34,000 Köpfe. Manchen dieser Heimathlosen fiel ein trauriges Loos, und fast alle erprobten die Wahrheit des Sprichworts: Niemand hat in Amerika Erfolg, ehe er sein letztes europäisches Geld verloren hat. Aber die Ent- täuschten schwiegen aus Scham, während die Glücklichen mit dem ganzen Stolze der selfmade men ihre Erfolge den daheimgebliebenen Verwandten anzupreisen pflegten. Es giebt im Völkerleben Zeiten der Seßhaftigkeit, und wieder andere, in denen der Wandertrieb wie eine dunkle elementa- rische Macht auf das Gemüth der Menschen wirkt. Wie einst das Lied "Naar Oostland wille wi varen" verführerisch durch die Dörfer Flan- derns klang, so träumten jetzt Unzählige von dem märchenhaften Glück, das jenseits des großen Wassers jedem Tüchtigen winken sollte; und so wenig nüchterne Belehrung die Kreuzfahrer von der heiligen Reise zurück- halten konnte, ebenso wenig vermochten jetzt Vernunftgründe gegen die unbestimmte Sehnsucht nach dem Westen. Einem Volke ohne durchge- bildete Staatsgesinnung, das in der Staatsgewalt nur den polizeilichen Dränger und Vormund sah, mußte diese junge Welt, wo man den Staat kaum bemerkte, unwiderstehlich verlockend erscheinen.
Dort in der Fremde erfuhren die Deutschen täglich, wie stark die innere Einheit unseres Volksthums ist. Alle Auswanderer deutscher Zunge, auch die Elsaß-Lothringer, die Schweizer, die Oesterreicher schlossen sich unwillkürlich als Landsleute an einander, während die Schotten und Iren den Engländern fern blieben. Die politischen Flüchtlinge aus den höheren Ständen waren ihre natürlichen Führer; unverkennbar hob sich ihr Bil- dungsstand und ihr Ansehen unter den Eingeborenen. Von den Gießener Radicalen kamen Paul Follen und Friedrich Münch, ein grundehrlicher Mann von ungewöhnlicher Thatkraft; von den Frankfurter Verschwörern Gustav Körner und die beiden Bunsen; aus der Pfalz die angesehenen Geschlechter Hilgard und Engelmann. J. G. Wesselhöft, aus der Thü- ringer Burschenschafterfamilie, ließ in Philadelphia das größte deutsche Blatt der Union, "Die alte und die neue Welt" erscheinen. Im fernen Westen, wo die Deutschen sich besonders zahlreich angesiedelt hatten, gab ein anderer Jenenser Burschenschafter, W. Weber, eine deutsche Zeitung heraus, die den Lynchgerichten, der Mißhandlung der Neger und anderen Sünden amerikanischer Herzenshärtigkeit oft tapfer entgegentrat. Dem alten Vaterlande gingen alle diese tüchtigen Kräfte unrettbar verloren. Die republikanische Gesinnung, die sich in den Briefen der Ausgewan- derten aussprach, mußte daheim, im monarchischen Deutschland, die Be- griffe verwirren und namentlich den thörichten Haß gegen die stehenden Heere verstärken. Allgemein, selbst in gemäßigt liberalen Blättern wurde behauptet, dies glückliche Amerika schütze sich ganz von selbst, durch seine Freiheit und durch die Ehrlichkeit, die man seiner Verwaltung seltsamer- weise andichtete; Niemand bemerkte die einfache Thatsache, daß die Union keine gefährlichen Nachbarn besaß und darum keiner Truppen bedurfte. --
Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 39
Weitling. Amerikaniſche Auswanderung.
34,000 Köpfe. Manchen dieſer Heimathloſen fiel ein trauriges Loos, und faſt alle erprobten die Wahrheit des Sprichworts: Niemand hat in Amerika Erfolg, ehe er ſein letztes europäiſches Geld verloren hat. Aber die Ent- täuſchten ſchwiegen aus Scham, während die Glücklichen mit dem ganzen Stolze der selfmade men ihre Erfolge den daheimgebliebenen Verwandten anzupreiſen pflegten. Es giebt im Völkerleben Zeiten der Seßhaftigkeit, und wieder andere, in denen der Wandertrieb wie eine dunkle elementa- riſche Macht auf das Gemüth der Menſchen wirkt. Wie einſt das Lied „Naar Ooſtland wille wi varen“ verführeriſch durch die Dörfer Flan- derns klang, ſo träumten jetzt Unzählige von dem märchenhaften Glück, das jenſeits des großen Waſſers jedem Tüchtigen winken ſollte; und ſo wenig nüchterne Belehrung die Kreuzfahrer von der heiligen Reiſe zurück- halten konnte, ebenſo wenig vermochten jetzt Vernunftgründe gegen die unbeſtimmte Sehnſucht nach dem Weſten. Einem Volke ohne durchge- bildete Staatsgeſinnung, das in der Staatsgewalt nur den polizeilichen Dränger und Vormund ſah, mußte dieſe junge Welt, wo man den Staat kaum bemerkte, unwiderſtehlich verlockend erſcheinen.
Dort in der Fremde erfuhren die Deutſchen täglich, wie ſtark die innere Einheit unſeres Volksthums iſt. Alle Auswanderer deutſcher Zunge, auch die Elſaß-Lothringer, die Schweizer, die Oeſterreicher ſchloſſen ſich unwillkürlich als Landsleute an einander, während die Schotten und Iren den Engländern fern blieben. Die politiſchen Flüchtlinge aus den höheren Ständen waren ihre natürlichen Führer; unverkennbar hob ſich ihr Bil- dungsſtand und ihr Anſehen unter den Eingeborenen. Von den Gießener Radicalen kamen Paul Follen und Friedrich Münch, ein grundehrlicher Mann von ungewöhnlicher Thatkraft; von den Frankfurter Verſchwörern Guſtav Körner und die beiden Bunſen; aus der Pfalz die angeſehenen Geſchlechter Hilgard und Engelmann. J. G. Weſſelhöft, aus der Thü- ringer Burſchenſchafterfamilie, ließ in Philadelphia das größte deutſche Blatt der Union, „Die alte und die neue Welt“ erſcheinen. Im fernen Weſten, wo die Deutſchen ſich beſonders zahlreich angeſiedelt hatten, gab ein anderer Jenenſer Burſchenſchafter, W. Weber, eine deutſche Zeitung heraus, die den Lynchgerichten, der Mißhandlung der Neger und anderen Sünden amerikaniſcher Herzenshärtigkeit oft tapfer entgegentrat. Dem alten Vaterlande gingen alle dieſe tüchtigen Kräfte unrettbar verloren. Die republikaniſche Geſinnung, die ſich in den Briefen der Ausgewan- derten ausſprach, mußte daheim, im monarchiſchen Deutſchland, die Be- griffe verwirren und namentlich den thörichten Haß gegen die ſtehenden Heere verſtärken. Allgemein, ſelbſt in gemäßigt liberalen Blättern wurde behauptet, dies glückliche Amerika ſchütze ſich ganz von ſelbſt, durch ſeine Freiheit und durch die Ehrlichkeit, die man ſeiner Verwaltung ſeltſamer- weiſe andichtete; Niemand bemerkte die einfache Thatſache, daß die Union keine gefährlichen Nachbarn beſaß und darum keiner Truppen bedurfte. —
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 39
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Weitling. Amerikaniſche Auswanderung.
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faſt alle erprobten die Wahrheit des Sprichworts: Niemand hat in Amerika
Erfolg, ehe er ſein letztes europäiſches Geld verloren hat. Aber die Ent-
täuſchten ſchwiegen aus Scham, während die Glücklichen mit dem ganzen
Stolze der selfmade men ihre Erfolge den daheimgebliebenen Verwandten
anzupreiſen pflegten. Es giebt im Völkerleben Zeiten der Seßhaftigkeit,
und wieder andere, in denen der Wandertrieb wie eine dunkle elementa-
riſche Macht auf das Gemüth der Menſchen wirkt. Wie einſt das Lied
„Naar Ooſtland wille wi varen“ verführeriſch durch die Dörfer Flan-
derns klang, ſo träumten jetzt Unzählige von dem märchenhaften Glück,
das jenſeits des großen Waſſers jedem Tüchtigen winken ſollte; und ſo
wenig nüchterne Belehrung die Kreuzfahrer von der heiligen Reiſe zurück-
halten konnte, ebenſo wenig vermochten jetzt Vernunftgründe gegen die
unbeſtimmte Sehnſucht nach dem Weſten. Einem Volke ohne durchge-
bildete Staatsgeſinnung, das in der Staatsgewalt nur den polizeilichen
Dränger und Vormund ſah, mußte dieſe junge Welt, wo man den Staat
kaum bemerkte, unwiderſtehlich verlockend erſcheinen.
Dort in der Fremde erfuhren die Deutſchen täglich, wie ſtark die
innere Einheit unſeres Volksthums iſt. Alle Auswanderer deutſcher Zunge,
auch die Elſaß-Lothringer, die Schweizer, die Oeſterreicher ſchloſſen ſich
unwillkürlich als Landsleute an einander, während die Schotten und Iren
den Engländern fern blieben. Die politiſchen Flüchtlinge aus den höheren
Ständen waren ihre natürlichen Führer; unverkennbar hob ſich ihr Bil-
dungsſtand und ihr Anſehen unter den Eingeborenen. Von den Gießener
Radicalen kamen Paul Follen und Friedrich Münch, ein grundehrlicher
Mann von ungewöhnlicher Thatkraft; von den Frankfurter Verſchwörern
Guſtav Körner und die beiden Bunſen; aus der Pfalz die angeſehenen
Geſchlechter Hilgard und Engelmann. J. G. Weſſelhöft, aus der Thü-
ringer Burſchenſchafterfamilie, ließ in Philadelphia das größte deutſche
Blatt der Union, „Die alte und die neue Welt“ erſcheinen. Im fernen
Weſten, wo die Deutſchen ſich beſonders zahlreich angeſiedelt hatten, gab
ein anderer Jenenſer Burſchenſchafter, W. Weber, eine deutſche Zeitung
heraus, die den Lynchgerichten, der Mißhandlung der Neger und anderen
Sünden amerikaniſcher Herzenshärtigkeit oft tapfer entgegentrat. Dem
alten Vaterlande gingen alle dieſe tüchtigen Kräfte unrettbar verloren.
Die republikaniſche Geſinnung, die ſich in den Briefen der Ausgewan-
derten ausſprach, mußte daheim, im monarchiſchen Deutſchland, die Be-
griffe verwirren und namentlich den thörichten Haß gegen die ſtehenden
Heere verſtärken. Allgemein, ſelbſt in gemäßigt liberalen Blättern wurde
behauptet, dies glückliche Amerika ſchütze ſich ganz von ſelbſt, durch ſeine
Freiheit und durch die Ehrlichkeit, die man ſeiner Verwaltung ſeltſamer-
weiſe andichtete; Niemand bemerkte die einfache Thatſache, daß die Union
keine gefährlichen Nachbarn beſaß und darum keiner Truppen bedurfte. —
Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 39
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 609. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/623>, abgerufen am 25.07.2024.
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