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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 8. Stille Jahre.
niedersten Schichten der Gesellschaft an, sie rechtfertigte hier wie überall
den Namen der Proletarier und vermehrte sich schneller als der deutsche
Mittelstand.

So geschah es, daß die deutsche Gesittung trotz der beträchtlichen Ein-
wanderung doch nur langsam vorwärts schritt, und ungeduldige Deutsche
schon an schärfere Mittel dachten. General Grolman empfahl gleich nach
dem polnischen Aufstande die Vernichtung der Provinz Posen, dergestalt
daß ihre Trümmerstücke den drei benachbarten treuen Provinzen zugetheilt
würden; und der vom Bundestag her bekannte Legationsrath Küpfer, ein
geborener Posener, rieth der Krone, unter der Oberleitung einer königlichen
Immediatcommission eine große Aktiengesellschaft zu bilden, welche den ge-
sammten Grundbesitz des polnischen Adels aufkaufen sollte.*) Es war der
Schatten kommender Ereignisse; das gegenwärtige Geschlecht mit seinem
knappen Staatshaushalte konnte sich so kühner Pläne nicht unterwinden.
Aber der Zustand in der Provinz ward immer unleidlicher. Die beiden
Nationen haßten sich nicht nur, sie verachteten einander auch; wie der
Deutsche alle Niedertracht und Unredlichkeit mit dem Worte "polnische
Wirthschaft" bezeichnete, so konnte sich der Pole den sparsamen Ordnungs-
sinn der Deutschen nur aus einem angeborenen Bedientengeiste erklären.

Niemand empfand diese Verschärfung der nationalen Gegensätze schmerz-
licher als die wenigen vornehmen Polen, welche weder ihr Volksthum ver-
rathen noch von dem preußischen Staate abfallen wollten. So der alte
tapfere General Chlapowski und der bestgebildete Mann unter den preu-
ßischen Polen, Graf Eduard Raczynski. Wie viele Arbeit hatte der kunst-
sinnige Graf aufgewendet um sein Heimathland zu bilden und zu schmücken;
er hatte der Stadt Posen ihre schöne Bibliothek und ihre Wasserleitung
geschenkt; er bemühte sich, durch eine landwirthschaftliche Schule, durch eine
Zuckerfabrik, durch Verbesserungen der Technik des Landbaues seine Stan-
desgenossen zu geregelter Thätigkeit zu ermuthigen, und mußte doch erleben,
daß seine gesammte Verwandtschaft sich in Verschwörungspläne verlor, die
er weder fördern noch hindern wollte. Unter so schwierigen Verhältnissen
führte das preußische Beamtenthum den Markmannenkrieg für unser Volks-
thum, für Recht und gute Menschensitte, und bei diesen Kämpfen war ihm
Deutschlands öffentliche Meinung entschieden feindlich. Wenn eine liberale
Zeitung sich ja einmal herabließ der friedlichen Eroberungen in der deutschen
Ostmark zu gedenken, so brachte sie einen Aufsatz aus der Feder eines un-
zufriedenen polnischen Edelmanns, der die Befreiung des Posener Land-
volks als eine preußische Gewaltthat verunglimpfte. --

In den anderen Provinzen des Ostens wurde das Stillleben dieser
Jahre fast allein durch kirchliche Wirren gestört. In Königsberg hielt die

*) Küpfer, Denkschrift über die Germanisirung des Großherzogthums Posen. An
Lottum überreicht 27. Jan. 1838.

IV. 8. Stille Jahre.
niederſten Schichten der Geſellſchaft an, ſie rechtfertigte hier wie überall
den Namen der Proletarier und vermehrte ſich ſchneller als der deutſche
Mittelſtand.

So geſchah es, daß die deutſche Geſittung trotz der beträchtlichen Ein-
wanderung doch nur langſam vorwärts ſchritt, und ungeduldige Deutſche
ſchon an ſchärfere Mittel dachten. General Grolman empfahl gleich nach
dem polniſchen Aufſtande die Vernichtung der Provinz Poſen, dergeſtalt
daß ihre Trümmerſtücke den drei benachbarten treuen Provinzen zugetheilt
würden; und der vom Bundestag her bekannte Legationsrath Küpfer, ein
geborener Poſener, rieth der Krone, unter der Oberleitung einer königlichen
Immediatcommiſſion eine große Aktiengeſellſchaft zu bilden, welche den ge-
ſammten Grundbeſitz des polniſchen Adels aufkaufen ſollte.*) Es war der
Schatten kommender Ereigniſſe; das gegenwärtige Geſchlecht mit ſeinem
knappen Staatshaushalte konnte ſich ſo kühner Pläne nicht unterwinden.
Aber der Zuſtand in der Provinz ward immer unleidlicher. Die beiden
Nationen haßten ſich nicht nur, ſie verachteten einander auch; wie der
Deutſche alle Niedertracht und Unredlichkeit mit dem Worte „polniſche
Wirthſchaft“ bezeichnete, ſo konnte ſich der Pole den ſparſamen Ordnungs-
ſinn der Deutſchen nur aus einem angeborenen Bedientengeiſte erklären.

Niemand empfand dieſe Verſchärfung der nationalen Gegenſätze ſchmerz-
licher als die wenigen vornehmen Polen, welche weder ihr Volksthum ver-
rathen noch von dem preußiſchen Staate abfallen wollten. So der alte
tapfere General Chlapowski und der beſtgebildete Mann unter den preu-
ßiſchen Polen, Graf Eduard Raczynski. Wie viele Arbeit hatte der kunſt-
ſinnige Graf aufgewendet um ſein Heimathland zu bilden und zu ſchmücken;
er hatte der Stadt Poſen ihre ſchöne Bibliothek und ihre Waſſerleitung
geſchenkt; er bemühte ſich, durch eine landwirthſchaftliche Schule, durch eine
Zuckerfabrik, durch Verbeſſerungen der Technik des Landbaues ſeine Stan-
desgenoſſen zu geregelter Thätigkeit zu ermuthigen, und mußte doch erleben,
daß ſeine geſammte Verwandtſchaft ſich in Verſchwörungspläne verlor, die
er weder fördern noch hindern wollte. Unter ſo ſchwierigen Verhältniſſen
führte das preußiſche Beamtenthum den Markmannenkrieg für unſer Volks-
thum, für Recht und gute Menſchenſitte, und bei dieſen Kämpfen war ihm
Deutſchlands öffentliche Meinung entſchieden feindlich. Wenn eine liberale
Zeitung ſich ja einmal herabließ der friedlichen Eroberungen in der deutſchen
Oſtmark zu gedenken, ſo brachte ſie einen Aufſatz aus der Feder eines un-
zufriedenen polniſchen Edelmanns, der die Befreiung des Poſener Land-
volks als eine preußiſche Gewaltthat verunglimpfte. —

In den anderen Provinzen des Oſtens wurde das Stillleben dieſer
Jahre faſt allein durch kirchliche Wirren geſtört. In Königsberg hielt die

*) Küpfer, Denkſchrift über die Germaniſirung des Großherzogthums Poſen. An
Lottum überreicht 27. Jan. 1838.
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[562/0576] IV. 8. Stille Jahre. niederſten Schichten der Geſellſchaft an, ſie rechtfertigte hier wie überall den Namen der Proletarier und vermehrte ſich ſchneller als der deutſche Mittelſtand. So geſchah es, daß die deutſche Geſittung trotz der beträchtlichen Ein- wanderung doch nur langſam vorwärts ſchritt, und ungeduldige Deutſche ſchon an ſchärfere Mittel dachten. General Grolman empfahl gleich nach dem polniſchen Aufſtande die Vernichtung der Provinz Poſen, dergeſtalt daß ihre Trümmerſtücke den drei benachbarten treuen Provinzen zugetheilt würden; und der vom Bundestag her bekannte Legationsrath Küpfer, ein geborener Poſener, rieth der Krone, unter der Oberleitung einer königlichen Immediatcommiſſion eine große Aktiengeſellſchaft zu bilden, welche den ge- ſammten Grundbeſitz des polniſchen Adels aufkaufen ſollte. *) Es war der Schatten kommender Ereigniſſe; das gegenwärtige Geſchlecht mit ſeinem knappen Staatshaushalte konnte ſich ſo kühner Pläne nicht unterwinden. Aber der Zuſtand in der Provinz ward immer unleidlicher. Die beiden Nationen haßten ſich nicht nur, ſie verachteten einander auch; wie der Deutſche alle Niedertracht und Unredlichkeit mit dem Worte „polniſche Wirthſchaft“ bezeichnete, ſo konnte ſich der Pole den ſparſamen Ordnungs- ſinn der Deutſchen nur aus einem angeborenen Bedientengeiſte erklären. Niemand empfand dieſe Verſchärfung der nationalen Gegenſätze ſchmerz- licher als die wenigen vornehmen Polen, welche weder ihr Volksthum ver- rathen noch von dem preußiſchen Staate abfallen wollten. So der alte tapfere General Chlapowski und der beſtgebildete Mann unter den preu- ßiſchen Polen, Graf Eduard Raczynski. Wie viele Arbeit hatte der kunſt- ſinnige Graf aufgewendet um ſein Heimathland zu bilden und zu ſchmücken; er hatte der Stadt Poſen ihre ſchöne Bibliothek und ihre Waſſerleitung geſchenkt; er bemühte ſich, durch eine landwirthſchaftliche Schule, durch eine Zuckerfabrik, durch Verbeſſerungen der Technik des Landbaues ſeine Stan- desgenoſſen zu geregelter Thätigkeit zu ermuthigen, und mußte doch erleben, daß ſeine geſammte Verwandtſchaft ſich in Verſchwörungspläne verlor, die er weder fördern noch hindern wollte. Unter ſo ſchwierigen Verhältniſſen führte das preußiſche Beamtenthum den Markmannenkrieg für unſer Volks- thum, für Recht und gute Menſchenſitte, und bei dieſen Kämpfen war ihm Deutſchlands öffentliche Meinung entſchieden feindlich. Wenn eine liberale Zeitung ſich ja einmal herabließ der friedlichen Eroberungen in der deutſchen Oſtmark zu gedenken, ſo brachte ſie einen Aufſatz aus der Feder eines un- zufriedenen polniſchen Edelmanns, der die Befreiung des Poſener Land- volks als eine preußiſche Gewaltthat verunglimpfte. — In den anderen Provinzen des Oſtens wurde das Stillleben dieſer Jahre faſt allein durch kirchliche Wirren geſtört. In Königsberg hielt die *) Küpfer, Denkſchrift über die Germaniſirung des Großherzogthums Poſen. An Lottum überreicht 27. Jan. 1838.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 562. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/576>, abgerufen am 24.11.2024.