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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Neuenburger Wirren.
wie Ancillon gerührt erzählte. Friedrich Wilhelm war jedoch nicht gemeint,
auf ihre leidenschaftlichen Vorschläge ohne Weiteres einzugehen; denn un-
möglich konnte dies zwischen Frankreich und der Schweiz eingepreßte Jura-
ländchen sich als europäische Macht behaupten. Die preußische Regierung
verkannte nicht, wie schwierig die Verhältnisse des kleinen Fürstenthums
sich gestalten mußten, wenn der Radicalismus in der Schweiz auch ferner-
hin überhandnahm und vielleicht bald eine festere Form der Bundeseinheit
begründet wurde; aber sie wußte auch, daß Neuenburg durch seine geo-
graphische Lage wie durch eine althistorische Verbindung auf die Schweiz
angewiesen war, und verfiel daher auf den Gedanken, ob sie dem
Ländchen nicht seine frühere Stellung in der Eidgenossenschaft wieder ver-
schaffen solle. Wenn Neuenburg wieder wie vormals ein zugewandter Ort
der Schweiz wurde, ohne Stimmrecht auf der Tagsatzung, nur Geld und
Truppen für die Eidgenossen stellte und dafür von diesen militärisch ge-
schützt wurde, dann konnte die unheilvolle Reibung zwischen Royalisten
und Republikanern wahrscheinlich beendigt werden.

Es war ein staatsmännischer Gedanke, er bot vielleicht das einzige
Mittel, um die unnatürliche Doppelstellung des fürstlichen Cantons noch
für längere Zeit zu sichern; er widersprach jedoch der bestehenden und
von allen Großmächten verbürgten neuen schweizerischen Bundesverfassung.
Darum fragte Ancillon bei den vier Mächten an, ob Preußen auf ihre
Unterstützung rechnen könne, falls die Schweiz sich auf solche Verhand-
lungen einließe.*) Rußland erwiderte sofort: in Allem, was der König über
Neuenburg beschließe, dürfe er sich auf die Zustimmung des Czaren ver-
lassen.**) Metternich hingegen hegte Bedenken; er fand den Augenblick
ungünstig und wollte, getreu seiner kurzsichtigen conservativen Politik, an
den Verträgen von 1815 womöglich gar nichts ändern.***) Unter solchen
Umständen war von den Westmächten auch keine Unterstützung zu erwarten.
Mittlerweile begann der Zank in der Schweiz nachzulassen; der Sarner-
bund unterwarf sich der Tagsatzung, die Radicalen vertagten vorläufig die
Ausführung ihrer Bundesreformpläne. Der Friede schien zurückzukehren;
der König gab den Plan auf und suchte seine Getreuen zu beschwich-
tigen, aber schon nach Jahresfrist verlangte der Staatsrath von Neuen-
burg -- wieder vergeblich -- das Verhältniß zur Schweiz müsse geändert
werden.+) So schleppten sich die Dinge hin. Die radicale Mehrheit
der Tagsatzung konnte sich mit den royalistischen Patriciern Neuenburgs
schlechterdings nicht vertragen; immer wieder mußte der preußische Gesandte
vermitteln und versöhnen.++) --

*) Ancillon, Weisungen an Brockhausen und Schöler, 22. Oct. 1833.
**) Schöler's Bericht, 6. Nov. 1833.
***) Brockhausen's Bericht, 28. Oct. 1833.
+) Ancillon an Brockhausen, 25. Sept. 1834.
++) Die Memoires politiques des Neuenburger "Patrioten" Louis Grandpierre

Neuenburger Wirren.
wie Ancillon gerührt erzählte. Friedrich Wilhelm war jedoch nicht gemeint,
auf ihre leidenſchaftlichen Vorſchläge ohne Weiteres einzugehen; denn un-
möglich konnte dies zwiſchen Frankreich und der Schweiz eingepreßte Jura-
ländchen ſich als europäiſche Macht behaupten. Die preußiſche Regierung
verkannte nicht, wie ſchwierig die Verhältniſſe des kleinen Fürſtenthums
ſich geſtalten mußten, wenn der Radicalismus in der Schweiz auch ferner-
hin überhandnahm und vielleicht bald eine feſtere Form der Bundeseinheit
begründet wurde; aber ſie wußte auch, daß Neuenburg durch ſeine geo-
graphiſche Lage wie durch eine althiſtoriſche Verbindung auf die Schweiz
angewieſen war, und verfiel daher auf den Gedanken, ob ſie dem
Ländchen nicht ſeine frühere Stellung in der Eidgenoſſenſchaft wieder ver-
ſchaffen ſolle. Wenn Neuenburg wieder wie vormals ein zugewandter Ort
der Schweiz wurde, ohne Stimmrecht auf der Tagſatzung, nur Geld und
Truppen für die Eidgenoſſen ſtellte und dafür von dieſen militäriſch ge-
ſchützt wurde, dann konnte die unheilvolle Reibung zwiſchen Royaliſten
und Republikanern wahrſcheinlich beendigt werden.

Es war ein ſtaatsmänniſcher Gedanke, er bot vielleicht das einzige
Mittel, um die unnatürliche Doppelſtellung des fürſtlichen Cantons noch
für längere Zeit zu ſichern; er widerſprach jedoch der beſtehenden und
von allen Großmächten verbürgten neuen ſchweizeriſchen Bundesverfaſſung.
Darum fragte Ancillon bei den vier Mächten an, ob Preußen auf ihre
Unterſtützung rechnen könne, falls die Schweiz ſich auf ſolche Verhand-
lungen einließe.*) Rußland erwiderte ſofort: in Allem, was der König über
Neuenburg beſchließe, dürfe er ſich auf die Zuſtimmung des Czaren ver-
laſſen.**) Metternich hingegen hegte Bedenken; er fand den Augenblick
ungünſtig und wollte, getreu ſeiner kurzſichtigen conſervativen Politik, an
den Verträgen von 1815 womöglich gar nichts ändern.***) Unter ſolchen
Umſtänden war von den Weſtmächten auch keine Unterſtützung zu erwarten.
Mittlerweile begann der Zank in der Schweiz nachzulaſſen; der Sarner-
bund unterwarf ſich der Tagſatzung, die Radicalen vertagten vorläufig die
Ausführung ihrer Bundesreformpläne. Der Friede ſchien zurückzukehren;
der König gab den Plan auf und ſuchte ſeine Getreuen zu beſchwich-
tigen, aber ſchon nach Jahresfriſt verlangte der Staatsrath von Neuen-
burg — wieder vergeblich — das Verhältniß zur Schweiz müſſe geändert
werden.†) So ſchleppten ſich die Dinge hin. Die radicale Mehrheit
der Tagſatzung konnte ſich mit den royaliſtiſchen Patriciern Neuenburgs
ſchlechterdings nicht vertragen; immer wieder mußte der preußiſche Geſandte
vermitteln und verſöhnen.††)

*) Ancillon, Weiſungen an Brockhauſen und Schöler, 22. Oct. 1833.
**) Schöler’s Bericht, 6. Nov. 1833.
***) Brockhauſen’s Bericht, 28. Oct. 1833.
†) Ancillon an Brockhauſen, 25. Sept. 1834.
††) Die Mémoires politiques des Neuenburger „Patrioten“ Louis Grandpierre
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[519/0533] Neuenburger Wirren. wie Ancillon gerührt erzählte. Friedrich Wilhelm war jedoch nicht gemeint, auf ihre leidenſchaftlichen Vorſchläge ohne Weiteres einzugehen; denn un- möglich konnte dies zwiſchen Frankreich und der Schweiz eingepreßte Jura- ländchen ſich als europäiſche Macht behaupten. Die preußiſche Regierung verkannte nicht, wie ſchwierig die Verhältniſſe des kleinen Fürſtenthums ſich geſtalten mußten, wenn der Radicalismus in der Schweiz auch ferner- hin überhandnahm und vielleicht bald eine feſtere Form der Bundeseinheit begründet wurde; aber ſie wußte auch, daß Neuenburg durch ſeine geo- graphiſche Lage wie durch eine althiſtoriſche Verbindung auf die Schweiz angewieſen war, und verfiel daher auf den Gedanken, ob ſie dem Ländchen nicht ſeine frühere Stellung in der Eidgenoſſenſchaft wieder ver- ſchaffen ſolle. Wenn Neuenburg wieder wie vormals ein zugewandter Ort der Schweiz wurde, ohne Stimmrecht auf der Tagſatzung, nur Geld und Truppen für die Eidgenoſſen ſtellte und dafür von dieſen militäriſch ge- ſchützt wurde, dann konnte die unheilvolle Reibung zwiſchen Royaliſten und Republikanern wahrſcheinlich beendigt werden. Es war ein ſtaatsmänniſcher Gedanke, er bot vielleicht das einzige Mittel, um die unnatürliche Doppelſtellung des fürſtlichen Cantons noch für längere Zeit zu ſichern; er widerſprach jedoch der beſtehenden und von allen Großmächten verbürgten neuen ſchweizeriſchen Bundesverfaſſung. Darum fragte Ancillon bei den vier Mächten an, ob Preußen auf ihre Unterſtützung rechnen könne, falls die Schweiz ſich auf ſolche Verhand- lungen einließe. *) Rußland erwiderte ſofort: in Allem, was der König über Neuenburg beſchließe, dürfe er ſich auf die Zuſtimmung des Czaren ver- laſſen. **) Metternich hingegen hegte Bedenken; er fand den Augenblick ungünſtig und wollte, getreu ſeiner kurzſichtigen conſervativen Politik, an den Verträgen von 1815 womöglich gar nichts ändern. ***) Unter ſolchen Umſtänden war von den Weſtmächten auch keine Unterſtützung zu erwarten. Mittlerweile begann der Zank in der Schweiz nachzulaſſen; der Sarner- bund unterwarf ſich der Tagſatzung, die Radicalen vertagten vorläufig die Ausführung ihrer Bundesreformpläne. Der Friede ſchien zurückzukehren; der König gab den Plan auf und ſuchte ſeine Getreuen zu beſchwich- tigen, aber ſchon nach Jahresfriſt verlangte der Staatsrath von Neuen- burg — wieder vergeblich — das Verhältniß zur Schweiz müſſe geändert werden. †) So ſchleppten ſich die Dinge hin. Die radicale Mehrheit der Tagſatzung konnte ſich mit den royaliſtiſchen Patriciern Neuenburgs ſchlechterdings nicht vertragen; immer wieder mußte der preußiſche Geſandte vermitteln und verſöhnen. ††) — *) Ancillon, Weiſungen an Brockhauſen und Schöler, 22. Oct. 1833. **) Schöler’s Bericht, 6. Nov. 1833. ***) Brockhauſen’s Bericht, 28. Oct. 1833. †) Ancillon an Brockhauſen, 25. Sept. 1834. ††) Die Mémoires politiques des Neuenburger „Patrioten“ Louis Grandpierre

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 519. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/533>, abgerufen am 24.11.2024.