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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Preußisch-russischer Handelsverkehr.
die Nachbarn, daß die erbitterten Ostpreußen zu sagen pflegten: durch
seine Grenzsperre will uns Nikolaus zwingen die Vereinigung mit seinem
Reiche zu verlangen. Die preußische Grenze durfte Jedermann an allen
beliebigen Stellen überschreiten; die russische war verschlossen, nur an den
sehr weit auseinanderliegenden Zollämtern fand man Einlaß in das Czaren-
reich, und sie behandelten zwar die Personen nicht ganz unmenschlich, doch
die Waaren mit ausgesuchter Bosheit; selbst die Durchfuhr nach Odessa,
die noch in leidlicher Blüthe und darum den Moskowitern besonders ver-
dächtig war, erschwerten sie aufs Aeußerste. Auf eine Aenderung dieses
Systems ließ sich nicht hoffen; denn man wußte in Berlin, daß der Finanz-
minister Cancrin und einige der mächtigsten Männer des Petersburger
Hofes selbst große Fabriken besaßen.*) Darum erklärten sich die preußischen
Minister einmüthig gegen den Abschluß eines neuen Handelsvertrags;
wider einen solchen Nachbarn müsse man sich wohl oder übel selbst zu
schützen suchen.**) Die russischen Unterhändler baten und drängten; aber
was hatten sie zu bieten? Sie versprachen zwei neue Zollämter zu errichten
-- statt der zwanzig oder dreißig, deren der Verkehr noch bedurfte --;
sie erboten sich die Zölle auf Eisen, Leinwand und andere preußische Aus-
fuhrwaaren, die nahezu 250 % des Werthes betrugen, um etwa ein Fünftel
herabzusetzen; dafür verlangten sie, daß Preußen seine mäßigen Durch-
fuhrzölle noch erniedrigen und die Durchfuhr polnischer Wolle selbst dann
gestatten solle, wenn in Polen die Viehseuche herrsche.

Solche Zumuthungen waren für einen gesitteten Staat kaum ernst-
haft zu nehmen. Preußen lehnte Alles rundweg ab, und fortan ward
niemals wieder ein Handelsvertrag mit Rußland abgeschlossen. Der preu-
ßische Schleichhandel blühte wie nie zuvor -- denn was konnte man aus
Rußland nach Preußen hinüberschmuggeln? Es war umsonst, daß der
Czar den Grenzbezirk von 7 auf 30 Werst verbreiterte und den Grenz-
wächtern für jeden eingebrachten bewaffneten Pascher 150 Rubel versprach.
Allen Grenzbewohnern erschien der Schmuggel als ein gutes Recht, da
Rußland sogar den altgewohnten Durchfuhrhandel nach China verboten
hatte. Endlich, im Jahre 1838, erklärte sich Preußen bereit, einen Com-
missär zur Ueberwachung des Schleichhandels nach Memel zu senden.
Sobald aber Nikolaus sich freundnachbarlich erbot, auch einen russischen
Commissär nach Memel zu schicken, da erwiderte Werther sofort: nunmehr
werde Preußen gar nichts thun; der Schmuggel sei die natürliche Folge
des unvernünftigen russischen Zollsystems und werde überdies durch unred-
liche russische Beamte selbst insgeheim befördert. Nikolaus war empört
über diese "ungehörige" Bemerkung, weil er ihre Wahrheit fühlte; jedoch

*) Frankenberg's Bericht, 12. Febr. 1836.
**) Promemoria, den Handelsvertrag mit Rußland betr., 1836. (Vermuthlich von
Beuth.)

Preußiſch-ruſſiſcher Handelsverkehr.
die Nachbarn, daß die erbitterten Oſtpreußen zu ſagen pflegten: durch
ſeine Grenzſperre will uns Nikolaus zwingen die Vereinigung mit ſeinem
Reiche zu verlangen. Die preußiſche Grenze durfte Jedermann an allen
beliebigen Stellen überſchreiten; die ruſſiſche war verſchloſſen, nur an den
ſehr weit auseinanderliegenden Zollämtern fand man Einlaß in das Czaren-
reich, und ſie behandelten zwar die Perſonen nicht ganz unmenſchlich, doch
die Waaren mit ausgeſuchter Bosheit; ſelbſt die Durchfuhr nach Odeſſa,
die noch in leidlicher Blüthe und darum den Moskowitern beſonders ver-
dächtig war, erſchwerten ſie aufs Aeußerſte. Auf eine Aenderung dieſes
Syſtems ließ ſich nicht hoffen; denn man wußte in Berlin, daß der Finanz-
miniſter Cancrin und einige der mächtigſten Männer des Petersburger
Hofes ſelbſt große Fabriken beſaßen.*) Darum erklärten ſich die preußiſchen
Miniſter einmüthig gegen den Abſchluß eines neuen Handelsvertrags;
wider einen ſolchen Nachbarn müſſe man ſich wohl oder übel ſelbſt zu
ſchützen ſuchen.**) Die ruſſiſchen Unterhändler baten und drängten; aber
was hatten ſie zu bieten? Sie verſprachen zwei neue Zollämter zu errichten
— ſtatt der zwanzig oder dreißig, deren der Verkehr noch bedurfte —;
ſie erboten ſich die Zölle auf Eiſen, Leinwand und andere preußiſche Aus-
fuhrwaaren, die nahezu 250 % des Werthes betrugen, um etwa ein Fünftel
herabzuſetzen; dafür verlangten ſie, daß Preußen ſeine mäßigen Durch-
fuhrzölle noch erniedrigen und die Durchfuhr polniſcher Wolle ſelbſt dann
geſtatten ſolle, wenn in Polen die Viehſeuche herrſche.

Solche Zumuthungen waren für einen geſitteten Staat kaum ernſt-
haft zu nehmen. Preußen lehnte Alles rundweg ab, und fortan ward
niemals wieder ein Handelsvertrag mit Rußland abgeſchloſſen. Der preu-
ßiſche Schleichhandel blühte wie nie zuvor — denn was konnte man aus
Rußland nach Preußen hinüberſchmuggeln? Es war umſonſt, daß der
Czar den Grenzbezirk von 7 auf 30 Werſt verbreiterte und den Grenz-
wächtern für jeden eingebrachten bewaffneten Paſcher 150 Rubel verſprach.
Allen Grenzbewohnern erſchien der Schmuggel als ein gutes Recht, da
Rußland ſogar den altgewohnten Durchfuhrhandel nach China verboten
hatte. Endlich, im Jahre 1838, erklärte ſich Preußen bereit, einen Com-
miſſär zur Ueberwachung des Schleichhandels nach Memel zu ſenden.
Sobald aber Nikolaus ſich freundnachbarlich erbot, auch einen ruſſiſchen
Commiſſär nach Memel zu ſchicken, da erwiderte Werther ſofort: nunmehr
werde Preußen gar nichts thun; der Schmuggel ſei die natürliche Folge
des unvernünftigen ruſſiſchen Zollſyſtems und werde überdies durch unred-
liche ruſſiſche Beamte ſelbſt insgeheim befördert. Nikolaus war empört
über dieſe „ungehörige“ Bemerkung, weil er ihre Wahrheit fühlte; jedoch

*) Frankenberg’s Bericht, 12. Febr. 1836.
**) Promemoria, den Handelsvertrag mit Rußland betr., 1836. (Vermuthlich von
Beuth.)
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[533/0547] Preußiſch-ruſſiſcher Handelsverkehr. die Nachbarn, daß die erbitterten Oſtpreußen zu ſagen pflegten: durch ſeine Grenzſperre will uns Nikolaus zwingen die Vereinigung mit ſeinem Reiche zu verlangen. Die preußiſche Grenze durfte Jedermann an allen beliebigen Stellen überſchreiten; die ruſſiſche war verſchloſſen, nur an den ſehr weit auseinanderliegenden Zollämtern fand man Einlaß in das Czaren- reich, und ſie behandelten zwar die Perſonen nicht ganz unmenſchlich, doch die Waaren mit ausgeſuchter Bosheit; ſelbſt die Durchfuhr nach Odeſſa, die noch in leidlicher Blüthe und darum den Moskowitern beſonders ver- dächtig war, erſchwerten ſie aufs Aeußerſte. Auf eine Aenderung dieſes Syſtems ließ ſich nicht hoffen; denn man wußte in Berlin, daß der Finanz- miniſter Cancrin und einige der mächtigſten Männer des Petersburger Hofes ſelbſt große Fabriken beſaßen. *) Darum erklärten ſich die preußiſchen Miniſter einmüthig gegen den Abſchluß eines neuen Handelsvertrags; wider einen ſolchen Nachbarn müſſe man ſich wohl oder übel ſelbſt zu ſchützen ſuchen. **) Die ruſſiſchen Unterhändler baten und drängten; aber was hatten ſie zu bieten? Sie verſprachen zwei neue Zollämter zu errichten — ſtatt der zwanzig oder dreißig, deren der Verkehr noch bedurfte —; ſie erboten ſich die Zölle auf Eiſen, Leinwand und andere preußiſche Aus- fuhrwaaren, die nahezu 250 % des Werthes betrugen, um etwa ein Fünftel herabzuſetzen; dafür verlangten ſie, daß Preußen ſeine mäßigen Durch- fuhrzölle noch erniedrigen und die Durchfuhr polniſcher Wolle ſelbſt dann geſtatten ſolle, wenn in Polen die Viehſeuche herrſche. Solche Zumuthungen waren für einen geſitteten Staat kaum ernſt- haft zu nehmen. Preußen lehnte Alles rundweg ab, und fortan ward niemals wieder ein Handelsvertrag mit Rußland abgeſchloſſen. Der preu- ßiſche Schleichhandel blühte wie nie zuvor — denn was konnte man aus Rußland nach Preußen hinüberſchmuggeln? Es war umſonſt, daß der Czar den Grenzbezirk von 7 auf 30 Werſt verbreiterte und den Grenz- wächtern für jeden eingebrachten bewaffneten Paſcher 150 Rubel verſprach. Allen Grenzbewohnern erſchien der Schmuggel als ein gutes Recht, da Rußland ſogar den altgewohnten Durchfuhrhandel nach China verboten hatte. Endlich, im Jahre 1838, erklärte ſich Preußen bereit, einen Com- miſſär zur Ueberwachung des Schleichhandels nach Memel zu ſenden. Sobald aber Nikolaus ſich freundnachbarlich erbot, auch einen ruſſiſchen Commiſſär nach Memel zu ſchicken, da erwiderte Werther ſofort: nunmehr werde Preußen gar nichts thun; der Schmuggel ſei die natürliche Folge des unvernünftigen ruſſiſchen Zollſyſtems und werde überdies durch unred- liche ruſſiſche Beamte ſelbſt insgeheim befördert. Nikolaus war empört über dieſe „ungehörige“ Bemerkung, weil er ihre Wahrheit fühlte; jedoch *) Frankenberg’s Bericht, 12. Febr. 1836. **) Promemoria, den Handelsvertrag mit Rußland betr., 1836. (Vermuthlich von Beuth.)

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 533. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/547>, abgerufen am 24.11.2024.