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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 8. Stille Jahre.
die Christen der Balkanhalbinsel eine europäische Nothwendigkeit sei und
Rußlands orientalische Politik mit jedem Mittel bekämpft werden müsse.
Mit der Hartnäckigkeit eines religiösen Fanatikers vertiefte er sich in diesen
Gedankengang, bis er endlich zu der Ueberzeugung gelangte, daß neben
der Zukunft Constantinopels alle anderen Interessen Europas verschwän-
den. Sein Ziel war die Weltherrschaft des britischen Handels, und mit
wohlthuender Ehrlichkeit sprach er aus: "in seiner gegenwärtigen mächtigen
Stellung leidet England unter allen Ereignissen, die es nicht nach seinem
Willen zu leiten vermag." Alle anderen Völker waren also lediglich ver-
pflichtet, die britische Weltmacht zu fördern und mußten es als eine Gnade
betrachten, wenn ihnen die Meereskönigin noch irgend eine Kolonie gönnte.

Dergestalt berührten sich Urquhart's Ansichten mit der Meinung Lord
Palmerston's, der damals (1836) im Parlamente rühmte, wie großmüthig
sich England gegen seine verrathenen alten Bundesgenossen benommen habe,
und zufrieden lächelnd sagte: "Wir konnten Holland Alles nehmen und
wir haben nur das Cap, Ceylon und Surinam behalten; Java haben
wir wieder herausgegeben." Aber auf die Dauer vermochte der geistreiche
Heißsporn die Politik Palmerston's, die doch immer mit den Thatsachen
rechnete, nicht zu ertragen; er wurde bald ein leidenschaftlicher Gegner des
Lords, bezichtigte ihn der Feigheit und brandmarkte ihn endlich gar als
einen geheimen Bundesgenossen des Czaren. In allen seinen Schriften
lagen Geist und Narrheit dicht bei einander. Er erkannte scharfsichtig,
daß die Quadrupel-Allianz ein Fehler war und die Freundschaft der West-
mächte unvermeidlich schwächen mußte; aber seine fixe Idee ließ ihn nie-
mals zu einem unbefangenen Urtheile gelangen. Ueberall wähnte er Ruß-
lands unterirdische Arbeit zu entdecken; sogar den Zollverein, der dem
fanatischen Briten natürlich ein Gräuel war, sollte Czar Nikolaus ge-
schaffen haben, um Deutschland erst zu zerspalten und dann Rußlands
Dictatur in Mitteleuropa zu befestigen.

Zur Verbreitung dieser seltsamen Ansichten ließ Urquhart in den
Jahren 1833--37 das Portfolio erscheinen, eine Sammlung geheimer
diplomatischer Aktenstücke mit entsprechenden Erläuterungen, eine der wirk-
samsten politischen Schriften des Jahrhunderts. Durch dies Buch wurde
in den gebildeten Klassen Mittel- und Westeuropas jene grundfalsche An-
schauung der orientalischen Frage begründet, welche fortan zwei Jahrzehnte
hindurch, bis zu der großen Enttäuschung des Krimkriegs vorherrschte.
Urquhart wollte zunächst den Ostbund sprengen, namentlich Oesterreich,
das in England noch von alten Zeiten her als natürlicher Verbündeter be-
trachtet wurde, mit Preußen und Rußland entzweien. Schlag auf Schlag
veröffentlichte das Portfolio die Depeschen und Denkschriften, welche Pozzo
di Borgo während des letzten türkischen Krieges nach Petersburg gesendet
hatte; die Abschriften waren zur Zeit des Warschauer Aufruhrs in dem
Palaste des Großfürsten Constantin aufgefunden und dem gewandten Her-

IV. 8. Stille Jahre.
die Chriſten der Balkanhalbinſel eine europäiſche Nothwendigkeit ſei und
Rußlands orientaliſche Politik mit jedem Mittel bekämpft werden müſſe.
Mit der Hartnäckigkeit eines religiöſen Fanatikers vertiefte er ſich in dieſen
Gedankengang, bis er endlich zu der Ueberzeugung gelangte, daß neben
der Zukunft Conſtantinopels alle anderen Intereſſen Europas verſchwän-
den. Sein Ziel war die Weltherrſchaft des britiſchen Handels, und mit
wohlthuender Ehrlichkeit ſprach er aus: „in ſeiner gegenwärtigen mächtigen
Stellung leidet England unter allen Ereigniſſen, die es nicht nach ſeinem
Willen zu leiten vermag.“ Alle anderen Völker waren alſo lediglich ver-
pflichtet, die britiſche Weltmacht zu fördern und mußten es als eine Gnade
betrachten, wenn ihnen die Meereskönigin noch irgend eine Kolonie gönnte.

Dergeſtalt berührten ſich Urquhart’s Anſichten mit der Meinung Lord
Palmerſton’s, der damals (1836) im Parlamente rühmte, wie großmüthig
ſich England gegen ſeine verrathenen alten Bundesgenoſſen benommen habe,
und zufrieden lächelnd ſagte: „Wir konnten Holland Alles nehmen und
wir haben nur das Cap, Ceylon und Surinam behalten; Java haben
wir wieder herausgegeben.“ Aber auf die Dauer vermochte der geiſtreiche
Heißſporn die Politik Palmerſton’s, die doch immer mit den Thatſachen
rechnete, nicht zu ertragen; er wurde bald ein leidenſchaftlicher Gegner des
Lords, bezichtigte ihn der Feigheit und brandmarkte ihn endlich gar als
einen geheimen Bundesgenoſſen des Czaren. In allen ſeinen Schriften
lagen Geiſt und Narrheit dicht bei einander. Er erkannte ſcharfſichtig,
daß die Quadrupel-Allianz ein Fehler war und die Freundſchaft der Weſt-
mächte unvermeidlich ſchwächen mußte; aber ſeine fixe Idee ließ ihn nie-
mals zu einem unbefangenen Urtheile gelangen. Ueberall wähnte er Ruß-
lands unterirdiſche Arbeit zu entdecken; ſogar den Zollverein, der dem
fanatiſchen Briten natürlich ein Gräuel war, ſollte Czar Nikolaus ge-
ſchaffen haben, um Deutſchland erſt zu zerſpalten und dann Rußlands
Dictatur in Mitteleuropa zu befeſtigen.

Zur Verbreitung dieſer ſeltſamen Anſichten ließ Urquhart in den
Jahren 1833—37 das Portfolio erſcheinen, eine Sammlung geheimer
diplomatiſcher Aktenſtücke mit entſprechenden Erläuterungen, eine der wirk-
ſamſten politiſchen Schriften des Jahrhunderts. Durch dies Buch wurde
in den gebildeten Klaſſen Mittel- und Weſteuropas jene grundfalſche An-
ſchauung der orientaliſchen Frage begründet, welche fortan zwei Jahrzehnte
hindurch, bis zu der großen Enttäuſchung des Krimkriegs vorherrſchte.
Urquhart wollte zunächſt den Oſtbund ſprengen, namentlich Oeſterreich,
das in England noch von alten Zeiten her als natürlicher Verbündeter be-
trachtet wurde, mit Preußen und Rußland entzweien. Schlag auf Schlag
veröffentlichte das Portfolio die Depeſchen und Denkſchriften, welche Pozzo
di Borgo während des letzten türkiſchen Krieges nach Petersburg geſendet
hatte; die Abſchriften waren zur Zeit des Warſchauer Aufruhrs in dem
Palaſte des Großfürſten Conſtantin aufgefunden und dem gewandten Her-

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[538/0552] IV. 8. Stille Jahre. die Chriſten der Balkanhalbinſel eine europäiſche Nothwendigkeit ſei und Rußlands orientaliſche Politik mit jedem Mittel bekämpft werden müſſe. Mit der Hartnäckigkeit eines religiöſen Fanatikers vertiefte er ſich in dieſen Gedankengang, bis er endlich zu der Ueberzeugung gelangte, daß neben der Zukunft Conſtantinopels alle anderen Intereſſen Europas verſchwän- den. Sein Ziel war die Weltherrſchaft des britiſchen Handels, und mit wohlthuender Ehrlichkeit ſprach er aus: „in ſeiner gegenwärtigen mächtigen Stellung leidet England unter allen Ereigniſſen, die es nicht nach ſeinem Willen zu leiten vermag.“ Alle anderen Völker waren alſo lediglich ver- pflichtet, die britiſche Weltmacht zu fördern und mußten es als eine Gnade betrachten, wenn ihnen die Meereskönigin noch irgend eine Kolonie gönnte. Dergeſtalt berührten ſich Urquhart’s Anſichten mit der Meinung Lord Palmerſton’s, der damals (1836) im Parlamente rühmte, wie großmüthig ſich England gegen ſeine verrathenen alten Bundesgenoſſen benommen habe, und zufrieden lächelnd ſagte: „Wir konnten Holland Alles nehmen und wir haben nur das Cap, Ceylon und Surinam behalten; Java haben wir wieder herausgegeben.“ Aber auf die Dauer vermochte der geiſtreiche Heißſporn die Politik Palmerſton’s, die doch immer mit den Thatſachen rechnete, nicht zu ertragen; er wurde bald ein leidenſchaftlicher Gegner des Lords, bezichtigte ihn der Feigheit und brandmarkte ihn endlich gar als einen geheimen Bundesgenoſſen des Czaren. In allen ſeinen Schriften lagen Geiſt und Narrheit dicht bei einander. Er erkannte ſcharfſichtig, daß die Quadrupel-Allianz ein Fehler war und die Freundſchaft der Weſt- mächte unvermeidlich ſchwächen mußte; aber ſeine fixe Idee ließ ihn nie- mals zu einem unbefangenen Urtheile gelangen. Ueberall wähnte er Ruß- lands unterirdiſche Arbeit zu entdecken; ſogar den Zollverein, der dem fanatiſchen Briten natürlich ein Gräuel war, ſollte Czar Nikolaus ge- ſchaffen haben, um Deutſchland erſt zu zerſpalten und dann Rußlands Dictatur in Mitteleuropa zu befeſtigen. Zur Verbreitung dieſer ſeltſamen Anſichten ließ Urquhart in den Jahren 1833—37 das Portfolio erſcheinen, eine Sammlung geheimer diplomatiſcher Aktenſtücke mit entſprechenden Erläuterungen, eine der wirk- ſamſten politiſchen Schriften des Jahrhunderts. Durch dies Buch wurde in den gebildeten Klaſſen Mittel- und Weſteuropas jene grundfalſche An- ſchauung der orientaliſchen Frage begründet, welche fortan zwei Jahrzehnte hindurch, bis zu der großen Enttäuſchung des Krimkriegs vorherrſchte. Urquhart wollte zunächſt den Oſtbund ſprengen, namentlich Oeſterreich, das in England noch von alten Zeiten her als natürlicher Verbündeter be- trachtet wurde, mit Preußen und Rußland entzweien. Schlag auf Schlag veröffentlichte das Portfolio die Depeſchen und Denkſchriften, welche Pozzo di Borgo während des letzten türkiſchen Krieges nach Petersburg geſendet hatte; die Abſchriften waren zur Zeit des Warſchauer Aufruhrs in dem Palaſte des Großfürſten Conſtantin aufgefunden und dem gewandten Her-

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 538. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/552>, abgerufen am 24.11.2024.