nun, rasch erstarkend, den Lehrer zur Seite. Große Fabriken entstanden, die den Bahnen ihre Wagen und Maschinen bauten. In Berlin gründete der junge Schlesier Borsig, nachdem er eine Zeit lang die Eisengießerei der Firma Egells geleitet, eine Maschinenfabrik für den Bau von Loko- motiven; mit 50 Arbeitern begann er, nach wenigen Jahren beschäftigte er ihrer schon tausend; er wußte, daß dem Muthigen die Welt gehört. In Nürnberg erweiterte sich die kleine Wagenbau-Anstalt der Fürther Eisenbahn zu der großen Fabrik von Klett und Cramer. Ein neuer Stand von Ingenieuren und Eisenbahntechnikern kam empor, sehr reich an Talenten, unternehmend, stolz im Bewußtsein einer großen Cultur- aufgabe. Es war eine schöne friedliche Arbeit nationaler Befreiung; erst im nächsten Jahrzehnt sollte sie ihre ganze Stärke offenbaren. --
Unter jeder großen Umgestaltung des socialen Lebens müssen einzelne Klassen und Gewerbe unfehlbar leiden. Eben in diesen hoffnungsvollen ersten Jahren des Zollvereins und der Eisenbahnen bekundeten sich schon die Anzeichen des beginnenden Massenelends. An dem allgemeinen Auf- schwunge der Volkswirthschaft nahm auch das Kleingewerbe theil. Doch nur die Zahl der Gehilfen wuchs beträchtlich, die der Meister wenig; ein selbständiges Geschäft zu behaupten ward bei dem verschärften Wettbewerbe immer schwieriger. Die Kleingewerbe der Seifensieder, der Gerber, der Töpfer, der Handschuhmacher gingen schon zurück, weil sie den Kampf mit den großen Fabriken nicht aushalten konnten. Die Berliner Stadtver- ordneten klagten, daß die Kosten ihrer Armenverwaltung in den Jahren 1821--38 von 104,000 auf fast 374,000 Thlr., weit schneller als die Bevölkerung, gestiegen seien. Während die höheren Stände den ärmlichen Gewohnheiten der Kriegsjahre nach und nach entwuchsen, lebte der kleine Mann kaum besser denn zuvor; in vielen großen Städten nahm die Fleischverzehrung durchschnittlich ab. Das Wachsthum der Städte ver- half manchem Hausbesitzer plötzlich zum Reichthum, doch die Miethen, vor- nehmlich der kleinen Wohnungen, wurden unerschwinglich. Großen Talen- ten wie Borsig eröffnete die junge Großindustrie eine glänzende Laufbahn; der Durchschnitt der Arbeiter aber befand sich in hilfloser Lage. Der neue Stand der Fabrikanten, der sich soeben erst selbst seine Stellung in der aristokratischen alten Gesellschaft erobert hatte, gebrauchte seine Macht noch mit der ganzen Rücksichtslosigkeit des Emporkömmlings. Es waren die Tage, da die englischen Fabrikanten sich in ihren Versammlungen gegen ihre Arbeiter geradezu verschworen, einen höchsten Satz für den Arbeits- lohn, einen niedersten für den Preis der Waaren unter einander verab- redeten. Die durch Ricardo und Say im Geiste der reinen Capitalsherr- schaft weitergebildete Lehre Adam Smith's herrschte noch überall; das Elend
IV. 8. Stille Jahre.
nun, raſch erſtarkend, den Lehrer zur Seite. Große Fabriken entſtanden, die den Bahnen ihre Wagen und Maſchinen bauten. In Berlin gründete der junge Schleſier Borſig, nachdem er eine Zeit lang die Eiſengießerei der Firma Egells geleitet, eine Maſchinenfabrik für den Bau von Loko- motiven; mit 50 Arbeitern begann er, nach wenigen Jahren beſchäftigte er ihrer ſchon tauſend; er wußte, daß dem Muthigen die Welt gehört. In Nürnberg erweiterte ſich die kleine Wagenbau-Anſtalt der Fürther Eiſenbahn zu der großen Fabrik von Klett und Cramer. Ein neuer Stand von Ingenieuren und Eiſenbahntechnikern kam empor, ſehr reich an Talenten, unternehmend, ſtolz im Bewußtſein einer großen Cultur- aufgabe. Es war eine ſchöne friedliche Arbeit nationaler Befreiung; erſt im nächſten Jahrzehnt ſollte ſie ihre ganze Stärke offenbaren. —
Unter jeder großen Umgeſtaltung des ſocialen Lebens müſſen einzelne Klaſſen und Gewerbe unfehlbar leiden. Eben in dieſen hoffnungsvollen erſten Jahren des Zollvereins und der Eiſenbahnen bekundeten ſich ſchon die Anzeichen des beginnenden Maſſenelends. An dem allgemeinen Auf- ſchwunge der Volkswirthſchaft nahm auch das Kleingewerbe theil. Doch nur die Zahl der Gehilfen wuchs beträchtlich, die der Meiſter wenig; ein ſelbſtändiges Geſchäft zu behaupten ward bei dem verſchärften Wettbewerbe immer ſchwieriger. Die Kleingewerbe der Seifenſieder, der Gerber, der Töpfer, der Handſchuhmacher gingen ſchon zurück, weil ſie den Kampf mit den großen Fabriken nicht aushalten konnten. Die Berliner Stadtver- ordneten klagten, daß die Koſten ihrer Armenverwaltung in den Jahren 1821—38 von 104,000 auf faſt 374,000 Thlr., weit ſchneller als die Bevölkerung, geſtiegen ſeien. Während die höheren Stände den ärmlichen Gewohnheiten der Kriegsjahre nach und nach entwuchſen, lebte der kleine Mann kaum beſſer denn zuvor; in vielen großen Städten nahm die Fleiſchverzehrung durchſchnittlich ab. Das Wachsthum der Städte ver- half manchem Hausbeſitzer plötzlich zum Reichthum, doch die Miethen, vor- nehmlich der kleinen Wohnungen, wurden unerſchwinglich. Großen Talen- ten wie Borſig eröffnete die junge Großinduſtrie eine glänzende Laufbahn; der Durchſchnitt der Arbeiter aber befand ſich in hilfloſer Lage. Der neue Stand der Fabrikanten, der ſich ſoeben erſt ſelbſt ſeine Stellung in der ariſtokratiſchen alten Geſellſchaft erobert hatte, gebrauchte ſeine Macht noch mit der ganzen Rückſichtsloſigkeit des Emporkömmlings. Es waren die Tage, da die engliſchen Fabrikanten ſich in ihren Verſammlungen gegen ihre Arbeiter geradezu verſchworen, einen höchſten Satz für den Arbeits- lohn, einen niederſten für den Preis der Waaren unter einander verab- redeten. Die durch Ricardo und Say im Geiſte der reinen Capitalsherr- ſchaft weitergebildete Lehre Adam Smith’s herrſchte noch überall; das Elend
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IV. 8. Stille Jahre.
nun, raſch erſtarkend, den Lehrer zur Seite. Große Fabriken entſtanden,
die den Bahnen ihre Wagen und Maſchinen bauten. In Berlin gründete
der junge Schleſier Borſig, nachdem er eine Zeit lang die Eiſengießerei
der Firma Egells geleitet, eine Maſchinenfabrik für den Bau von Loko-
motiven; mit 50 Arbeitern begann er, nach wenigen Jahren beſchäftigte
er ihrer ſchon tauſend; er wußte, daß dem Muthigen die Welt gehört.
In Nürnberg erweiterte ſich die kleine Wagenbau-Anſtalt der Fürther
Eiſenbahn zu der großen Fabrik von Klett und Cramer. Ein neuer
Stand von Ingenieuren und Eiſenbahntechnikern kam empor, ſehr reich
an Talenten, unternehmend, ſtolz im Bewußtſein einer großen Cultur-
aufgabe. Es war eine ſchöne friedliche Arbeit nationaler Befreiung; erſt
im nächſten Jahrzehnt ſollte ſie ihre ganze Stärke offenbaren. —
Unter jeder großen Umgeſtaltung des ſocialen Lebens müſſen einzelne
Klaſſen und Gewerbe unfehlbar leiden. Eben in dieſen hoffnungsvollen
erſten Jahren des Zollvereins und der Eiſenbahnen bekundeten ſich ſchon
die Anzeichen des beginnenden Maſſenelends. An dem allgemeinen Auf-
ſchwunge der Volkswirthſchaft nahm auch das Kleingewerbe theil. Doch
nur die Zahl der Gehilfen wuchs beträchtlich, die der Meiſter wenig; ein
ſelbſtändiges Geſchäft zu behaupten ward bei dem verſchärften Wettbewerbe
immer ſchwieriger. Die Kleingewerbe der Seifenſieder, der Gerber, der
Töpfer, der Handſchuhmacher gingen ſchon zurück, weil ſie den Kampf mit
den großen Fabriken nicht aushalten konnten. Die Berliner Stadtver-
ordneten klagten, daß die Koſten ihrer Armenverwaltung in den Jahren
1821—38 von 104,000 auf faſt 374,000 Thlr., weit ſchneller als die
Bevölkerung, geſtiegen ſeien. Während die höheren Stände den ärmlichen
Gewohnheiten der Kriegsjahre nach und nach entwuchſen, lebte der kleine
Mann kaum beſſer denn zuvor; in vielen großen Städten nahm die
Fleiſchverzehrung durchſchnittlich ab. Das Wachsthum der Städte ver-
half manchem Hausbeſitzer plötzlich zum Reichthum, doch die Miethen, vor-
nehmlich der kleinen Wohnungen, wurden unerſchwinglich. Großen Talen-
ten wie Borſig eröffnete die junge Großinduſtrie eine glänzende Laufbahn;
der Durchſchnitt der Arbeiter aber befand ſich in hilfloſer Lage. Der neue
Stand der Fabrikanten, der ſich ſoeben erſt ſelbſt ſeine Stellung in der
ariſtokratiſchen alten Geſellſchaft erobert hatte, gebrauchte ſeine Macht noch
mit der ganzen Rückſichtsloſigkeit des Emporkömmlings. Es waren die
Tage, da die engliſchen Fabrikanten ſich in ihren Verſammlungen gegen
ihre Arbeiter geradezu verſchworen, einen höchſten Satz für den Arbeits-
lohn, einen niederſten für den Preis der Waaren unter einander verab-
redeten. Die durch Ricardo und Say im Geiſte der reinen Capitalsherr-
ſchaft weitergebildete Lehre Adam Smith’s herrſchte noch überall; das Elend
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 598. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/612>, abgerufen am 24.11.2024.
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