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Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889.

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Wichern und das Rauhe Haus.
für verwahrloste Kinder (1833); aus diesem unscheinbaren Keime entstand
dann, wunderbar schnell aufblühend, ein freier protestantischer Orden, der
für Erziehung und Armenpflege, für Gefängnisse und Hospitäler Großes
leistete. Wichern wollte keiner theologischen Partei angehören; er bewahrte
seinem Lehrer Schleiermacher allezeit treue Verehrung und verwarf jede
Verfolgung der Rationalisten. Er war aufgewachsen in der naiven, volks-
thümlichen Frömmigkeit des hamburgischen Kleinbürgerthums, er hatte als-
dann in der Musikerin Luise Reichardt und in der unermüdlich wohlthätigen
Amalie Sieveking zwei Frauen von apostolischer Sinneseinfalt kennen ge-
lernt. Ein durchaus praktischer Geist, dachte er der Welt zu beweisen, daß die
lutherische Kirche, die bisher in allem Handeln hinter der Werkheiligkeit der
römischen und der Thatkraft der calvinischen Kirche weit zurückgeblieben
war, auch für die Armen im Geist zu sorgen vermöge; und es gelang ihm.

Alles wirksame Leben der Kirche ging fortan auf in der Thätigkeit
der strengen Schriftgläubigen. Sie allein predigten vor gefüllten Gottes-
häusern, während den Reden der speculativen Theologen Niemand zuhören
wollte; sie allein labten die Verschmachtenden und trösteten die Elenden,
während mehrere der Genossen der Tübinger Schule, nach Straußens
Vorgang, bald die Theologie aufgaben, weil ihnen an der Kirche wenig
lag. Und so gewiß die Religion nicht in der Gelehrsamkeit wurzelt, son-
dern in der Empfindung, in der lebendigen Kraft der Liebe, ebenso gewiß
war diese wissenschaftlich sehr mangelhafte Rechtgläubigkeit als kirchliche
Macht den gelehrten theologischen Kritikern weit überlegen.

Die Kluft zwischen beiden Parteien erweiterte sich von Jahr zu Jahr,
Achtung und Schonung gingen hüben und drüben bald verloren. Viele
Orthodoxe verleugneten das evangelische Recht der freien Forschung so
gänzlich, daß sie jede voraussetzungslose historische Kritik in der Theologie
kurzab für heidnisch hielten. Und andererseits, welch ein Zerrbild des
schwäbischen Pietismus entwarf doch der Tübinger Aesthetiker Vischer in
seinen geistreichen Aufsätzen über Strauß und die Württemberger; in diesem
Bilde war kaum noch ein menschlicher Zug. Die liberalen Zeitungen ge-
brauchten den Namen der "Frommen" nur noch ironisch, als ob Fröm-
migkeit eine Schande wäre; sie verlästerten das Rauhe Haus und alle die
anderen fröhlich aufblühenden Werke der christlichen Liebe als Anstalten
von Heuchlern für Heuchler. Der Kampf zwischen den Wissenden und
den Glaubenden war an Mißverständnissen und Verdrehungen ebenso
reich wie der gleich unfruchtbare Streit zwischen dem Vernunftrecht und
dem historischen Recht; er lähmte den deutschen Protestantismus eben in
dem Augenblicke, da das Papstthum wieder zum Angriff vorschritt; er ver-
schärfte auch die politischen Gegensätze also, daß schon nach wenigen Jahren
die Aussicht auf Versöhnung schwand, und ein gewaltsamer Umschwung
unvermeidlich wurde. --



Treitschke, Deutsche Geschichte. IV. 32

Wichern und das Rauhe Haus.
für verwahrloſte Kinder (1833); aus dieſem unſcheinbaren Keime entſtand
dann, wunderbar ſchnell aufblühend, ein freier proteſtantiſcher Orden, der
für Erziehung und Armenpflege, für Gefängniſſe und Hoſpitäler Großes
leiſtete. Wichern wollte keiner theologiſchen Partei angehören; er bewahrte
ſeinem Lehrer Schleiermacher allezeit treue Verehrung und verwarf jede
Verfolgung der Rationaliſten. Er war aufgewachſen in der naiven, volks-
thümlichen Frömmigkeit des hamburgiſchen Kleinbürgerthums, er hatte als-
dann in der Muſikerin Luiſe Reichardt und in der unermüdlich wohlthätigen
Amalie Sieveking zwei Frauen von apoſtoliſcher Sinneseinfalt kennen ge-
lernt. Ein durchaus praktiſcher Geiſt, dachte er der Welt zu beweiſen, daß die
lutheriſche Kirche, die bisher in allem Handeln hinter der Werkheiligkeit der
römiſchen und der Thatkraft der calviniſchen Kirche weit zurückgeblieben
war, auch für die Armen im Geiſt zu ſorgen vermöge; und es gelang ihm.

Alles wirkſame Leben der Kirche ging fortan auf in der Thätigkeit
der ſtrengen Schriftgläubigen. Sie allein predigten vor gefüllten Gottes-
häuſern, während den Reden der ſpeculativen Theologen Niemand zuhören
wollte; ſie allein labten die Verſchmachtenden und tröſteten die Elenden,
während mehrere der Genoſſen der Tübinger Schule, nach Straußens
Vorgang, bald die Theologie aufgaben, weil ihnen an der Kirche wenig
lag. Und ſo gewiß die Religion nicht in der Gelehrſamkeit wurzelt, ſon-
dern in der Empfindung, in der lebendigen Kraft der Liebe, ebenſo gewiß
war dieſe wiſſenſchaftlich ſehr mangelhafte Rechtgläubigkeit als kirchliche
Macht den gelehrten theologiſchen Kritikern weit überlegen.

Die Kluft zwiſchen beiden Parteien erweiterte ſich von Jahr zu Jahr,
Achtung und Schonung gingen hüben und drüben bald verloren. Viele
Orthodoxe verleugneten das evangeliſche Recht der freien Forſchung ſo
gänzlich, daß ſie jede vorausſetzungsloſe hiſtoriſche Kritik in der Theologie
kurzab für heidniſch hielten. Und andererſeits, welch ein Zerrbild des
ſchwäbiſchen Pietismus entwarf doch der Tübinger Aeſthetiker Viſcher in
ſeinen geiſtreichen Aufſätzen über Strauß und die Württemberger; in dieſem
Bilde war kaum noch ein menſchlicher Zug. Die liberalen Zeitungen ge-
brauchten den Namen der „Frommen“ nur noch ironiſch, als ob Fröm-
migkeit eine Schande wäre; ſie verläſterten das Rauhe Haus und alle die
anderen fröhlich aufblühenden Werke der chriſtlichen Liebe als Anſtalten
von Heuchlern für Heuchler. Der Kampf zwiſchen den Wiſſenden und
den Glaubenden war an Mißverſtändniſſen und Verdrehungen ebenſo
reich wie der gleich unfruchtbare Streit zwiſchen dem Vernunftrecht und
dem hiſtoriſchen Recht; er lähmte den deutſchen Proteſtantismus eben in
dem Augenblicke, da das Papſtthum wieder zum Angriff vorſchritt; er ver-
ſchärfte auch die politiſchen Gegenſätze alſo, daß ſchon nach wenigen Jahren
die Ausſicht auf Verſöhnung ſchwand, und ein gewaltſamer Umſchwung
unvermeidlich wurde. —



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[497/0511] Wichern und das Rauhe Haus. für verwahrloſte Kinder (1833); aus dieſem unſcheinbaren Keime entſtand dann, wunderbar ſchnell aufblühend, ein freier proteſtantiſcher Orden, der für Erziehung und Armenpflege, für Gefängniſſe und Hoſpitäler Großes leiſtete. Wichern wollte keiner theologiſchen Partei angehören; er bewahrte ſeinem Lehrer Schleiermacher allezeit treue Verehrung und verwarf jede Verfolgung der Rationaliſten. Er war aufgewachſen in der naiven, volks- thümlichen Frömmigkeit des hamburgiſchen Kleinbürgerthums, er hatte als- dann in der Muſikerin Luiſe Reichardt und in der unermüdlich wohlthätigen Amalie Sieveking zwei Frauen von apoſtoliſcher Sinneseinfalt kennen ge- lernt. Ein durchaus praktiſcher Geiſt, dachte er der Welt zu beweiſen, daß die lutheriſche Kirche, die bisher in allem Handeln hinter der Werkheiligkeit der römiſchen und der Thatkraft der calviniſchen Kirche weit zurückgeblieben war, auch für die Armen im Geiſt zu ſorgen vermöge; und es gelang ihm. Alles wirkſame Leben der Kirche ging fortan auf in der Thätigkeit der ſtrengen Schriftgläubigen. Sie allein predigten vor gefüllten Gottes- häuſern, während den Reden der ſpeculativen Theologen Niemand zuhören wollte; ſie allein labten die Verſchmachtenden und tröſteten die Elenden, während mehrere der Genoſſen der Tübinger Schule, nach Straußens Vorgang, bald die Theologie aufgaben, weil ihnen an der Kirche wenig lag. Und ſo gewiß die Religion nicht in der Gelehrſamkeit wurzelt, ſon- dern in der Empfindung, in der lebendigen Kraft der Liebe, ebenſo gewiß war dieſe wiſſenſchaftlich ſehr mangelhafte Rechtgläubigkeit als kirchliche Macht den gelehrten theologiſchen Kritikern weit überlegen. Die Kluft zwiſchen beiden Parteien erweiterte ſich von Jahr zu Jahr, Achtung und Schonung gingen hüben und drüben bald verloren. Viele Orthodoxe verleugneten das evangeliſche Recht der freien Forſchung ſo gänzlich, daß ſie jede vorausſetzungsloſe hiſtoriſche Kritik in der Theologie kurzab für heidniſch hielten. Und andererſeits, welch ein Zerrbild des ſchwäbiſchen Pietismus entwarf doch der Tübinger Aeſthetiker Viſcher in ſeinen geiſtreichen Aufſätzen über Strauß und die Württemberger; in dieſem Bilde war kaum noch ein menſchlicher Zug. Die liberalen Zeitungen ge- brauchten den Namen der „Frommen“ nur noch ironiſch, als ob Fröm- migkeit eine Schande wäre; ſie verläſterten das Rauhe Haus und alle die anderen fröhlich aufblühenden Werke der chriſtlichen Liebe als Anſtalten von Heuchlern für Heuchler. Der Kampf zwiſchen den Wiſſenden und den Glaubenden war an Mißverſtändniſſen und Verdrehungen ebenſo reich wie der gleich unfruchtbare Streit zwiſchen dem Vernunftrecht und dem hiſtoriſchen Recht; er lähmte den deutſchen Proteſtantismus eben in dem Augenblicke, da das Papſtthum wieder zum Angriff vorſchritt; er ver- ſchärfte auch die politiſchen Gegenſätze alſo, daß ſchon nach wenigen Jahren die Ausſicht auf Verſöhnung ſchwand, und ein gewaltſamer Umſchwung unvermeidlich wurde. — Treitſchke, Deutſche Geſchichte. IV. 32

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Zitationshilfe: Treitschke, Heinrich von: Deutsche Geschichte im neunzehnten Jahrhundert. Bd. 4: Bis zum Tode König Friedrich Wilhelms III. Leipzig, 1889, S. 497. In: Deutsches Textarchiv <https://www.deutschestextarchiv.de/treitschke_geschichte04_1889/511>, abgerufen am 24.11.2024.