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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 8. Stille Jahre.
gierung in einer Person", und der Frankfurter Senat erließ ein, wie du
Thil sagte, "haarsträubendes" Expropriationsgesetz, das den Grundbesitzern
eine viermal höhere Entschädigung gewährte als das hessische. Als die
Taunusbahn endlich eröffnet war, wurde sie gut verwaltet; sie verlangte
aber unbillige Preise, die höchsten in Deutschland. Umsonst versuchte du
Thil den Unfug abzustellen. Er scheiterte an dem Widerspruche Frank-
furts; "denn in dieser Republik, so sagte er schwermüthig, ist es einge-
führt, daß stets eine Hand die andere wäscht, und überdies waren zu viele
Senatoren betheiligt."*) Diese Frankfurter Erfahrungen blieben in Baden
unvergessen. Dort berief die Regierung eine Notabeln-Versammlung um
über den Plan einer Eisenbahn von Mannheim nach Basel zu berathen.
Der Gedanke fand Anklang, und Nebenius erwies den Notabeln in einer
trefflichen Denkschrift, die auch den anfangs widerstrebenden Finanzminister
Böckh überzeugte, daß der Staat, um den Aktienschwindel und den Ein-
fluß der Börse fernzuhalten, die Bahn selber bauen müsse.**) Es war
das erste Programm des deutschen Staats-Eisenbahnwesens.

Die Größe der beginnenden socialen Umwälzung ließ sich am sicher-
sten daran erkennen, daß schlechterdings Niemand ihre Folgen genau vor-
hergesehen hatte. Nicht blos der Gesammtverkehr wuchs über alle Vor-
hersagungen hinaus; hatten doch selbst muthige Männer höchstens gehofft,
die Eisenbahnen würden den Chausseen etwa ebenso weit überlegen sein
wie diese vormals den alten Landwegen. Auch im Einzelnen kam fast
Alles anders als die klügsten Leute erwarteten. Der Betrieb der Eisen-
bahnen war unzweifelhaft ein Monopol, und jener Paragraph des preu-
ßischen Eisenbahngesetzes, welcher auch anderen, nicht zur Gesellschaft Ge-
hörigen den Transport gestatten wollte, erwies sich sogleich als ein todter
Buchstabe. Die Güter brachten mehr ein als die Personen, der Local-
Verkehr mehr als der große, die dritte Wagenklasse mehr als die beiden
ersten zusammen; und wie verwundert hatte man noch vor Kurzem dem
wackeren Friedrich Harkort zugehört, als er voraussagte, der kleine Mann
würde die Eisenbahnkassen füllen wie den Steuersäckel, schon um Arbeits-
lohn zu gewinnen das Fußwandern aufgeben. Die Gewerbsstraßen trennten
sich nicht ab von den Kriegsstraßen, wie Aster fürchtete, sondern sie zwangen
den Krieg ihren Bahnen zu folgen. Auch der Pferdebestand nahm nicht
ab, wie Jedermann glaubte; sondern die Deutschen erfuhren, daß in einem
fleißigen Volke jedes befriedigte Bedürfniß neue Bedürfnisse in unendlicher
Folge weckt: die Nebenstraßen beschäftigten fortan mehr Pferde als früher
die Hauptstraßen.

Nun da die Macht des Raumes überwunden ward, begann die Welt
auch erst den Werth der Zeit zu schätzen, ja zu überschätzen. Ein hastiges,

*) Nach du Thil's Aufzeichnungen.
**) Otterstedt's Bericht, 23. Dec. 1837.

IV. 8. Stille Jahre.
gierung in einer Perſon“, und der Frankfurter Senat erließ ein, wie du
Thil ſagte, „haarſträubendes“ Expropriationsgeſetz, das den Grundbeſitzern
eine viermal höhere Entſchädigung gewährte als das heſſiſche. Als die
Taunusbahn endlich eröffnet war, wurde ſie gut verwaltet; ſie verlangte
aber unbillige Preiſe, die höchſten in Deutſchland. Umſonſt verſuchte du
Thil den Unfug abzuſtellen. Er ſcheiterte an dem Widerſpruche Frank-
furts; „denn in dieſer Republik, ſo ſagte er ſchwermüthig, iſt es einge-
führt, daß ſtets eine Hand die andere wäſcht, und überdies waren zu viele
Senatoren betheiligt.“*) Dieſe Frankfurter Erfahrungen blieben in Baden
unvergeſſen. Dort berief die Regierung eine Notabeln-Verſammlung um
über den Plan einer Eiſenbahn von Mannheim nach Baſel zu berathen.
Der Gedanke fand Anklang, und Nebenius erwies den Notabeln in einer
trefflichen Denkſchrift, die auch den anfangs widerſtrebenden Finanzminiſter
Böckh überzeugte, daß der Staat, um den Aktienſchwindel und den Ein-
fluß der Börſe fernzuhalten, die Bahn ſelber bauen müſſe.**) Es war
das erſte Programm des deutſchen Staats-Eiſenbahnweſens.

Die Größe der beginnenden ſocialen Umwälzung ließ ſich am ſicher-
ſten daran erkennen, daß ſchlechterdings Niemand ihre Folgen genau vor-
hergeſehen hatte. Nicht blos der Geſammtverkehr wuchs über alle Vor-
herſagungen hinaus; hatten doch ſelbſt muthige Männer höchſtens gehofft,
die Eiſenbahnen würden den Chauſſeen etwa ebenſo weit überlegen ſein
wie dieſe vormals den alten Landwegen. Auch im Einzelnen kam faſt
Alles anders als die klügſten Leute erwarteten. Der Betrieb der Eiſen-
bahnen war unzweifelhaft ein Monopol, und jener Paragraph des preu-
ßiſchen Eiſenbahngeſetzes, welcher auch anderen, nicht zur Geſellſchaft Ge-
hörigen den Transport geſtatten wollte, erwies ſich ſogleich als ein todter
Buchſtabe. Die Güter brachten mehr ein als die Perſonen, der Local-
Verkehr mehr als der große, die dritte Wagenklaſſe mehr als die beiden
erſten zuſammen; und wie verwundert hatte man noch vor Kurzem dem
wackeren Friedrich Harkort zugehört, als er vorausſagte, der kleine Mann
würde die Eiſenbahnkaſſen füllen wie den Steuerſäckel, ſchon um Arbeits-
lohn zu gewinnen das Fußwandern aufgeben. Die Gewerbsſtraßen trennten
ſich nicht ab von den Kriegsſtraßen, wie Aſter fürchtete, ſondern ſie zwangen
den Krieg ihren Bahnen zu folgen. Auch der Pferdebeſtand nahm nicht
ab, wie Jedermann glaubte; ſondern die Deutſchen erfuhren, daß in einem
fleißigen Volke jedes befriedigte Bedürfniß neue Bedürfniſſe in unendlicher
Folge weckt: die Nebenſtraßen beſchäftigten fortan mehr Pferde als früher
die Hauptſtraßen.

Nun da die Macht des Raumes überwunden ward, begann die Welt
auch erſt den Werth der Zeit zu ſchätzen, ja zu überſchätzen. Ein haſtiges,

*) Nach du Thil’s Aufzeichnungen.
**) Otterſtedt’s Bericht, 23. Dec. 1837.
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[596/0610] IV. 8. Stille Jahre. gierung in einer Perſon“, und der Frankfurter Senat erließ ein, wie du Thil ſagte, „haarſträubendes“ Expropriationsgeſetz, das den Grundbeſitzern eine viermal höhere Entſchädigung gewährte als das heſſiſche. Als die Taunusbahn endlich eröffnet war, wurde ſie gut verwaltet; ſie verlangte aber unbillige Preiſe, die höchſten in Deutſchland. Umſonſt verſuchte du Thil den Unfug abzuſtellen. Er ſcheiterte an dem Widerſpruche Frank- furts; „denn in dieſer Republik, ſo ſagte er ſchwermüthig, iſt es einge- führt, daß ſtets eine Hand die andere wäſcht, und überdies waren zu viele Senatoren betheiligt.“ *) Dieſe Frankfurter Erfahrungen blieben in Baden unvergeſſen. Dort berief die Regierung eine Notabeln-Verſammlung um über den Plan einer Eiſenbahn von Mannheim nach Baſel zu berathen. Der Gedanke fand Anklang, und Nebenius erwies den Notabeln in einer trefflichen Denkſchrift, die auch den anfangs widerſtrebenden Finanzminiſter Böckh überzeugte, daß der Staat, um den Aktienſchwindel und den Ein- fluß der Börſe fernzuhalten, die Bahn ſelber bauen müſſe. **) Es war das erſte Programm des deutſchen Staats-Eiſenbahnweſens. Die Größe der beginnenden ſocialen Umwälzung ließ ſich am ſicher- ſten daran erkennen, daß ſchlechterdings Niemand ihre Folgen genau vor- hergeſehen hatte. Nicht blos der Geſammtverkehr wuchs über alle Vor- herſagungen hinaus; hatten doch ſelbſt muthige Männer höchſtens gehofft, die Eiſenbahnen würden den Chauſſeen etwa ebenſo weit überlegen ſein wie dieſe vormals den alten Landwegen. Auch im Einzelnen kam faſt Alles anders als die klügſten Leute erwarteten. Der Betrieb der Eiſen- bahnen war unzweifelhaft ein Monopol, und jener Paragraph des preu- ßiſchen Eiſenbahngeſetzes, welcher auch anderen, nicht zur Geſellſchaft Ge- hörigen den Transport geſtatten wollte, erwies ſich ſogleich als ein todter Buchſtabe. Die Güter brachten mehr ein als die Perſonen, der Local- Verkehr mehr als der große, die dritte Wagenklaſſe mehr als die beiden erſten zuſammen; und wie verwundert hatte man noch vor Kurzem dem wackeren Friedrich Harkort zugehört, als er vorausſagte, der kleine Mann würde die Eiſenbahnkaſſen füllen wie den Steuerſäckel, ſchon um Arbeits- lohn zu gewinnen das Fußwandern aufgeben. Die Gewerbsſtraßen trennten ſich nicht ab von den Kriegsſtraßen, wie Aſter fürchtete, ſondern ſie zwangen den Krieg ihren Bahnen zu folgen. Auch der Pferdebeſtand nahm nicht ab, wie Jedermann glaubte; ſondern die Deutſchen erfuhren, daß in einem fleißigen Volke jedes befriedigte Bedürfniß neue Bedürfniſſe in unendlicher Folge weckt: die Nebenſtraßen beſchäftigten fortan mehr Pferde als früher die Hauptſtraßen. Nun da die Macht des Raumes überwunden ward, begann die Welt auch erſt den Werth der Zeit zu ſchätzen, ja zu überſchätzen. Ein haſtiges, *) Nach du Thil’s Aufzeichnungen. **) Otterſtedt’s Bericht, 23. Dec. 1837.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 596. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/610>, abgerufen am 24.11.2024.