bedeuteten, nur kurze Zeit im Amte blieben; dann verschwanden sie plötz- lich aus räthselhaften Gründen, manche kehrten späterhin wieder in das Ministerium zurück. In Berlin hatte man nachgerade verlernt, sich über dies Regierungssystem zu verwundern. Ancillon meinte, dergleichen Ent- lassungen bedeuteten nach hessischen Verhältnissen gar nichts, und fügte die weise Lehre hinzu: blinde Nachgiebigkeit schützt nicht vor der Ungnade eines willkürlichen Fürsten. Wie verführerisch mußte in einem solchen Lande jener thörichte Artikel 100 des Grundgesetzes erscheinen, der die Stände verpflichtete die Minister wegen Verletzung der Verfassung anzu- klagen. Die Landstände sahen -- so sagte eine ihrer Klagschriften -- daß Hassenpflug "gegen das lebendige Wirken und die gesetzliche Entwicklung der Verfassung unermüdlich ankämpfte." Doch so gewiß er den Geist der Verfassung zu zerstören suchte, ihren Wortlaut zu verletzen hütete er sich klüglich; eine rechtliche Verschuldung ließ sich ihm nicht nachweisen. Gleich- wohl verklagte ihn der Landtag viermal vor dem Oberappellationsgerichte; die eine der Anklageschriften zählte allein dreizehn angebliche Verfassungs- verletzungen auf: das Verfahren gegen Jordan, die Urlaubsverweigerungen, die Landtagsauflösungen ohne Landtagsabschied, dazu eine Menge uner- heblicher Dinge, sogar die verspätete Einstellung der Rekruten.
Zum ersten male seit dem Bestande der neuen Verfassungen unter- nahm ein deutscher Landtag die zweischneidige Waffe der Ministeranklage zu gebrauchen, und es wurde verhängnißvoll für die Zukunft unseres Par- lamentarismus, daß dieser erste Versuch jämmerlich mißlang. Der Tübinger Staatsrechtslehrer Robert Mohl übernahm die Vertheidigung des Mini- sters, den er sicherlich nicht liebte. Mohl hatte sich schon als junger Mann durch seinen wissenschaftlichen Freimuth die Ungnade des Bundestags zu- gezogen und seine constitutionelle Gesinnung soeben wieder in dem treff- lichen Lehrbuche des Württembergischen Staatsrechts bewährt, doch er ver- schmähte den Launen der öffentlichen Meinung zu folgen und er erkannte, daß die deutschen Landtage unbedacht ihr eigenes Ansehen untergruben, wenn sie politische Machtfragen und Meinungsverschiedenheiten auf dem Rechtswege zu entscheiden suchten. In seiner Vertheidigungsschrift sprach er sehr scharf wider die Rechtsverdrehungen der Liberalen; er beschwor die Richter, "Hessens Verfassung frei zu halten von solchem Widersinn, solcher Barbarei und solcher, die Bekleidung jedes höheren Staatsamtes Jedem unmöglich machenden Auslegung." Das Oberappellationsgericht, das zum guten Theile aus Liberalen bestand und so oft schon fürstlicher Willkür tapfer entgegengetreten war, zeigte diesmal auch nach unten hin eine ehren- werthe Selbständigkeit. Hassenpflug wurde in allen vier Fällen freige- sprochen und veröffentlichte, zur Beschämung des Landtags, sämmtliche Aktenstücke, die allerdings nur den Juristen, nicht den Politikern seine Un- schuld darlegten. Der preußische Hof hielt sich von diesem Streite, wie von allen den inneren Zwistigkeiten der kleinen Staaten, behutsam zurück.
IV. 8. Stille Jahre.
bedeuteten, nur kurze Zeit im Amte blieben; dann verſchwanden ſie plötz- lich aus räthſelhaften Gründen, manche kehrten ſpäterhin wieder in das Miniſterium zurück. In Berlin hatte man nachgerade verlernt, ſich über dies Regierungsſyſtem zu verwundern. Ancillon meinte, dergleichen Ent- laſſungen bedeuteten nach heſſiſchen Verhältniſſen gar nichts, und fügte die weiſe Lehre hinzu: blinde Nachgiebigkeit ſchützt nicht vor der Ungnade eines willkürlichen Fürſten. Wie verführeriſch mußte in einem ſolchen Lande jener thörichte Artikel 100 des Grundgeſetzes erſcheinen, der die Stände verpflichtete die Miniſter wegen Verletzung der Verfaſſung anzu- klagen. Die Landſtände ſahen — ſo ſagte eine ihrer Klagſchriften — daß Haſſenpflug „gegen das lebendige Wirken und die geſetzliche Entwicklung der Verfaſſung unermüdlich ankämpfte.“ Doch ſo gewiß er den Geiſt der Verfaſſung zu zerſtören ſuchte, ihren Wortlaut zu verletzen hütete er ſich klüglich; eine rechtliche Verſchuldung ließ ſich ihm nicht nachweiſen. Gleich- wohl verklagte ihn der Landtag viermal vor dem Oberappellationsgerichte; die eine der Anklageſchriften zählte allein dreizehn angebliche Verfaſſungs- verletzungen auf: das Verfahren gegen Jordan, die Urlaubsverweigerungen, die Landtagsauflöſungen ohne Landtagsabſchied, dazu eine Menge uner- heblicher Dinge, ſogar die verſpätete Einſtellung der Rekruten.
Zum erſten male ſeit dem Beſtande der neuen Verfaſſungen unter- nahm ein deutſcher Landtag die zweiſchneidige Waffe der Miniſteranklage zu gebrauchen, und es wurde verhängnißvoll für die Zukunft unſeres Par- lamentarismus, daß dieſer erſte Verſuch jämmerlich mißlang. Der Tübinger Staatsrechtslehrer Robert Mohl übernahm die Vertheidigung des Mini- ſters, den er ſicherlich nicht liebte. Mohl hatte ſich ſchon als junger Mann durch ſeinen wiſſenſchaftlichen Freimuth die Ungnade des Bundestags zu- gezogen und ſeine conſtitutionelle Geſinnung ſoeben wieder in dem treff- lichen Lehrbuche des Württembergiſchen Staatsrechts bewährt, doch er ver- ſchmähte den Launen der öffentlichen Meinung zu folgen und er erkannte, daß die deutſchen Landtage unbedacht ihr eigenes Anſehen untergruben, wenn ſie politiſche Machtfragen und Meinungsverſchiedenheiten auf dem Rechtswege zu entſcheiden ſuchten. In ſeiner Vertheidigungsſchrift ſprach er ſehr ſcharf wider die Rechtsverdrehungen der Liberalen; er beſchwor die Richter, „Heſſens Verfaſſung frei zu halten von ſolchem Widerſinn, ſolcher Barbarei und ſolcher, die Bekleidung jedes höheren Staatsamtes Jedem unmöglich machenden Auslegung.“ Das Oberappellationsgericht, das zum guten Theile aus Liberalen beſtand und ſo oft ſchon fürſtlicher Willkür tapfer entgegengetreten war, zeigte diesmal auch nach unten hin eine ehren- werthe Selbſtändigkeit. Haſſenpflug wurde in allen vier Fällen freige- ſprochen und veröffentlichte, zur Beſchämung des Landtags, ſämmtliche Aktenſtücke, die allerdings nur den Juriſten, nicht den Politikern ſeine Un- ſchuld darlegten. Der preußiſche Hof hielt ſich von dieſem Streite, wie von allen den inneren Zwiſtigkeiten der kleinen Staaten, behutſam zurück.
<TEI><text><body><divn="1"><divn="2"><p><pbfacs="#f0636"n="622"/><fwplace="top"type="header"><hirendition="#aq">IV.</hi> 8. Stille Jahre.</fw><lb/>
bedeuteten, nur kurze Zeit im Amte blieben; dann verſchwanden ſie plötz-<lb/>
lich aus räthſelhaften Gründen, manche kehrten ſpäterhin wieder in das<lb/>
Miniſterium zurück. In Berlin hatte man nachgerade verlernt, ſich über<lb/>
dies Regierungsſyſtem zu verwundern. Ancillon meinte, dergleichen Ent-<lb/>
laſſungen bedeuteten nach heſſiſchen Verhältniſſen gar nichts, und fügte<lb/>
die weiſe Lehre hinzu: blinde Nachgiebigkeit ſchützt nicht vor der Ungnade<lb/>
eines willkürlichen Fürſten. Wie verführeriſch mußte in einem ſolchen<lb/>
Lande jener thörichte Artikel 100 des Grundgeſetzes erſcheinen, der die<lb/>
Stände verpflichtete die Miniſter wegen Verletzung der Verfaſſung anzu-<lb/>
klagen. Die Landſtände ſahen —ſo ſagte eine ihrer Klagſchriften — daß<lb/>
Haſſenpflug „gegen das lebendige Wirken und die geſetzliche Entwicklung<lb/>
der Verfaſſung unermüdlich ankämpfte.“ Doch ſo gewiß er den Geiſt der<lb/>
Verfaſſung zu zerſtören ſuchte, ihren Wortlaut zu verletzen hütete er ſich<lb/>
klüglich; eine rechtliche Verſchuldung ließ ſich ihm nicht nachweiſen. Gleich-<lb/>
wohl verklagte ihn der Landtag viermal vor dem Oberappellationsgerichte;<lb/>
die eine der Anklageſchriften zählte allein dreizehn angebliche Verfaſſungs-<lb/>
verletzungen auf: das Verfahren gegen Jordan, die Urlaubsverweigerungen,<lb/>
die Landtagsauflöſungen ohne Landtagsabſchied, dazu eine Menge uner-<lb/>
heblicher Dinge, ſogar die verſpätete Einſtellung der Rekruten.</p><lb/><p>Zum erſten male ſeit dem Beſtande der neuen Verfaſſungen unter-<lb/>
nahm ein deutſcher Landtag die zweiſchneidige Waffe der Miniſteranklage<lb/>
zu gebrauchen, und es wurde verhängnißvoll für die Zukunft unſeres Par-<lb/>
lamentarismus, daß dieſer erſte Verſuch jämmerlich mißlang. Der Tübinger<lb/>
Staatsrechtslehrer Robert Mohl übernahm die Vertheidigung des Mini-<lb/>ſters, den er ſicherlich nicht liebte. Mohl hatte ſich ſchon als junger Mann<lb/>
durch ſeinen wiſſenſchaftlichen Freimuth die Ungnade des Bundestags zu-<lb/>
gezogen und ſeine conſtitutionelle Geſinnung ſoeben wieder in dem treff-<lb/>
lichen Lehrbuche des Württembergiſchen Staatsrechts bewährt, doch er ver-<lb/>ſchmähte den Launen der öffentlichen Meinung zu folgen und er erkannte,<lb/>
daß die deutſchen Landtage unbedacht ihr eigenes Anſehen untergruben,<lb/>
wenn ſie politiſche Machtfragen und Meinungsverſchiedenheiten auf dem<lb/>
Rechtswege zu entſcheiden ſuchten. In ſeiner Vertheidigungsſchrift ſprach<lb/>
er ſehr ſcharf wider die Rechtsverdrehungen der Liberalen; er beſchwor die<lb/>
Richter, „Heſſens Verfaſſung frei zu halten von ſolchem Widerſinn, ſolcher<lb/>
Barbarei und ſolcher, die Bekleidung jedes höheren Staatsamtes Jedem<lb/>
unmöglich machenden Auslegung.“ Das Oberappellationsgericht, das zum<lb/>
guten Theile aus Liberalen beſtand und ſo oft ſchon fürſtlicher Willkür<lb/>
tapfer entgegengetreten war, zeigte diesmal auch nach unten hin eine ehren-<lb/>
werthe Selbſtändigkeit. Haſſenpflug wurde in allen vier Fällen freige-<lb/>ſprochen und veröffentlichte, zur Beſchämung des Landtags, ſämmtliche<lb/>
Aktenſtücke, die allerdings nur den Juriſten, nicht den Politikern ſeine Un-<lb/>ſchuld darlegten. Der preußiſche Hof hielt ſich von dieſem Streite, wie<lb/>
von allen den inneren Zwiſtigkeiten der kleinen Staaten, behutſam zurück.<lb/></p></div></div></body></text></TEI>
[622/0636]
IV. 8. Stille Jahre.
bedeuteten, nur kurze Zeit im Amte blieben; dann verſchwanden ſie plötz-
lich aus räthſelhaften Gründen, manche kehrten ſpäterhin wieder in das
Miniſterium zurück. In Berlin hatte man nachgerade verlernt, ſich über
dies Regierungsſyſtem zu verwundern. Ancillon meinte, dergleichen Ent-
laſſungen bedeuteten nach heſſiſchen Verhältniſſen gar nichts, und fügte
die weiſe Lehre hinzu: blinde Nachgiebigkeit ſchützt nicht vor der Ungnade
eines willkürlichen Fürſten. Wie verführeriſch mußte in einem ſolchen
Lande jener thörichte Artikel 100 des Grundgeſetzes erſcheinen, der die
Stände verpflichtete die Miniſter wegen Verletzung der Verfaſſung anzu-
klagen. Die Landſtände ſahen — ſo ſagte eine ihrer Klagſchriften — daß
Haſſenpflug „gegen das lebendige Wirken und die geſetzliche Entwicklung
der Verfaſſung unermüdlich ankämpfte.“ Doch ſo gewiß er den Geiſt der
Verfaſſung zu zerſtören ſuchte, ihren Wortlaut zu verletzen hütete er ſich
klüglich; eine rechtliche Verſchuldung ließ ſich ihm nicht nachweiſen. Gleich-
wohl verklagte ihn der Landtag viermal vor dem Oberappellationsgerichte;
die eine der Anklageſchriften zählte allein dreizehn angebliche Verfaſſungs-
verletzungen auf: das Verfahren gegen Jordan, die Urlaubsverweigerungen,
die Landtagsauflöſungen ohne Landtagsabſchied, dazu eine Menge uner-
heblicher Dinge, ſogar die verſpätete Einſtellung der Rekruten.
Zum erſten male ſeit dem Beſtande der neuen Verfaſſungen unter-
nahm ein deutſcher Landtag die zweiſchneidige Waffe der Miniſteranklage
zu gebrauchen, und es wurde verhängnißvoll für die Zukunft unſeres Par-
lamentarismus, daß dieſer erſte Verſuch jämmerlich mißlang. Der Tübinger
Staatsrechtslehrer Robert Mohl übernahm die Vertheidigung des Mini-
ſters, den er ſicherlich nicht liebte. Mohl hatte ſich ſchon als junger Mann
durch ſeinen wiſſenſchaftlichen Freimuth die Ungnade des Bundestags zu-
gezogen und ſeine conſtitutionelle Geſinnung ſoeben wieder in dem treff-
lichen Lehrbuche des Württembergiſchen Staatsrechts bewährt, doch er ver-
ſchmähte den Launen der öffentlichen Meinung zu folgen und er erkannte,
daß die deutſchen Landtage unbedacht ihr eigenes Anſehen untergruben,
wenn ſie politiſche Machtfragen und Meinungsverſchiedenheiten auf dem
Rechtswege zu entſcheiden ſuchten. In ſeiner Vertheidigungsſchrift ſprach
er ſehr ſcharf wider die Rechtsverdrehungen der Liberalen; er beſchwor die
Richter, „Heſſens Verfaſſung frei zu halten von ſolchem Widerſinn, ſolcher
Barbarei und ſolcher, die Bekleidung jedes höheren Staatsamtes Jedem
unmöglich machenden Auslegung.“ Das Oberappellationsgericht, das zum
guten Theile aus Liberalen beſtand und ſo oft ſchon fürſtlicher Willkür
tapfer entgegengetreten war, zeigte diesmal auch nach unten hin eine ehren-
werthe Selbſtändigkeit. Haſſenpflug wurde in allen vier Fällen freige-
ſprochen und veröffentlichte, zur Beſchämung des Landtags, ſämmtliche
Aktenſtücke, die allerdings nur den Juriſten, nicht den Politikern ſeine Un-
ſchuld darlegten. Der preußiſche Hof hielt ſich von dieſem Streite, wie
von allen den inneren Zwiſtigkeiten der kleinen Staaten, behutſam zurück.
Informationen zur CAB-Ansicht
Diese Ansicht bietet Ihnen die Darstellung des Textes in normalisierter Orthographie.
Diese Textvariante wird vollautomatisch erstellt und kann aufgrund dessen auch Fehler enthalten.
Alle veränderten Wortformen sind grau hinterlegt. Als fremdsprachliches Material erkannte
Textteile sind ausgegraut dargestellt.
Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 622. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/636>, abgerufen am 24.07.2024.
Alle Inhalte dieser Seite unterstehen, soweit nicht anders gekennzeichnet, einer
Creative-Commons-Lizenz.
Die Rechte an den angezeigten Bilddigitalisaten, soweit nicht anders gekennzeichnet, liegen bei den besitzenden Bibliotheken.
Weitere Informationen finden Sie in den DTA-Nutzungsbedingungen.
Insbesondere im Hinblick auf die §§ 86a StGB und 130 StGB wird festgestellt, dass die auf
diesen Seiten abgebildeten Inhalte weder in irgendeiner Form propagandistischen Zwecken
dienen, oder Werbung für verbotene Organisationen oder Vereinigungen darstellen, oder
nationalsozialistische Verbrechen leugnen oder verharmlosen, noch zum Zwecke der
Herabwürdigung der Menschenwürde gezeigt werden.
Die auf diesen Seiten abgebildeten Inhalte (in Wort und Bild) dienen im Sinne des
§ 86 StGB Abs. 3 ausschließlich historischen, sozial- oder kulturwissenschaftlichen
Forschungszwecken. Ihre Veröffentlichung erfolgt in der Absicht, Wissen zur Anregung
der intellektuellen Selbstständigkeit und Verantwortungsbereitschaft des Staatsbürgers zu
vermitteln und damit der Förderung seiner Mündigkeit zu dienen.
Zitierempfehlung: Deutsches Textarchiv. Grundlage für ein Referenzkorpus der neuhochdeutschen Sprache. Herausgegeben von der Berlin-Brandenburgischen Akademie der Wissenschaften, Berlin 2024. URL: https://www.deutschestextarchiv.de/.