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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Preußen und die Orleans.
Angesichts eines solchen Verbrechens! In Schaaren strömten die skan-
dalsüchtigen Großstädter herbei um für zwei Franken Eintrittsgeld eine
häßliche Dirne zu betrachten, die sich als Geliebte des Banditen Fieschi öffent-
lich zur Schau stellte.

Unter so unheimlichen Eindrücken ward Ludwig Philipp von Tag zu
Tag besorgter und hörte bereitwillig auf die Rathschläge Metternich's, der
ihm außer den üblichen salbungsvollen Ermahnungen unterweilen auch
eine treffende Bemerkung sagte. Einmal fragte ihn der Oesterreicher,
ob er denn nicht sehe, daß in Frankreich eine neue Klassenherrschaft ent-
standen sei; wenn die Mittelklasse selbst regiere, dann höre sie eben auf
der Mittelstand zu sein.*) Für Europa wünschte der Bürgerkönig nichts
sehnlicher als die Wiederherstellung des alten Aachener Fünferbündnisses,
das seine Dynastie nach beiden Seiten hin gedeckt hätte, und in diesem
Wunsche begegnete er sich mit der Friedensliebe Friedrich Wilhelm's.**) Aber
wie ließ sich an einen Bund der fünf Mächte denken, so lange der Czar seine
Schmähungen gegen das Julikönigthum, Palmerston seine revolutionären
Brandreden fortsetzte? Rußland und England waren die Friedensstörer. Am
meisten empörte den König von Preußen, daß der Londoner Hof unter der
Hand unternahm, Oesterreich zu den Westmächten hinüberzuziehen; er ver-
langte und erreichte die Abweisung dieser Versuche, "damit den Prahlereien
des englischen Ministeriums ein für allemal ein Ende gemacht werde".***)
England gab er für jetzt preis; mit Frankreich aber wollte er in ehrlicher
Freundschaft leben so lange dort eine geordnete Regierung bestände.

Noch immer standen die Orleans in der großen Familie der euro-
päischen Fürsten wie Geächtete da; nur mit dem Coburger in Brüssel
unterhielten sie geselligen Verkehr. Bei mehreren Höfen hatte Ludwig
Philipp schon vergeblich um eine Gemahlin für seinen Thronfolger ge-
worben; überall waren ihm Rußlands Drohungen in den Weg getreten,
und er klagte nachher: "der Czar hat meine Familie zu einer thatsäch-
lichen Castration verdammen wollen."+) Friedrich Wilhelm sah ein,
daß dieser Zustand nicht dauern durfte; nachdem man die Orleans einmal
anerkannt, mußte man ihnen auch die gesellschaftliche Stellung einräumen,
welche der Krone Frankreichs gebührte. Er erklärte sich also gern bereit, die
jungen französischen Prinzen in seinem Schlosse zu empfangen, und nach-
dem Metternich im Jahre zuvor den unwillkommenen Besuch unter aller-
hand Vorwänden noch glücklich abgewendet hatte, unternahm der Herzog
von Orleans mit seinem Bruder Nemours im Mai 1836 die Reise an
die beiden großen deutschen Höfe. Der Kronprinz von Preußen schrieb
verzweifelnd: "das ist so schwer für mich, daß ich weinen möchte." Sein

*) Maltzan's Bericht, 21. Mai 1837.
**) Maltzan's Bericht, 26. März 1836.
***) Randbemerkung des Königs zu Maltzan's Bericht v. 1. Mai 1836.
+) Maltzan's Berichte, Sept. 1837.
33*

Preußen und die Orleans.
Angeſichts eines ſolchen Verbrechens! In Schaaren ſtrömten die ſkan-
dalſüchtigen Großſtädter herbei um für zwei Franken Eintrittsgeld eine
häßliche Dirne zu betrachten, die ſich als Geliebte des Banditen Fieschi öffent-
lich zur Schau ſtellte.

Unter ſo unheimlichen Eindrücken ward Ludwig Philipp von Tag zu
Tag beſorgter und hörte bereitwillig auf die Rathſchläge Metternich’s, der
ihm außer den üblichen ſalbungsvollen Ermahnungen unterweilen auch
eine treffende Bemerkung ſagte. Einmal fragte ihn der Oeſterreicher,
ob er denn nicht ſehe, daß in Frankreich eine neue Klaſſenherrſchaft ent-
ſtanden ſei; wenn die Mittelklaſſe ſelbſt regiere, dann höre ſie eben auf
der Mittelſtand zu ſein.*) Für Europa wünſchte der Bürgerkönig nichts
ſehnlicher als die Wiederherſtellung des alten Aachener Fünferbündniſſes,
das ſeine Dynaſtie nach beiden Seiten hin gedeckt hätte, und in dieſem
Wunſche begegnete er ſich mit der Friedensliebe Friedrich Wilhelm’s.**) Aber
wie ließ ſich an einen Bund der fünf Mächte denken, ſo lange der Czar ſeine
Schmähungen gegen das Julikönigthum, Palmerſton ſeine revolutionären
Brandreden fortſetzte? Rußland und England waren die Friedensſtörer. Am
meiſten empörte den König von Preußen, daß der Londoner Hof unter der
Hand unternahm, Oeſterreich zu den Weſtmächten hinüberzuziehen; er ver-
langte und erreichte die Abweiſung dieſer Verſuche, „damit den Prahlereien
des engliſchen Miniſteriums ein für allemal ein Ende gemacht werde“.***)
England gab er für jetzt preis; mit Frankreich aber wollte er in ehrlicher
Freundſchaft leben ſo lange dort eine geordnete Regierung beſtände.

Noch immer ſtanden die Orleans in der großen Familie der euro-
päiſchen Fürſten wie Geächtete da; nur mit dem Coburger in Brüſſel
unterhielten ſie geſelligen Verkehr. Bei mehreren Höfen hatte Ludwig
Philipp ſchon vergeblich um eine Gemahlin für ſeinen Thronfolger ge-
worben; überall waren ihm Rußlands Drohungen in den Weg getreten,
und er klagte nachher: „der Czar hat meine Familie zu einer thatſäch-
lichen Caſtration verdammen wollen.“†) Friedrich Wilhelm ſah ein,
daß dieſer Zuſtand nicht dauern durfte; nachdem man die Orleans einmal
anerkannt, mußte man ihnen auch die geſellſchaftliche Stellung einräumen,
welche der Krone Frankreichs gebührte. Er erklärte ſich alſo gern bereit, die
jungen franzöſiſchen Prinzen in ſeinem Schloſſe zu empfangen, und nach-
dem Metternich im Jahre zuvor den unwillkommenen Beſuch unter aller-
hand Vorwänden noch glücklich abgewendet hatte, unternahm der Herzog
von Orleans mit ſeinem Bruder Nemours im Mai 1836 die Reiſe an
die beiden großen deutſchen Höfe. Der Kronprinz von Preußen ſchrieb
verzweifelnd: „das iſt ſo ſchwer für mich, daß ich weinen möchte.“ Sein

*) Maltzan’s Bericht, 21. Mai 1837.
**) Maltzan’s Bericht, 26. März 1836.
***) Randbemerkung des Königs zu Maltzan’s Bericht v. 1. Mai 1836.
†) Maltzan’s Berichte, Sept. 1837.
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[515/0529] Preußen und die Orleans. Angeſichts eines ſolchen Verbrechens! In Schaaren ſtrömten die ſkan- dalſüchtigen Großſtädter herbei um für zwei Franken Eintrittsgeld eine häßliche Dirne zu betrachten, die ſich als Geliebte des Banditen Fieschi öffent- lich zur Schau ſtellte. Unter ſo unheimlichen Eindrücken ward Ludwig Philipp von Tag zu Tag beſorgter und hörte bereitwillig auf die Rathſchläge Metternich’s, der ihm außer den üblichen ſalbungsvollen Ermahnungen unterweilen auch eine treffende Bemerkung ſagte. Einmal fragte ihn der Oeſterreicher, ob er denn nicht ſehe, daß in Frankreich eine neue Klaſſenherrſchaft ent- ſtanden ſei; wenn die Mittelklaſſe ſelbſt regiere, dann höre ſie eben auf der Mittelſtand zu ſein. *) Für Europa wünſchte der Bürgerkönig nichts ſehnlicher als die Wiederherſtellung des alten Aachener Fünferbündniſſes, das ſeine Dynaſtie nach beiden Seiten hin gedeckt hätte, und in dieſem Wunſche begegnete er ſich mit der Friedensliebe Friedrich Wilhelm’s. **) Aber wie ließ ſich an einen Bund der fünf Mächte denken, ſo lange der Czar ſeine Schmähungen gegen das Julikönigthum, Palmerſton ſeine revolutionären Brandreden fortſetzte? Rußland und England waren die Friedensſtörer. Am meiſten empörte den König von Preußen, daß der Londoner Hof unter der Hand unternahm, Oeſterreich zu den Weſtmächten hinüberzuziehen; er ver- langte und erreichte die Abweiſung dieſer Verſuche, „damit den Prahlereien des engliſchen Miniſteriums ein für allemal ein Ende gemacht werde“. ***) England gab er für jetzt preis; mit Frankreich aber wollte er in ehrlicher Freundſchaft leben ſo lange dort eine geordnete Regierung beſtände. Noch immer ſtanden die Orleans in der großen Familie der euro- päiſchen Fürſten wie Geächtete da; nur mit dem Coburger in Brüſſel unterhielten ſie geſelligen Verkehr. Bei mehreren Höfen hatte Ludwig Philipp ſchon vergeblich um eine Gemahlin für ſeinen Thronfolger ge- worben; überall waren ihm Rußlands Drohungen in den Weg getreten, und er klagte nachher: „der Czar hat meine Familie zu einer thatſäch- lichen Caſtration verdammen wollen.“ †) Friedrich Wilhelm ſah ein, daß dieſer Zuſtand nicht dauern durfte; nachdem man die Orleans einmal anerkannt, mußte man ihnen auch die geſellſchaftliche Stellung einräumen, welche der Krone Frankreichs gebührte. Er erklärte ſich alſo gern bereit, die jungen franzöſiſchen Prinzen in ſeinem Schloſſe zu empfangen, und nach- dem Metternich im Jahre zuvor den unwillkommenen Beſuch unter aller- hand Vorwänden noch glücklich abgewendet hatte, unternahm der Herzog von Orleans mit ſeinem Bruder Nemours im Mai 1836 die Reiſe an die beiden großen deutſchen Höfe. Der Kronprinz von Preußen ſchrieb verzweifelnd: „das iſt ſo ſchwer für mich, daß ich weinen möchte.“ Sein *) Maltzan’s Bericht, 21. Mai 1837. **) Maltzan’s Bericht, 26. März 1836. ***) Randbemerkung des Königs zu Maltzan’s Bericht v. 1. Mai 1836. †) Maltzan’s Berichte, Sept. 1837. 33*

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 515. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/529>, abgerufen am 24.11.2024.