Währenddem begannen die Machtverhältnisse in der Allianz der Ost- mächte sich zu verändern durch den Tod des Kaisers Franz (2. März 1835). Wenig genug hatte der alte Herr freilich geleistet in diesen letzten Jahren, wo er, mißtrauisch gegen sich selber wie gegen Jedermann, alle Neuerungs- vorschläge bei Seite zu schieben pflegte mit der gelassenen Bemerkung "dar- über muß man schlafen." Aber die laufenden Geschäfte erledigte er noch mit seiner gewohnten subalternen Emsigkeit. Er allein hielt die zahlreichen neben- und übereinander geschichteten Centralbehörden dieses unförmlichen Staates zusammen; und obwohl er Metternich in der auswärtigen Politik, den Grafen Kolowrat in der inneren Verwaltung ziemlich frei gewähren ließ, so fiel doch keine ernste Entscheidung gegen seinen Befehl, der immer darauf hinauskam, daß schlechterdings nichts geändert werden dürfe. Was sollte jetzt werden, da selbst diese mechanisch leitende und hemmende Kraft des monarchischen Willens fehlte? Der neue Kaiser Ferdinand war grund- gutmüthig, fromm, wohlthätig, ehrlich, sogar unterrichtet in einigen jener Wissenschaften, welche mehr den Spieltrieb als den Wahrheitsdrang be- friedigen, jedoch ein armer, kaum zurechnungsfähiger epileptischer Kranker, zum Wollen wie zum Denken gleich unbrauchbar. Darum hatte man selbst an diesem Hofe, der doch an traurige Monarchen gewöhnt war, ernstlich erwogen, ob ein solcher Unglücklicher regieren dürfe. Aber sein Bruder Erzherzog Franz Karl besaß, obwohl nicht krank, auch nur über- aus bescheidene Fähigkeiten, und dessen Sohn Franz Joseph war noch ein kleines Kind. Ohne die Mitwirkung des ungarischen Reichstags ließ sich zudem weder eine Abdankung noch eine förmliche Regentschaft durchsetzen; und wer sollte unbotmäßigen Reichsständen so schwierige Fragen vorzulegen wagen? Eben in diesen Jahren begann der magyarische Adel seine na- tionale Bewegung: er wollte sich selber die Herrschaft über die deutsch- slavisch-walachische Mehrheit der Bevölkerung Ungarns und zugleich der Stephanskrone die volle Selbständigkeit neben der Kaiserkrone sichern. Schon hatte er erreicht, daß die magyarische Sprache, statt des altge- wohnten neutralen Lateins, fortan im amtlichen Verkehre allein ange- wendet werden sollte; und als der Palatinus Erzherzog Joseph erkrankte, da beschloß die Mehrheit der Abgeordneten zu Preßburg insgeheim, ge- gebenen Falles sofort den Führer der aristokratischen Opposition, den Grafen Szechenyi zum Palatin zu erwählen.*)
In solcher Lage schien es nicht rathsam, an der unbestreitbaren Erb- folgeordnung irgend zu rütteln. Der bedauernswerthe Thronfolger wurde von den Ungarn im Voraus als König Ferdinand V. gekrönt**) und bestieg vier Jahre darauf den Kaiserthron. Ein Anblick zum Erbarmen, wenn
(Neuchatel 1877) -- ein mehr durch groben Parteihaß als durch Zuverlässigkeit ausge- zeichnetes Buch -- geben über alle diese Verhältnisse sehr wenig Auskunft.
*) Maltzan's Bericht, 8. Febr. 1836.
**) S. o. IV. 48.
IV. 8. Stille Jahre.
Währenddem begannen die Machtverhältniſſe in der Allianz der Oſt- mächte ſich zu verändern durch den Tod des Kaiſers Franz (2. März 1835). Wenig genug hatte der alte Herr freilich geleiſtet in dieſen letzten Jahren, wo er, mißtrauiſch gegen ſich ſelber wie gegen Jedermann, alle Neuerungs- vorſchläge bei Seite zu ſchieben pflegte mit der gelaſſenen Bemerkung „dar- über muß man ſchlafen.“ Aber die laufenden Geſchäfte erledigte er noch mit ſeiner gewohnten ſubalternen Emſigkeit. Er allein hielt die zahlreichen neben- und übereinander geſchichteten Centralbehörden dieſes unförmlichen Staates zuſammen; und obwohl er Metternich in der auswärtigen Politik, den Grafen Kolowrat in der inneren Verwaltung ziemlich frei gewähren ließ, ſo fiel doch keine ernſte Entſcheidung gegen ſeinen Befehl, der immer darauf hinauskam, daß ſchlechterdings nichts geändert werden dürfe. Was ſollte jetzt werden, da ſelbſt dieſe mechaniſch leitende und hemmende Kraft des monarchiſchen Willens fehlte? Der neue Kaiſer Ferdinand war grund- gutmüthig, fromm, wohlthätig, ehrlich, ſogar unterrichtet in einigen jener Wiſſenſchaften, welche mehr den Spieltrieb als den Wahrheitsdrang be- friedigen, jedoch ein armer, kaum zurechnungsfähiger epileptiſcher Kranker, zum Wollen wie zum Denken gleich unbrauchbar. Darum hatte man ſelbſt an dieſem Hofe, der doch an traurige Monarchen gewöhnt war, ernſtlich erwogen, ob ein ſolcher Unglücklicher regieren dürfe. Aber ſein Bruder Erzherzog Franz Karl beſaß, obwohl nicht krank, auch nur über- aus beſcheidene Fähigkeiten, und deſſen Sohn Franz Joſeph war noch ein kleines Kind. Ohne die Mitwirkung des ungariſchen Reichstags ließ ſich zudem weder eine Abdankung noch eine förmliche Regentſchaft durchſetzen; und wer ſollte unbotmäßigen Reichsſtänden ſo ſchwierige Fragen vorzulegen wagen? Eben in dieſen Jahren begann der magyariſche Adel ſeine na- tionale Bewegung: er wollte ſich ſelber die Herrſchaft über die deutſch- ſlaviſch-walachiſche Mehrheit der Bevölkerung Ungarns und zugleich der Stephanskrone die volle Selbſtändigkeit neben der Kaiſerkrone ſichern. Schon hatte er erreicht, daß die magyariſche Sprache, ſtatt des altge- wohnten neutralen Lateins, fortan im amtlichen Verkehre allein ange- wendet werden ſollte; und als der Palatinus Erzherzog Joſeph erkrankte, da beſchloß die Mehrheit der Abgeordneten zu Preßburg insgeheim, ge- gebenen Falles ſofort den Führer der ariſtokratiſchen Oppoſition, den Grafen Szechenyi zum Palatin zu erwählen.*)
In ſolcher Lage ſchien es nicht rathſam, an der unbeſtreitbaren Erb- folgeordnung irgend zu rütteln. Der bedauernswerthe Thronfolger wurde von den Ungarn im Voraus als König Ferdinand V. gekrönt**) und beſtieg vier Jahre darauf den Kaiſerthron. Ein Anblick zum Erbarmen, wenn
(Neuchatel 1877) — ein mehr durch groben Parteihaß als durch Zuverläſſigkeit ausge- zeichnetes Buch — geben über alle dieſe Verhältniſſe ſehr wenig Auskunft.
*) Maltzan’s Bericht, 8. Febr. 1836.
**) S. o. IV. 48.
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Wenig genug hatte der alte Herr freilich geleiſtet in dieſen letzten Jahren,
wo er, mißtrauiſch gegen ſich ſelber wie gegen Jedermann, alle Neuerungs-
vorſchläge bei Seite zu ſchieben pflegte mit der gelaſſenen Bemerkung „dar-
über muß man ſchlafen.“ Aber die laufenden Geſchäfte erledigte er noch
mit ſeiner gewohnten ſubalternen Emſigkeit. Er allein hielt die zahlreichen
neben- und übereinander geſchichteten Centralbehörden dieſes unförmlichen
Staates zuſammen; und obwohl er Metternich in der auswärtigen Politik,
den Grafen Kolowrat in der inneren Verwaltung ziemlich frei gewähren
ließ, ſo fiel doch keine ernſte Entſcheidung gegen ſeinen Befehl, der immer
darauf hinauskam, daß ſchlechterdings nichts geändert werden dürfe. Was
ſollte jetzt werden, da ſelbſt dieſe mechaniſch leitende und hemmende Kraft
des monarchiſchen Willens fehlte? Der neue Kaiſer Ferdinand war grund-
gutmüthig, fromm, wohlthätig, ehrlich, ſogar unterrichtet in einigen jener
Wiſſenſchaften, welche mehr den Spieltrieb als den Wahrheitsdrang be-
friedigen, jedoch ein armer, kaum zurechnungsfähiger epileptiſcher Kranker,
zum Wollen wie zum Denken gleich unbrauchbar. Darum hatte man
ſelbſt an dieſem Hofe, der doch an traurige Monarchen gewöhnt war,
ernſtlich erwogen, ob ein ſolcher Unglücklicher regieren dürfe. Aber ſein
Bruder Erzherzog Franz Karl beſaß, obwohl nicht krank, auch nur über-
aus beſcheidene Fähigkeiten, und deſſen Sohn Franz Joſeph war noch ein
kleines Kind. Ohne die Mitwirkung des ungariſchen Reichstags ließ ſich
zudem weder eine Abdankung noch eine förmliche Regentſchaft durchſetzen;
und wer ſollte unbotmäßigen Reichsſtänden ſo ſchwierige Fragen vorzulegen
wagen? Eben in dieſen Jahren begann der magyariſche Adel ſeine na-
tionale Bewegung: er wollte ſich ſelber die Herrſchaft über die deutſch-
ſlaviſch-walachiſche Mehrheit der Bevölkerung Ungarns und zugleich der
Stephanskrone die volle Selbſtändigkeit neben der Kaiſerkrone ſichern.
Schon hatte er erreicht, daß die magyariſche Sprache, ſtatt des altge-
wohnten neutralen Lateins, fortan im amtlichen Verkehre allein ange-
wendet werden ſollte; und als der Palatinus Erzherzog Joſeph erkrankte,
da beſchloß die Mehrheit der Abgeordneten zu Preßburg insgeheim, ge-
gebenen Falles ſofort den Führer der ariſtokratiſchen Oppoſition, den
Grafen Szechenyi zum Palatin zu erwählen. *)
In ſolcher Lage ſchien es nicht rathſam, an der unbeſtreitbaren Erb-
folgeordnung irgend zu rütteln. Der bedauernswerthe Thronfolger wurde
von den Ungarn im Voraus als König Ferdinand V. gekrönt **) und beſtieg
vier Jahre darauf den Kaiſerthron. Ein Anblick zum Erbarmen, wenn
††)
*) Maltzan’s Bericht, 8. Febr. 1836.
**) S. o. IV. 48.
††) (Neuchatel 1877) — ein mehr durch groben Parteihaß als durch Zuverläſſigkeit ausge-
zeichnetes Buch — geben über alle dieſe Verhältniſſe ſehr wenig Auskunft.
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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 520. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/534>, abgerufen am 24.11.2024.
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