin, die einſt den alten Ständen Mecklenburgs
und Württembergs zum Leitſtern gedient hatte, wurde jetzt von dem erſten
Publiciſten des deutſchen Liberalismus als Grundſatz des modernen con-
ſtitutionellen Staatsrechts aufgeſtellt, und ſeine gemäßigt liberalen Freunde
ſchloſſen ſich ihm an. Sie ſtimmten alleſammt gegen das Budget, weil
ſie wußten, daß die Mehrheit es doch bewilligen würde, und ſprachen ſelbſt
feierlich aus, durch ihr Nein wollten ſie nur Verwahrung einlegen wider
„ein dem conſtitutionellen Princip ſo wenig entſprechendes Regierungsſyſtem“.
Doch unmöglich konnten ehrliche, geiſtvolle Männer bei Abſtimmungen,
die nicht ernſt gemeint waren, ſich auf die Dauer beruhigen. Was mußte
Pfizer empfinden, wenn er gegen den Zollverein ſtimmte oder gar den un-
ſinnigen Satz vertheidigte: Landesrecht geht vor Bundesrecht! Er täuſchte
ſich nicht über die Unwahrheit eines politiſchen Kampfes ohne Mittelpunkt
und Ziel; von den Portfolio-Träumen ſeines Freundes Wurm wollte er
auch nichts hören, weil er die Selbſtſucht der britiſchen Staatskunſt durch-
ſchaute. Ueberdies hatte er an ſich ſelbſt erfahren, daß nur Männer,
welche ganz im parlamentariſchen Leben aufgehen, in der Volksvertretung
wahrhaft mächtig werden, nicht aber Publiciſten oder Denker, die auf an-
deren Gebieten ſich ihren Namen erworben haben. Selbſt Uhland, deſſen
politiſcher Blick nicht ſo weit reichte, erkannte beſchämt die Ohnmacht dieſer
kleinen Landtage und ſagte: „Wir ſtehen an der Grenze einer lebendigen
Wirkſamkeit auf dieſem Wege. Der Bündel iſt nicht zu Stande gekommen,
das Beil hat kein Heft, und die Stäbe liegen geknickt umher.“ Das Land
regte ſich nicht, und es klang faſt wie Hohn, wenn Wurm und ſeine
Genoſſen im Portfolio rühmten: der Stuttgarter Hof ſei ruſſiſch, die
Oppoſition allein vertrete die wirkliche Meinung des Volks, das nach
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[626/0640] IV. 8. Stille Jahre. verlangte in feuriger Rede: jeder Landtag müſſe die gemeinſamen deut- ſchen Angelegenheiten als wahrhafte Landesangelegenheiten betrachten; dann werde die Nation ſich als Nation erkennen und nicht länger vor den Aus- ländern zu erröthen brauchen. Allein die Theilnahme blieb lau; als er ſeine Anträge zum vierten male einbrachte, begrub man ſie ſtillſchweigend in den Akten. Auch Römer’s tief durchdachte Reden gegen das neue, überaus harte Strafgeſetzbuch fanden wenig Anklang. Die Oppoſition ſtand ausſichtslos im Winkel und verfiel allmählich, wie vormals die Altrechtler, jenem peſſimiſtiſchen Trotze, der die tiefen ſchwäbiſchen Gemüther ſo leicht bethört. In einer geiſtreichen Schrift über das Recht der Steuerverwilligung (1836) erwies Pfizer, dies Recht müſſe den Landſtänden als Mittel dienen, „um auf die vollziehende Gewalt Ein- fluß zu gewinnen und Aenderungen im Regierungsſyſtem zu bewirken.“ Es war die altſtändiſche Anſicht vom power of the purse, eine grob naturaliſtiſche, mit der Staatseinheit ſchlechthin unvereinbare Lehre, welche das Weſen der Freiheit im beſtändigen Kampfe gegen die Regierung ſuchte. Dieſe ſtaatsfeindliche Doctrin, die einſt den alten Ständen Mecklenburgs und Württembergs zum Leitſtern gedient hatte, wurde jetzt von dem erſten Publiciſten des deutſchen Liberalismus als Grundſatz des modernen con- ſtitutionellen Staatsrechts aufgeſtellt, und ſeine gemäßigt liberalen Freunde ſchloſſen ſich ihm an. Sie ſtimmten alleſammt gegen das Budget, weil ſie wußten, daß die Mehrheit es doch bewilligen würde, und ſprachen ſelbſt feierlich aus, durch ihr Nein wollten ſie nur Verwahrung einlegen wider „ein dem conſtitutionellen Princip ſo wenig entſprechendes Regierungsſyſtem“. Doch unmöglich konnten ehrliche, geiſtvolle Männer bei Abſtimmungen, die nicht ernſt gemeint waren, ſich auf die Dauer beruhigen. Was mußte Pfizer empfinden, wenn er gegen den Zollverein ſtimmte oder gar den un- ſinnigen Satz vertheidigte: Landesrecht geht vor Bundesrecht! Er täuſchte ſich nicht über die Unwahrheit eines politiſchen Kampfes ohne Mittelpunkt und Ziel; von den Portfolio-Träumen ſeines Freundes Wurm wollte er auch nichts hören, weil er die Selbſtſucht der britiſchen Staatskunſt durch- ſchaute. Ueberdies hatte er an ſich ſelbſt erfahren, daß nur Männer, welche ganz im parlamentariſchen Leben aufgehen, in der Volksvertretung wahrhaft mächtig werden, nicht aber Publiciſten oder Denker, die auf an- deren Gebieten ſich ihren Namen erworben haben. Selbſt Uhland, deſſen politiſcher Blick nicht ſo weit reichte, erkannte beſchämt die Ohnmacht dieſer kleinen Landtage und ſagte: „Wir ſtehen an der Grenze einer lebendigen Wirkſamkeit auf dieſem Wege. Der Bündel iſt nicht zu Stande gekommen, das Beil hat kein Heft, und die Stäbe liegen geknickt umher.“ Das Land regte ſich nicht, und es klang faſt wie Hohn, wenn Wurm und ſeine Genoſſen im Portfolio rühmten: der Stuttgarter Hof ſei ruſſiſch, die Oppoſition allein vertrete die wirkliche Meinung des Volks, das nach einem Bunde mit den Weſtmächten verlange.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 626. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/640>, abgerufen am 24.11.2024.