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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Belgien und die Großmächte.
der Minister des Innern, hielt für sicher, daß der Anblick des preußischen
Beobachtungsheeres die Kriegslust der Franzosen steigern müsse: "Diese
unglückliche belgische Sache verwickelt unsere Geschäfte schrecklich und stellt
uns auf einen Vulkan. Mit der kommenden jungen Kammer und bei
der Aufregung, welche die Möglichkeit eines Krieges hervorrufen kann,
werden wir ein neues 1793 erleben. Ich kann Ihnen versichern, daß
der König in dieser Hinsicht die Meinungen und Besorgnisse seines
Ministerrathes theilt."*)

Mittlerweile hatten sich die Brüsseler zum zweiten male siegreich
erhoben, ganz Belgien war im Aufruhr, die Versöhnung zwischen den
beiden verfeindeten Nachbarstämmen erschien aussichtslos. Es ward hohe
Zeit, daß die Großmächte sich ins Mittel legten. Nachdem das niederlän-
dische Cabinet schon am 7. September die vier Mächte gebeten hatte, eine
Gesandten-Conferenz nach dem Haag zu berufen, richtete Bernstorff jetzt
(3. Oktober) die dringende Anfrage nach London: ob England nun endlich
den rechten Augenblick zum gemeinsamen Einschreiten gekommen glaube?
Er fragte ferner: ob es nicht vortheilhaft sei, wenn auch der Hof des Palais
Royal mittelbar oder unmittelbar bei den Unterhandlungen mitwirkte?**)
Obgleich Frankreich an der Begründung der Vereinigten Niederlande nicht
theilgenommen, so war es doch auf dem Aachener Congreß förmlich in
die große Allianz eingetreten; ohne seine Zustimmung, das lag auf der
Hand, ließ sich die belgische Frage nicht im Frieden beilegen. Zur
Rechtfertigung seiner Ansicht berief sich Bernstorff auf die kriegerischen
Leidenschaften der Franzosen, welche der Regierung selber über den Kopf
zu wachsen drohten: "man muß ihr die Mittel gewähren, um sich ohne
Demüthigung und ohne Gefahr für sich selber aus einer sehr ernsten
Verlegenheit zu ziehen."***)

Unterdessen war das englische Cabinet bereits auf denselben Ge-
danken verfallen. Seit einigen Tagen weilte Talleyrand als französischer
Botschafter in London, und der alte Meister der Diplomatie, dem die
Orleans ihre Krone verdankten, sollte ihnen jetzt auch noch eine leidliche
Stellung in der Staatengesellschaft verschaffen, sein wechselvolles Leben mit
einem erfolgreichen Spiele abschließen. Seiner nie versiegenden Bered-
samkeit konnte weder Wellington noch der Minister des Auswärtigen, der
beschränkte ängstliche Lord Aberdeen, widerstehen; er ward nicht müde zu
betheuern, daß sein König weder Belgien einverleiben noch dort einen
Heerd des Aufruhrs unterhalten wolle. Der eiserne Herzog war ent-
zückt und lobte Talleyrand's Redlichkeit ebenso warm wie er vor'm Jahre

*) Schreiben Guizot's (September), durch Bernstorff an Bülow mitgetheilt
3. Oct. 1830.
**) Verstolk van Soelen an Perponcher, Haag 7. Sept. Bernstorff, Weisung an
Bülow 3. Oct. 1830.
***) Bernstorff, Weisung an Bülow 20. Oct. 1830.
Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 4

Belgien und die Großmächte.
der Miniſter des Innern, hielt für ſicher, daß der Anblick des preußiſchen
Beobachtungsheeres die Kriegsluſt der Franzoſen ſteigern müſſe: „Dieſe
unglückliche belgiſche Sache verwickelt unſere Geſchäfte ſchrecklich und ſtellt
uns auf einen Vulkan. Mit der kommenden jungen Kammer und bei
der Aufregung, welche die Möglichkeit eines Krieges hervorrufen kann,
werden wir ein neues 1793 erleben. Ich kann Ihnen verſichern, daß
der König in dieſer Hinſicht die Meinungen und Beſorgniſſe ſeines
Miniſterrathes theilt.“*)

Mittlerweile hatten ſich die Brüſſeler zum zweiten male ſiegreich
erhoben, ganz Belgien war im Aufruhr, die Verſöhnung zwiſchen den
beiden verfeindeten Nachbarſtämmen erſchien ausſichtslos. Es ward hohe
Zeit, daß die Großmächte ſich ins Mittel legten. Nachdem das niederlän-
diſche Cabinet ſchon am 7. September die vier Mächte gebeten hatte, eine
Geſandten-Conferenz nach dem Haag zu berufen, richtete Bernſtorff jetzt
(3. Oktober) die dringende Anfrage nach London: ob England nun endlich
den rechten Augenblick zum gemeinſamen Einſchreiten gekommen glaube?
Er fragte ferner: ob es nicht vortheilhaft ſei, wenn auch der Hof des Palais
Royal mittelbar oder unmittelbar bei den Unterhandlungen mitwirkte?**)
Obgleich Frankreich an der Begründung der Vereinigten Niederlande nicht
theilgenommen, ſo war es doch auf dem Aachener Congreß förmlich in
die große Allianz eingetreten; ohne ſeine Zuſtimmung, das lag auf der
Hand, ließ ſich die belgiſche Frage nicht im Frieden beilegen. Zur
Rechtfertigung ſeiner Anſicht berief ſich Bernſtorff auf die kriegeriſchen
Leidenſchaften der Franzoſen, welche der Regierung ſelber über den Kopf
zu wachſen drohten: „man muß ihr die Mittel gewähren, um ſich ohne
Demüthigung und ohne Gefahr für ſich ſelber aus einer ſehr ernſten
Verlegenheit zu ziehen.“***)

Unterdeſſen war das engliſche Cabinet bereits auf denſelben Ge-
danken verfallen. Seit einigen Tagen weilte Talleyrand als franzöſiſcher
Botſchafter in London, und der alte Meiſter der Diplomatie, dem die
Orleans ihre Krone verdankten, ſollte ihnen jetzt auch noch eine leidliche
Stellung in der Staatengeſellſchaft verſchaffen, ſein wechſelvolles Leben mit
einem erfolgreichen Spiele abſchließen. Seiner nie verſiegenden Bered-
ſamkeit konnte weder Wellington noch der Miniſter des Auswärtigen, der
beſchränkte ängſtliche Lord Aberdeen, widerſtehen; er ward nicht müde zu
betheuern, daß ſein König weder Belgien einverleiben noch dort einen
Heerd des Aufruhrs unterhalten wolle. Der eiſerne Herzog war ent-
zückt und lobte Talleyrand’s Redlichkeit ebenſo warm wie er vor’m Jahre

*) Schreiben Guizot’s (September), durch Bernſtorff an Bülow mitgetheilt
3. Oct. 1830.
**) Verſtolk van Soelen an Perponcher, Haag 7. Sept. Bernſtorff, Weiſung an
Bülow 3. Oct. 1830.
***) Bernſtorff, Weiſung an Bülow 20. Oct. 1830.
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 4
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[49/0063] Belgien und die Großmächte. der Miniſter des Innern, hielt für ſicher, daß der Anblick des preußiſchen Beobachtungsheeres die Kriegsluſt der Franzoſen ſteigern müſſe: „Dieſe unglückliche belgiſche Sache verwickelt unſere Geſchäfte ſchrecklich und ſtellt uns auf einen Vulkan. Mit der kommenden jungen Kammer und bei der Aufregung, welche die Möglichkeit eines Krieges hervorrufen kann, werden wir ein neues 1793 erleben. Ich kann Ihnen verſichern, daß der König in dieſer Hinſicht die Meinungen und Beſorgniſſe ſeines Miniſterrathes theilt.“ *) Mittlerweile hatten ſich die Brüſſeler zum zweiten male ſiegreich erhoben, ganz Belgien war im Aufruhr, die Verſöhnung zwiſchen den beiden verfeindeten Nachbarſtämmen erſchien ausſichtslos. Es ward hohe Zeit, daß die Großmächte ſich ins Mittel legten. Nachdem das niederlän- diſche Cabinet ſchon am 7. September die vier Mächte gebeten hatte, eine Geſandten-Conferenz nach dem Haag zu berufen, richtete Bernſtorff jetzt (3. Oktober) die dringende Anfrage nach London: ob England nun endlich den rechten Augenblick zum gemeinſamen Einſchreiten gekommen glaube? Er fragte ferner: ob es nicht vortheilhaft ſei, wenn auch der Hof des Palais Royal mittelbar oder unmittelbar bei den Unterhandlungen mitwirkte? **) Obgleich Frankreich an der Begründung der Vereinigten Niederlande nicht theilgenommen, ſo war es doch auf dem Aachener Congreß förmlich in die große Allianz eingetreten; ohne ſeine Zuſtimmung, das lag auf der Hand, ließ ſich die belgiſche Frage nicht im Frieden beilegen. Zur Rechtfertigung ſeiner Anſicht berief ſich Bernſtorff auf die kriegeriſchen Leidenſchaften der Franzoſen, welche der Regierung ſelber über den Kopf zu wachſen drohten: „man muß ihr die Mittel gewähren, um ſich ohne Demüthigung und ohne Gefahr für ſich ſelber aus einer ſehr ernſten Verlegenheit zu ziehen.“ ***) Unterdeſſen war das engliſche Cabinet bereits auf denſelben Ge- danken verfallen. Seit einigen Tagen weilte Talleyrand als franzöſiſcher Botſchafter in London, und der alte Meiſter der Diplomatie, dem die Orleans ihre Krone verdankten, ſollte ihnen jetzt auch noch eine leidliche Stellung in der Staatengeſellſchaft verſchaffen, ſein wechſelvolles Leben mit einem erfolgreichen Spiele abſchließen. Seiner nie verſiegenden Bered- ſamkeit konnte weder Wellington noch der Miniſter des Auswärtigen, der beſchränkte ängſtliche Lord Aberdeen, widerſtehen; er ward nicht müde zu betheuern, daß ſein König weder Belgien einverleiben noch dort einen Heerd des Aufruhrs unterhalten wolle. Der eiſerne Herzog war ent- zückt und lobte Talleyrand’s Redlichkeit ebenſo warm wie er vor’m Jahre *) Schreiben Guizot’s (September), durch Bernſtorff an Bülow mitgetheilt 3. Oct. 1830. **) Verſtolk van Soelen an Perponcher, Haag 7. Sept. Bernſtorff, Weiſung an Bülow 3. Oct. 1830. ***) Bernſtorff, Weiſung an Bülow 20. Oct. 1830. Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 4

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 49. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/63>, abgerufen am 25.11.2024.