Anmelden (DTAQ) DWDS     dlexDB     CLARIN-D

Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

Bild:
<< vorherige Seite

Der Telegraph.
zu beiden Seiten der Bahn, kein lautes Wort ließ sich hören, so schreck-
haft wirkte der unerhörte Anblick. Dann mußte "der Einschnitt" bei
Machern ausgeschaufelt werden, durch eine Bodenwelle, welche der Rei-
sende heute kaum bemerkt; von weither kamen die Fremden, auch der
länderkundige Frhr. v. Strombeck um das Wunderwerk zu betrachten und
gründlich zu beschreiben. Der schwierigste Kunstbau der Bahn, der Tunnel
bei Oberau, wurde durch Freiberger Bergleute ganz nach Bergmanns-
brauch wie ein Stollen von vier niedergesenkten Schachten aus in An-
griff genommen; als Alles beendet war, bildeten die Knappen in ihrem
Paradeanzug, mit Fackeln in der Hand, im Tunnel Spalier, um den
ersten durchbrausenden Zug mit dem alten Glückauf-Ruf des Erzgebirges
zu begrüßen.

"Die Herrschaft des Geistes über die materielle Welt schreitet mit
einer stets beschleunigten Kraft vorwärts", so schrieb damals Babbage, der
Theoretiker des englischen Maschinenwesens. Ein technischer Fortschritt
folgte dem andern. Im Jahre 1839 brachte Hossauer das erste Daguer-
reotyp aus Paris in den Berliner Gewerbeverein; es war der bescheidene
Anfang einer neuen culturfördernden Industrie. Die eigenthümliche Wage-
lust des Jahrhunderts trat immer zuversichtlicher auf, hoffnungsvoll sah
das heranwachsende Geschlecht einer unermeßlichen Zukunft entgegen. Der-
weil die Deutschen sich noch an ihrer ersten großen Eisenbahn abmühten,
versuchte schon eine andere folgenschwere Erfindung, die deutsche Erfindung
der elektro-magnetischen Telegraphie sich Raum zu schaffen. Das alte
optische Telegraphenwesen hatte in Preußen während der jüngsten Jahre
eine hohe Ausbildung erlangt. Auf eine Anfrage aus Berlin traf die
Antwort aus Coblenz schon binnen vier Stunden ein, freilich nur bei
hellem Wetter. Wenn das hohe Balkengerüste auf dem Thurmhause
in der Dorotheenstraße einmal den ganzen Tag hindurch ununterbrochen
seine räthselhaften Bewegungen ausführte, dann meinten die Berliner be-
denklich, die Zeiten würden schlimm. Aus Petersburg konnten die Nach-
richten durch den Telegraphen und durch Kuriere in fünfzig Stunden be-
fördert werden, und man hoffte noch auf größere Beschleunigung, da der
Czar soeben bei Fraunhofer in München 450 Fernröhre für die russischen
Telegraphen bestellt hatte. Aber der optische Telegraph diente ausschließlich
den Behörden. Ein rascher Nachrichtendienst für den allgemeinen Gebrauch
ward erst möglich, als der junge Wilhelm Weber nach Göttingen kam
und Gauß entzückt ausrief: der Stahl schlägt auf den Stein. Der Phy-
siker und der Mathematiker verfolgten selbander die geniale Entdeckung
Sömmering's weiter*); sie verbanden den elektro-magnetischen Apparat ihrer
Sternwarte durch einen 3000 Fuß langen Draht, über den Thurm der
Johanniskirche hinweg, mit dem Physikalischen Cabinet (1833). Ein echt

*) S. o. II. 83.

Der Telegraph.
zu beiden Seiten der Bahn, kein lautes Wort ließ ſich hören, ſo ſchreck-
haft wirkte der unerhörte Anblick. Dann mußte „der Einſchnitt“ bei
Machern ausgeſchaufelt werden, durch eine Bodenwelle, welche der Rei-
ſende heute kaum bemerkt; von weither kamen die Fremden, auch der
länderkundige Frhr. v. Strombeck um das Wunderwerk zu betrachten und
gründlich zu beſchreiben. Der ſchwierigſte Kunſtbau der Bahn, der Tunnel
bei Oberau, wurde durch Freiberger Bergleute ganz nach Bergmanns-
brauch wie ein Stollen von vier niedergeſenkten Schachten aus in An-
griff genommen; als Alles beendet war, bildeten die Knappen in ihrem
Paradeanzug, mit Fackeln in der Hand, im Tunnel Spalier, um den
erſten durchbrauſenden Zug mit dem alten Glückauf-Ruf des Erzgebirges
zu begrüßen.

„Die Herrſchaft des Geiſtes über die materielle Welt ſchreitet mit
einer ſtets beſchleunigten Kraft vorwärts“, ſo ſchrieb damals Babbage, der
Theoretiker des engliſchen Maſchinenweſens. Ein techniſcher Fortſchritt
folgte dem andern. Im Jahre 1839 brachte Hoſſauer das erſte Daguer-
reotyp aus Paris in den Berliner Gewerbeverein; es war der beſcheidene
Anfang einer neuen culturfördernden Induſtrie. Die eigenthümliche Wage-
luſt des Jahrhunderts trat immer zuverſichtlicher auf, hoffnungsvoll ſah
das heranwachſende Geſchlecht einer unermeßlichen Zukunft entgegen. Der-
weil die Deutſchen ſich noch an ihrer erſten großen Eiſenbahn abmühten,
verſuchte ſchon eine andere folgenſchwere Erfindung, die deutſche Erfindung
der elektro-magnetiſchen Telegraphie ſich Raum zu ſchaffen. Das alte
optiſche Telegraphenweſen hatte in Preußen während der jüngſten Jahre
eine hohe Ausbildung erlangt. Auf eine Anfrage aus Berlin traf die
Antwort aus Coblenz ſchon binnen vier Stunden ein, freilich nur bei
hellem Wetter. Wenn das hohe Balkengerüſte auf dem Thurmhauſe
in der Dorotheenſtraße einmal den ganzen Tag hindurch ununterbrochen
ſeine räthſelhaften Bewegungen ausführte, dann meinten die Berliner be-
denklich, die Zeiten würden ſchlimm. Aus Petersburg konnten die Nach-
richten durch den Telegraphen und durch Kuriere in fünfzig Stunden be-
fördert werden, und man hoffte noch auf größere Beſchleunigung, da der
Czar ſoeben bei Fraunhofer in München 450 Fernröhre für die ruſſiſchen
Telegraphen beſtellt hatte. Aber der optiſche Telegraph diente ausſchließlich
den Behörden. Ein raſcher Nachrichtendienſt für den allgemeinen Gebrauch
ward erſt möglich, als der junge Wilhelm Weber nach Göttingen kam
und Gauß entzückt ausrief: der Stahl ſchlägt auf den Stein. Der Phy-
ſiker und der Mathematiker verfolgten ſelbander die geniale Entdeckung
Sömmering’s weiter*); ſie verbanden den elektro-magnetiſchen Apparat ihrer
Sternwarte durch einen 3000 Fuß langen Draht, über den Thurm der
Johanniskirche hinweg, mit dem Phyſikaliſchen Cabinet (1833). Ein echt

*) S. o. II. 83.
<TEI>
  <text>
    <body>
      <div n="1">
        <div n="2">
          <p><pb facs="#f0601" n="587"/><fw place="top" type="header">Der Telegraph.</fw><lb/>
zu beiden Seiten der Bahn, kein lautes Wort ließ &#x017F;ich hören, &#x017F;o &#x017F;chreck-<lb/>
haft wirkte der unerhörte Anblick. Dann mußte &#x201E;der Ein&#x017F;chnitt&#x201C; bei<lb/>
Machern ausge&#x017F;chaufelt werden, durch eine Bodenwelle, welche der Rei-<lb/>
&#x017F;ende heute kaum bemerkt; von weither kamen die Fremden, auch der<lb/>
länderkundige Frhr. v. Strombeck um das Wunderwerk zu betrachten und<lb/>
gründlich zu be&#x017F;chreiben. Der &#x017F;chwierig&#x017F;te Kun&#x017F;tbau der Bahn, der Tunnel<lb/>
bei Oberau, wurde durch Freiberger Bergleute ganz nach Bergmanns-<lb/>
brauch wie ein Stollen von vier niederge&#x017F;enkten Schachten aus in An-<lb/>
griff genommen; als Alles beendet war, bildeten die Knappen in ihrem<lb/>
Paradeanzug, mit Fackeln in der Hand, im Tunnel Spalier, um den<lb/>
er&#x017F;ten durchbrau&#x017F;enden Zug mit dem alten Glückauf-Ruf des Erzgebirges<lb/>
zu begrüßen.</p><lb/>
          <p>&#x201E;Die Herr&#x017F;chaft des Gei&#x017F;tes über die materielle Welt &#x017F;chreitet mit<lb/>
einer &#x017F;tets be&#x017F;chleunigten Kraft vorwärts&#x201C;, &#x017F;o &#x017F;chrieb damals Babbage, der<lb/>
Theoretiker des engli&#x017F;chen Ma&#x017F;chinenwe&#x017F;ens. Ein techni&#x017F;cher Fort&#x017F;chritt<lb/>
folgte dem andern. Im Jahre 1839 brachte Ho&#x017F;&#x017F;auer das er&#x017F;te Daguer-<lb/>
reotyp aus Paris in den Berliner Gewerbeverein; es war der be&#x017F;cheidene<lb/>
Anfang einer neuen culturfördernden Indu&#x017F;trie. Die eigenthümliche Wage-<lb/>
lu&#x017F;t des Jahrhunderts trat immer zuver&#x017F;ichtlicher auf, hoffnungsvoll &#x017F;ah<lb/>
das heranwach&#x017F;ende Ge&#x017F;chlecht einer unermeßlichen Zukunft entgegen. Der-<lb/>
weil die Deut&#x017F;chen &#x017F;ich noch an ihrer er&#x017F;ten großen Ei&#x017F;enbahn abmühten,<lb/>
ver&#x017F;uchte &#x017F;chon eine andere folgen&#x017F;chwere Erfindung, die deut&#x017F;che Erfindung<lb/>
der elektro-magneti&#x017F;chen Telegraphie &#x017F;ich Raum zu &#x017F;chaffen. Das alte<lb/>
opti&#x017F;che Telegraphenwe&#x017F;en hatte in Preußen während der jüng&#x017F;ten Jahre<lb/>
eine hohe Ausbildung erlangt. Auf eine Anfrage aus Berlin traf die<lb/>
Antwort aus Coblenz &#x017F;chon binnen vier Stunden ein, freilich nur bei<lb/>
hellem Wetter. Wenn das hohe Balkengerü&#x017F;te auf dem Thurmhau&#x017F;e<lb/>
in der Dorotheen&#x017F;traße einmal den ganzen Tag hindurch ununterbrochen<lb/>
&#x017F;eine räth&#x017F;elhaften Bewegungen ausführte, dann meinten die Berliner be-<lb/>
denklich, die Zeiten würden &#x017F;chlimm. Aus Petersburg konnten die Nach-<lb/>
richten durch den Telegraphen und durch Kuriere in fünfzig Stunden be-<lb/>
fördert werden, und man hoffte noch auf größere Be&#x017F;chleunigung, da der<lb/>
Czar &#x017F;oeben bei Fraunhofer in München 450 Fernröhre für die ru&#x017F;&#x017F;i&#x017F;chen<lb/>
Telegraphen be&#x017F;tellt hatte. Aber der opti&#x017F;che Telegraph diente aus&#x017F;chließlich<lb/>
den Behörden. Ein ra&#x017F;cher Nachrichtendien&#x017F;t für den allgemeinen Gebrauch<lb/>
ward er&#x017F;t möglich, als der junge Wilhelm Weber nach Göttingen kam<lb/>
und Gauß entzückt ausrief: der Stahl &#x017F;chlägt auf den Stein. Der Phy-<lb/>
&#x017F;iker und der Mathematiker verfolgten &#x017F;elbander die geniale Entdeckung<lb/>
Sömmering&#x2019;s weiter<note place="foot" n="*)">S. o. <hi rendition="#aq">II.</hi> 83.</note>; &#x017F;ie verbanden den elektro-magneti&#x017F;chen Apparat ihrer<lb/>
Sternwarte durch einen 3000 Fuß langen Draht, über den Thurm der<lb/>
Johanniskirche hinweg, mit dem Phy&#x017F;ikali&#x017F;chen Cabinet (1833). Ein echt<lb/></p>
        </div>
      </div>
    </body>
  </text>
</TEI>
[587/0601] Der Telegraph. zu beiden Seiten der Bahn, kein lautes Wort ließ ſich hören, ſo ſchreck- haft wirkte der unerhörte Anblick. Dann mußte „der Einſchnitt“ bei Machern ausgeſchaufelt werden, durch eine Bodenwelle, welche der Rei- ſende heute kaum bemerkt; von weither kamen die Fremden, auch der länderkundige Frhr. v. Strombeck um das Wunderwerk zu betrachten und gründlich zu beſchreiben. Der ſchwierigſte Kunſtbau der Bahn, der Tunnel bei Oberau, wurde durch Freiberger Bergleute ganz nach Bergmanns- brauch wie ein Stollen von vier niedergeſenkten Schachten aus in An- griff genommen; als Alles beendet war, bildeten die Knappen in ihrem Paradeanzug, mit Fackeln in der Hand, im Tunnel Spalier, um den erſten durchbrauſenden Zug mit dem alten Glückauf-Ruf des Erzgebirges zu begrüßen. „Die Herrſchaft des Geiſtes über die materielle Welt ſchreitet mit einer ſtets beſchleunigten Kraft vorwärts“, ſo ſchrieb damals Babbage, der Theoretiker des engliſchen Maſchinenweſens. Ein techniſcher Fortſchritt folgte dem andern. Im Jahre 1839 brachte Hoſſauer das erſte Daguer- reotyp aus Paris in den Berliner Gewerbeverein; es war der beſcheidene Anfang einer neuen culturfördernden Induſtrie. Die eigenthümliche Wage- luſt des Jahrhunderts trat immer zuverſichtlicher auf, hoffnungsvoll ſah das heranwachſende Geſchlecht einer unermeßlichen Zukunft entgegen. Der- weil die Deutſchen ſich noch an ihrer erſten großen Eiſenbahn abmühten, verſuchte ſchon eine andere folgenſchwere Erfindung, die deutſche Erfindung der elektro-magnetiſchen Telegraphie ſich Raum zu ſchaffen. Das alte optiſche Telegraphenweſen hatte in Preußen während der jüngſten Jahre eine hohe Ausbildung erlangt. Auf eine Anfrage aus Berlin traf die Antwort aus Coblenz ſchon binnen vier Stunden ein, freilich nur bei hellem Wetter. Wenn das hohe Balkengerüſte auf dem Thurmhauſe in der Dorotheenſtraße einmal den ganzen Tag hindurch ununterbrochen ſeine räthſelhaften Bewegungen ausführte, dann meinten die Berliner be- denklich, die Zeiten würden ſchlimm. Aus Petersburg konnten die Nach- richten durch den Telegraphen und durch Kuriere in fünfzig Stunden be- fördert werden, und man hoffte noch auf größere Beſchleunigung, da der Czar ſoeben bei Fraunhofer in München 450 Fernröhre für die ruſſiſchen Telegraphen beſtellt hatte. Aber der optiſche Telegraph diente ausſchließlich den Behörden. Ein raſcher Nachrichtendienſt für den allgemeinen Gebrauch ward erſt möglich, als der junge Wilhelm Weber nach Göttingen kam und Gauß entzückt ausrief: der Stahl ſchlägt auf den Stein. Der Phy- ſiker und der Mathematiker verfolgten ſelbander die geniale Entdeckung Sömmering’s weiter *); ſie verbanden den elektro-magnetiſchen Apparat ihrer Sternwarte durch einen 3000 Fuß langen Draht, über den Thurm der Johanniskirche hinweg, mit dem Phyſikaliſchen Cabinet (1833). Ein echt *) S. o. II. 83.

Suche im Werk

Hilfe

Informationen zum Werk

Download dieses Werks

XML (TEI P5) · HTML · Text
TCF (text annotation layer)
XML (TEI P5 inkl. att.linguistic)

Metadaten zum Werk

TEI-Header · CMDI · Dublin Core

Ansichten dieser Seite

Voyant Tools ?

Language Resource Switchboard?

Feedback

Sie haben einen Fehler gefunden? Dann können Sie diesen über unsere Qualitätssicherungsplattform DTAQ melden.

Kommentar zur DTA-Ausgabe

Dieses Werk wurde gemäß den DTA-Transkriptionsrichtlinien im Double-Keying-Verfahren von Nicht-Muttersprachlern erfasst und in XML/TEI P5 nach DTA-Basisformat kodiert.




Ansicht auf Standard zurückstellen

URL zu diesem Werk: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889
URL zu dieser Seite: https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/601
Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 587. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/601>, abgerufen am 23.07.2024.