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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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IV. 8. Stille Jahre.
Einmarsch von den russischen umarmt und nach der widerlichen slavischen
Sitte abgeküßt wurden: hier junge Männer aus allen Ständen der Nation,
dort alte Soldaten, meist ausgehoben aus jenen zweifelhaften Schichten
der Gesellschaft, welche von den Behörden für "entbehrlich" erklärt wurden,
und dazu die Verschiedenheit der Sprache, der Lebensgewohnheiten, der
Ehrbegriffe. Als die Preußen von Kalisch über die nahe Grenze zurück-
kehrten, hatten sie das volle Gefühl der Ueberlegenheit; die Offiziere ver-
bargen ihren Widerwillen kaum, und manche fragten bitter: warum man sie
gerade hier habe Gastrollen geben lassen, in dieser vormals preußischen Stadt,
wo noch am Kadettenhause und anderen öffentlichen Gebäuden die leicht
übertünchten Namenszüge zweier preußischen Könige zu lesen standen? --

Die politische Haltung der beiden Mächte wurde durch dies Ver-
brüderungsfest nicht verändert. Während Nikolaus den Bürgerkönig nach
wie vor mit ausgesuchter Ungezogenheit behandelte, befestigte sich Friedrich
Wilhelm mehr und mehr in der Ueberzeugung, daß man mit den neuen
französischen Zuständen nüchtern rechnen müsse. Seit den Münchengrätzer
Verhandlungen bezweifelten die kleinen deutschen Höfe nicht mehr, daß
Preußen fest entschlossen war, nur einen deutschen Krieg, niemals einen
legitimistischen Principienkrieg zu führen.*) Wahre Achtung konnte der
Thronräuber zu Berlin freilich nicht finden, in den vertraulichen Schreiben
der preußischen Diplomaten wurde er immer nur Ludwig Philipp, fast nie-
mals König genannt. Aber er war am Ruder; so lange er herrschte,
schienen Ordnung und Frieden gesichert. Platen sprach nur die allge-
meine Meinung der gemäßigten Parteien aus, da er sang:

Viel hangt an ihm. Nie war so heilig
Irgend ein fürstliches Haupt als seins ist.

Die conservative Gesinnung des Bürgerkönigs ließ wenig zu wünschen
übrig. Man wußte in Berlin und Wien sehr genau, wie absichtlich er
die ewigen Ministerwechsel des Parlamentarismus beförderte um also alle
Staatsmänner zu vernutzen und den Franzosen seine eigene Unentbehr-
lichkeit zu erweisen.**) Seit Fieschi seine Höllenmaschine gegen Ludwig
Philipp gerichtet hatte, bekannte sich der König offen zu der "Politik des
Widerstandes" und ließ durch die Septembergesetze "die Partei der Be-
wegung" streng darnieder halten. So scharf war seit Napoleon keine
französische Regierung gegen die Unruhestifter eingeschritten; denn jene
Blutthat erschien nicht nur schreckhaft durch ihre damals beispiellose, heute
freilich längst überbotene Roheit; sie bewies auch, daß die Radicalen
nicht den Monarchen persönlich, sondern das Königthum selbst auf Tod
und Leben bekämpften. Und wie haltlos, wie blasirt, wie unfähig zum
Widerstande gegen neue Revolutionen zeigte sich die Pariser Gesellschaft

*) Frankenberg's Bericht, 10. Oct. 1833.
**) Graf Maltzan's Bericht, 21. März 1837.

IV. 8. Stille Jahre.
Einmarſch von den ruſſiſchen umarmt und nach der widerlichen ſlaviſchen
Sitte abgeküßt wurden: hier junge Männer aus allen Ständen der Nation,
dort alte Soldaten, meiſt ausgehoben aus jenen zweifelhaften Schichten
der Geſellſchaft, welche von den Behörden für „entbehrlich“ erklärt wurden,
und dazu die Verſchiedenheit der Sprache, der Lebensgewohnheiten, der
Ehrbegriffe. Als die Preußen von Kaliſch über die nahe Grenze zurück-
kehrten, hatten ſie das volle Gefühl der Ueberlegenheit; die Offiziere ver-
bargen ihren Widerwillen kaum, und manche fragten bitter: warum man ſie
gerade hier habe Gaſtrollen geben laſſen, in dieſer vormals preußiſchen Stadt,
wo noch am Kadettenhauſe und anderen öffentlichen Gebäuden die leicht
übertünchten Namenszüge zweier preußiſchen Könige zu leſen ſtanden? —

Die politiſche Haltung der beiden Mächte wurde durch dies Ver-
brüderungsfeſt nicht verändert. Während Nikolaus den Bürgerkönig nach
wie vor mit ausgeſuchter Ungezogenheit behandelte, befeſtigte ſich Friedrich
Wilhelm mehr und mehr in der Ueberzeugung, daß man mit den neuen
franzöſiſchen Zuſtänden nüchtern rechnen müſſe. Seit den Münchengrätzer
Verhandlungen bezweifelten die kleinen deutſchen Höfe nicht mehr, daß
Preußen feſt entſchloſſen war, nur einen deutſchen Krieg, niemals einen
legitimiſtiſchen Principienkrieg zu führen.*) Wahre Achtung konnte der
Thronräuber zu Berlin freilich nicht finden, in den vertraulichen Schreiben
der preußiſchen Diplomaten wurde er immer nur Ludwig Philipp, faſt nie-
mals König genannt. Aber er war am Ruder; ſo lange er herrſchte,
ſchienen Ordnung und Frieden geſichert. Platen ſprach nur die allge-
meine Meinung der gemäßigten Parteien aus, da er ſang:

Viel hangt an ihm. Nie war ſo heilig
Irgend ein fürſtliches Haupt als ſeins iſt.

Die conſervative Geſinnung des Bürgerkönigs ließ wenig zu wünſchen
übrig. Man wußte in Berlin und Wien ſehr genau, wie abſichtlich er
die ewigen Miniſterwechſel des Parlamentarismus beförderte um alſo alle
Staatsmänner zu vernutzen und den Franzoſen ſeine eigene Unentbehr-
lichkeit zu erweiſen.**) Seit Fieschi ſeine Höllenmaſchine gegen Ludwig
Philipp gerichtet hatte, bekannte ſich der König offen zu der „Politik des
Widerſtandes“ und ließ durch die Septembergeſetze „die Partei der Be-
wegung“ ſtreng darnieder halten. So ſcharf war ſeit Napoleon keine
franzöſiſche Regierung gegen die Unruheſtifter eingeſchritten; denn jene
Blutthat erſchien nicht nur ſchreckhaft durch ihre damals beiſpielloſe, heute
freilich längſt überbotene Roheit; ſie bewies auch, daß die Radicalen
nicht den Monarchen perſönlich, ſondern das Königthum ſelbſt auf Tod
und Leben bekämpften. Und wie haltlos, wie blaſirt, wie unfähig zum
Widerſtande gegen neue Revolutionen zeigte ſich die Pariſer Geſellſchaft

*) Frankenberg’s Bericht, 10. Oct. 1833.
**) Graf Maltzan’s Bericht, 21. März 1837.
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[514/0528] IV. 8. Stille Jahre. Einmarſch von den ruſſiſchen umarmt und nach der widerlichen ſlaviſchen Sitte abgeküßt wurden: hier junge Männer aus allen Ständen der Nation, dort alte Soldaten, meiſt ausgehoben aus jenen zweifelhaften Schichten der Geſellſchaft, welche von den Behörden für „entbehrlich“ erklärt wurden, und dazu die Verſchiedenheit der Sprache, der Lebensgewohnheiten, der Ehrbegriffe. Als die Preußen von Kaliſch über die nahe Grenze zurück- kehrten, hatten ſie das volle Gefühl der Ueberlegenheit; die Offiziere ver- bargen ihren Widerwillen kaum, und manche fragten bitter: warum man ſie gerade hier habe Gaſtrollen geben laſſen, in dieſer vormals preußiſchen Stadt, wo noch am Kadettenhauſe und anderen öffentlichen Gebäuden die leicht übertünchten Namenszüge zweier preußiſchen Könige zu leſen ſtanden? — Die politiſche Haltung der beiden Mächte wurde durch dies Ver- brüderungsfeſt nicht verändert. Während Nikolaus den Bürgerkönig nach wie vor mit ausgeſuchter Ungezogenheit behandelte, befeſtigte ſich Friedrich Wilhelm mehr und mehr in der Ueberzeugung, daß man mit den neuen franzöſiſchen Zuſtänden nüchtern rechnen müſſe. Seit den Münchengrätzer Verhandlungen bezweifelten die kleinen deutſchen Höfe nicht mehr, daß Preußen feſt entſchloſſen war, nur einen deutſchen Krieg, niemals einen legitimiſtiſchen Principienkrieg zu führen. *) Wahre Achtung konnte der Thronräuber zu Berlin freilich nicht finden, in den vertraulichen Schreiben der preußiſchen Diplomaten wurde er immer nur Ludwig Philipp, faſt nie- mals König genannt. Aber er war am Ruder; ſo lange er herrſchte, ſchienen Ordnung und Frieden geſichert. Platen ſprach nur die allge- meine Meinung der gemäßigten Parteien aus, da er ſang: Viel hangt an ihm. Nie war ſo heilig Irgend ein fürſtliches Haupt als ſeins iſt. Die conſervative Geſinnung des Bürgerkönigs ließ wenig zu wünſchen übrig. Man wußte in Berlin und Wien ſehr genau, wie abſichtlich er die ewigen Miniſterwechſel des Parlamentarismus beförderte um alſo alle Staatsmänner zu vernutzen und den Franzoſen ſeine eigene Unentbehr- lichkeit zu erweiſen. **) Seit Fieschi ſeine Höllenmaſchine gegen Ludwig Philipp gerichtet hatte, bekannte ſich der König offen zu der „Politik des Widerſtandes“ und ließ durch die Septembergeſetze „die Partei der Be- wegung“ ſtreng darnieder halten. So ſcharf war ſeit Napoleon keine franzöſiſche Regierung gegen die Unruheſtifter eingeſchritten; denn jene Blutthat erſchien nicht nur ſchreckhaft durch ihre damals beiſpielloſe, heute freilich längſt überbotene Roheit; ſie bewies auch, daß die Radicalen nicht den Monarchen perſönlich, ſondern das Königthum ſelbſt auf Tod und Leben bekämpften. Und wie haltlos, wie blaſirt, wie unfähig zum Widerſtande gegen neue Revolutionen zeigte ſich die Pariſer Geſellſchaft *) Frankenberg’s Bericht, 10. Oct. 1833. **) Graf Maltzan’s Bericht, 21. März 1837.

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 514. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/528>, abgerufen am 24.11.2024.