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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Deutsche Flüchtlinge in der Schweiz.
periode ist Harro Harring." Ihm verdankten die Flüchtlinge das vielge-
sungene Lied:

Dreiunddreißig, Vierunddreißig,
Seid auf Euren Kopf bedacht,
Wenn das Volk einst grimm und beißig
Der Geduld ein Ende macht!

Das Treiben wurde so zuchtlos, daß der besonnene Karl Mathy, den
die Thorheit der badischen Demagogenverfolger auch in die Schweiz ver-
schlagen hatte, sich bald ganz zurückzog. Mathy schrieb als Flüchtling eine
ruhig und sachlich gehaltene Preisschrift über die Aufhebung des Zehnten,
und pries sich glücklich, als er in einer Lehrerstelle bei Solothurn vor-
läufig eine friedliche Unterkunft fand.

Den vertriebenen Polen war mit den frechen Worten nicht genug
gethan; sie brüteten über neuen Aufstandsplänen, und obgleich sie, be-
fangen in der phantastischen Selbsttäuschung der Flüchtlinge, ihre Macht
stark überschätzten, so vermochten ihre tollen Anschläge den Nachbarstaaten
doch ernste Ungelegenheiten zu bereiten. In diesem Jahrhundert der bürger-
lichen Kämpfe war der Bestand eines gastfreien Staates, der allen ge-
schlagenen Parteien ein Asyl bot, eine europäische Nothwendigkeit. Wenn
die Schweiz ihre Neutralität gewissenhaft einhielt und den Flüchtlingen
jedes feindselige Unternehmen gegen die Nachbarn streng untersagte, so
konnte sie in der neuen Staatengesellschaft eine ebenso würdige Rolle
spielen wie einst die Republik der Niederlande im Zeitalter der Religions-
kriege. Allein für diese Ehrenpflicht der Eidgenossen zeigte die radicale
Partei, die in der Tagsatzung herrschte, keinen Sinn; vergeblich mahnten
Neuenburg und die anderen conservativen Cantone an die Wiener Ver-
träge. Im Februar 1834 unternahmen einige hundert Flüchtlinge, ge-
führt von dem polnischen General Ramorino, einen Einbruch in Savoyen;
auch mehrere Deutsche waren mit im Haufen, so der allezeit wagelustige
Rauschenplatt und die Gebrüder Breidenstein. Die Empörung wurde rasch
niedergeworfen, aber ohne die Pflichtvergessenheit der schweizerischen Be-
hörden hätte sie gar nicht beginnen können. Währenddem kamen bedenk-
liche Nachrichten über verdächtige Bewegungen an der deutschen Grenze.
Baiern und Baden fürchteten einen Handstreich und trafen Vorsichts-
maßregeln; ihre Besorgnisse mochten übertrieben sein, grundlos waren sie
nicht.*) Auf einer Versammlung der deutschen Arbeiter im Steinhölzli
bei Bern wurden die Fahnen der süddeutschen Staaten in den Koth ge-
stampft und das schwarzrothgoldene Banner feierlich emporgehoben, wäh-
rend die Menge sang:

Den Kopf, der frech sich aus dem Volk erhebt,
Den trifft des Volkes Beil.
*) Erlaß des bad. Ministers Winter an die Kreisregierungen, 28. April; Dönhoff's
Bericht, München 3. April 1834.

Deutſche Flüchtlinge in der Schweiz.
periode iſt Harro Harring.“ Ihm verdankten die Flüchtlinge das vielge-
ſungene Lied:

Dreiunddreißig, Vierunddreißig,
Seid auf Euren Kopf bedacht,
Wenn das Volk einſt grimm und beißig
Der Geduld ein Ende macht!

Das Treiben wurde ſo zuchtlos, daß der beſonnene Karl Mathy, den
die Thorheit der badiſchen Demagogenverfolger auch in die Schweiz ver-
ſchlagen hatte, ſich bald ganz zurückzog. Mathy ſchrieb als Flüchtling eine
ruhig und ſachlich gehaltene Preisſchrift über die Aufhebung des Zehnten,
und pries ſich glücklich, als er in einer Lehrerſtelle bei Solothurn vor-
läufig eine friedliche Unterkunft fand.

Den vertriebenen Polen war mit den frechen Worten nicht genug
gethan; ſie brüteten über neuen Aufſtandsplänen, und obgleich ſie, be-
fangen in der phantaſtiſchen Selbſttäuſchung der Flüchtlinge, ihre Macht
ſtark überſchätzten, ſo vermochten ihre tollen Anſchläge den Nachbarſtaaten
doch ernſte Ungelegenheiten zu bereiten. In dieſem Jahrhundert der bürger-
lichen Kämpfe war der Beſtand eines gaſtfreien Staates, der allen ge-
ſchlagenen Parteien ein Aſyl bot, eine europäiſche Nothwendigkeit. Wenn
die Schweiz ihre Neutralität gewiſſenhaft einhielt und den Flüchtlingen
jedes feindſelige Unternehmen gegen die Nachbarn ſtreng unterſagte, ſo
konnte ſie in der neuen Staatengeſellſchaft eine ebenſo würdige Rolle
ſpielen wie einſt die Republik der Niederlande im Zeitalter der Religions-
kriege. Allein für dieſe Ehrenpflicht der Eidgenoſſen zeigte die radicale
Partei, die in der Tagſatzung herrſchte, keinen Sinn; vergeblich mahnten
Neuenburg und die anderen conſervativen Cantone an die Wiener Ver-
träge. Im Februar 1834 unternahmen einige hundert Flüchtlinge, ge-
führt von dem polniſchen General Ramorino, einen Einbruch in Savoyen;
auch mehrere Deutſche waren mit im Haufen, ſo der allezeit wageluſtige
Rauſchenplatt und die Gebrüder Breidenſtein. Die Empörung wurde raſch
niedergeworfen, aber ohne die Pflichtvergeſſenheit der ſchweizeriſchen Be-
hörden hätte ſie gar nicht beginnen können. Währenddem kamen bedenk-
liche Nachrichten über verdächtige Bewegungen an der deutſchen Grenze.
Baiern und Baden fürchteten einen Handſtreich und trafen Vorſichts-
maßregeln; ihre Beſorgniſſe mochten übertrieben ſein, grundlos waren ſie
nicht.*) Auf einer Verſammlung der deutſchen Arbeiter im Steinhölzli
bei Bern wurden die Fahnen der ſüddeutſchen Staaten in den Koth ge-
ſtampft und das ſchwarzrothgoldene Banner feierlich emporgehoben, wäh-
rend die Menge ſang:

Den Kopf, der frech ſich aus dem Volk erhebt,
Den trifft des Volkes Beil.
*) Erlaß des bad. Miniſters Winter an die Kreisregierungen, 28. April; Dönhoff’s
Bericht, München 3. April 1834.
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[603/0617] Deutſche Flüchtlinge in der Schweiz. periode iſt Harro Harring.“ Ihm verdankten die Flüchtlinge das vielge- ſungene Lied: Dreiunddreißig, Vierunddreißig, Seid auf Euren Kopf bedacht, Wenn das Volk einſt grimm und beißig Der Geduld ein Ende macht! Das Treiben wurde ſo zuchtlos, daß der beſonnene Karl Mathy, den die Thorheit der badiſchen Demagogenverfolger auch in die Schweiz ver- ſchlagen hatte, ſich bald ganz zurückzog. Mathy ſchrieb als Flüchtling eine ruhig und ſachlich gehaltene Preisſchrift über die Aufhebung des Zehnten, und pries ſich glücklich, als er in einer Lehrerſtelle bei Solothurn vor- läufig eine friedliche Unterkunft fand. Den vertriebenen Polen war mit den frechen Worten nicht genug gethan; ſie brüteten über neuen Aufſtandsplänen, und obgleich ſie, be- fangen in der phantaſtiſchen Selbſttäuſchung der Flüchtlinge, ihre Macht ſtark überſchätzten, ſo vermochten ihre tollen Anſchläge den Nachbarſtaaten doch ernſte Ungelegenheiten zu bereiten. In dieſem Jahrhundert der bürger- lichen Kämpfe war der Beſtand eines gaſtfreien Staates, der allen ge- ſchlagenen Parteien ein Aſyl bot, eine europäiſche Nothwendigkeit. Wenn die Schweiz ihre Neutralität gewiſſenhaft einhielt und den Flüchtlingen jedes feindſelige Unternehmen gegen die Nachbarn ſtreng unterſagte, ſo konnte ſie in der neuen Staatengeſellſchaft eine ebenſo würdige Rolle ſpielen wie einſt die Republik der Niederlande im Zeitalter der Religions- kriege. Allein für dieſe Ehrenpflicht der Eidgenoſſen zeigte die radicale Partei, die in der Tagſatzung herrſchte, keinen Sinn; vergeblich mahnten Neuenburg und die anderen conſervativen Cantone an die Wiener Ver- träge. Im Februar 1834 unternahmen einige hundert Flüchtlinge, ge- führt von dem polniſchen General Ramorino, einen Einbruch in Savoyen; auch mehrere Deutſche waren mit im Haufen, ſo der allezeit wageluſtige Rauſchenplatt und die Gebrüder Breidenſtein. Die Empörung wurde raſch niedergeworfen, aber ohne die Pflichtvergeſſenheit der ſchweizeriſchen Be- hörden hätte ſie gar nicht beginnen können. Währenddem kamen bedenk- liche Nachrichten über verdächtige Bewegungen an der deutſchen Grenze. Baiern und Baden fürchteten einen Handſtreich und trafen Vorſichts- maßregeln; ihre Beſorgniſſe mochten übertrieben ſein, grundlos waren ſie nicht. *) Auf einer Verſammlung der deutſchen Arbeiter im Steinhölzli bei Bern wurden die Fahnen der ſüddeutſchen Staaten in den Koth ge- ſtampft und das ſchwarzrothgoldene Banner feierlich emporgehoben, wäh- rend die Menge ſang: Den Kopf, der frech ſich aus dem Volk erhebt, Den trifft des Volkes Beil. *) Erlaß des bad. Miniſters Winter an die Kreisregierungen, 28. April; Dönhoff’s Bericht, München 3. April 1834.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 603. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/617>, abgerufen am 24.11.2024.