Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.IV. 8. Stille Jahre. haften Nachrichten versorgten*), und eifrig suchten die gehetzten Flüchtlingenach Verräthern im eigenen Lager. Welch ein Lärm, als ein jüdischer Student Lessing aus der Mark im Jahre 1835 zu Zürich ermordet wurde, ein gemeiner Mensch, der sich unter den Geheimbündlern umhertrieb und bei Vielen für einen Späher galt. Die von dem Züricher Gerichte muster- haft schlecht geführte Untersuchung brachte kein Ergebniß. Sie erwies weder, daß Lessing ein preußischer Spion gewesen, noch daß er politischer Rachsucht zum Opfer gefallen war; manche Anzeichen deuteten vielmehr auf ein ge- meines Verbrechen, der Leichnam war beraubt, in der Nähe eines verrufenen Hauses aufgefunden worden. Trotzdem behaupteten die Schweizer Zei- tungen und zahlreiche Flugschriften mit der höchsten Zuversicht, die teuf- lischen Anschläge der preußischen Regierung lägen nunmehr klar zu Tage. Auch mit Frankreich gerieth die Tagsatzung in Streit, als Prinz Ludwig Napoleon den Aufruhr in Straßburg versucht hatte und dann, zur Aus- wanderung nach Amerika begnadigt, gleichwohl in sein schweizerisches Schlöß- chen Arenenberg zurückgekehrt war (1838). Der Bürgerkönig verlangte sofort seine Entfernung und ließ schon Truppen an der Ostgrenze zusammen- ziehen. Oesterreich, Preußen, Baden unterstützten Frankreichs Forderung**), während die Schweizer Presse wieder einmal mit Tell und Winkelried prahlte und den Tyrannen versicherte: "Königsblut und Bauernblut, es ist Beides gleich roth." Der kluge Prätendent aber wartete gemächlich ab, bis diese diplomatische Zwistigkeit seinen Namen wieder in den Mund der Leute gebracht hatte; dann ging er nach England und erklärte der Tag- satzung in einem großmüthigen Briefe, er wolle nicht durch längeres Ver- weilen die Sicherheit seiner zweiten Heimath gefährden. Also blieb das Verhältniß zwischen Deutschland und der Schweiz, durch die Schuld bei- der Theile, lange sehr unerquicklich; die deutschen Höfe zeigten übermäßige Aengstlichkeit, die Eidgenossen wenig Treue in der Erfüllung ihrer Ver- tragspflichten. -- Unter den 13,000 Flüchtlingen aller Länder, die in Frankreich zu- *) Türckheim an Frankenberg, 19. März, 16. Juli 1835. **) Blittersdorff an Frankenberg, 30. Juli 1838.
IV. 8. Stille Jahre. haften Nachrichten verſorgten*), und eifrig ſuchten die gehetzten Flüchtlingenach Verräthern im eigenen Lager. Welch ein Lärm, als ein jüdiſcher Student Leſſing aus der Mark im Jahre 1835 zu Zürich ermordet wurde, ein gemeiner Menſch, der ſich unter den Geheimbündlern umhertrieb und bei Vielen für einen Späher galt. Die von dem Züricher Gerichte muſter- haft ſchlecht geführte Unterſuchung brachte kein Ergebniß. Sie erwies weder, daß Leſſing ein preußiſcher Spion geweſen, noch daß er politiſcher Rachſucht zum Opfer gefallen war; manche Anzeichen deuteten vielmehr auf ein ge- meines Verbrechen, der Leichnam war beraubt, in der Nähe eines verrufenen Hauſes aufgefunden worden. Trotzdem behaupteten die Schweizer Zei- tungen und zahlreiche Flugſchriften mit der höchſten Zuverſicht, die teuf- liſchen Anſchläge der preußiſchen Regierung lägen nunmehr klar zu Tage. Auch mit Frankreich gerieth die Tagſatzung in Streit, als Prinz Ludwig Napoleon den Aufruhr in Straßburg verſucht hatte und dann, zur Aus- wanderung nach Amerika begnadigt, gleichwohl in ſein ſchweizeriſches Schlöß- chen Arenenberg zurückgekehrt war (1838). Der Bürgerkönig verlangte ſofort ſeine Entfernung und ließ ſchon Truppen an der Oſtgrenze zuſammen- ziehen. Oeſterreich, Preußen, Baden unterſtützten Frankreichs Forderung**), während die Schweizer Preſſe wieder einmal mit Tell und Winkelried prahlte und den Tyrannen verſicherte: „Königsblut und Bauernblut, es iſt Beides gleich roth.“ Der kluge Prätendent aber wartete gemächlich ab, bis dieſe diplomatiſche Zwiſtigkeit ſeinen Namen wieder in den Mund der Leute gebracht hatte; dann ging er nach England und erklärte der Tag- ſatzung in einem großmüthigen Briefe, er wolle nicht durch längeres Ver- weilen die Sicherheit ſeiner zweiten Heimath gefährden. Alſo blieb das Verhältniß zwiſchen Deutſchland und der Schweiz, durch die Schuld bei- der Theile, lange ſehr unerquicklich; die deutſchen Höfe zeigten übermäßige Aengſtlichkeit, die Eidgenoſſen wenig Treue in der Erfüllung ihrer Ver- tragspflichten. — Unter den 13,000 Flüchtlingen aller Länder, die in Frankreich zu- *) Türckheim an Frankenberg, 19. März, 16. Juli 1835. **) Blittersdorff an Frankenberg, 30. Juli 1838.
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IV. 8. Stille Jahre.
haften Nachrichten verſorgten *), und eifrig ſuchten die gehetzten Flüchtlinge
nach Verräthern im eigenen Lager. Welch ein Lärm, als ein jüdiſcher
Student Leſſing aus der Mark im Jahre 1835 zu Zürich ermordet wurde,
ein gemeiner Menſch, der ſich unter den Geheimbündlern umhertrieb und
bei Vielen für einen Späher galt. Die von dem Züricher Gerichte muſter-
haft ſchlecht geführte Unterſuchung brachte kein Ergebniß. Sie erwies weder,
daß Leſſing ein preußiſcher Spion geweſen, noch daß er politiſcher Rachſucht
zum Opfer gefallen war; manche Anzeichen deuteten vielmehr auf ein ge-
meines Verbrechen, der Leichnam war beraubt, in der Nähe eines verrufenen
Hauſes aufgefunden worden. Trotzdem behaupteten die Schweizer Zei-
tungen und zahlreiche Flugſchriften mit der höchſten Zuverſicht, die teuf-
liſchen Anſchläge der preußiſchen Regierung lägen nunmehr klar zu Tage.
Auch mit Frankreich gerieth die Tagſatzung in Streit, als Prinz Ludwig
Napoleon den Aufruhr in Straßburg verſucht hatte und dann, zur Aus-
wanderung nach Amerika begnadigt, gleichwohl in ſein ſchweizeriſches Schlöß-
chen Arenenberg zurückgekehrt war (1838). Der Bürgerkönig verlangte
ſofort ſeine Entfernung und ließ ſchon Truppen an der Oſtgrenze zuſammen-
ziehen. Oeſterreich, Preußen, Baden unterſtützten Frankreichs Forderung **),
während die Schweizer Preſſe wieder einmal mit Tell und Winkelried
prahlte und den Tyrannen verſicherte: „Königsblut und Bauernblut, es
iſt Beides gleich roth.“ Der kluge Prätendent aber wartete gemächlich ab,
bis dieſe diplomatiſche Zwiſtigkeit ſeinen Namen wieder in den Mund der
Leute gebracht hatte; dann ging er nach England und erklärte der Tag-
ſatzung in einem großmüthigen Briefe, er wolle nicht durch längeres Ver-
weilen die Sicherheit ſeiner zweiten Heimath gefährden. Alſo blieb das
Verhältniß zwiſchen Deutſchland und der Schweiz, durch die Schuld bei-
der Theile, lange ſehr unerquicklich; die deutſchen Höfe zeigten übermäßige
Aengſtlichkeit, die Eidgenoſſen wenig Treue in der Erfüllung ihrer Ver-
tragspflichten. —
Unter den 13,000 Flüchtlingen aller Länder, die in Frankreich zu-
ſammengeſchneit waren, ſpielten die Deutſchen nur eine beſcheidene Rolle,
obgleich ſie die Bildung revolutionärer Geheimbünde faſt ſo eifrig wie die
Polen betrieben. Als der Hambacher Preßverein in Paris durch die fran-
zöſiſche Regierung aufgelöſt wurde, entſtand ſogleich der Bund der Ge-
ächteten, der „den Hambacher Geiſt“ unter neuen Formen pflegen ſollte.
Er zerfiel, nach dem Vorbilde der Carbonari, in „Zelte“ von je fünf
Mitgliedern; die Eingeweihten bildeten „den Berg“, an der Spitze des
Ganzen ſtand der Pariſer „Brennpunkt“. Durch die aus Paris heimge-
kehrten Handwerker wurden auch in Berlin, Frankfurt, Mainz, in vielen
anderen Städten Mitteldeutſchlands Zelte errichtet; die preußiſchen Be-
*) Türckheim an Frankenberg, 19. März, 16. Juli 1835.
**) Blittersdorff an Frankenberg, 30. Juli 1838.
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